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Versorgungsmedizinische Grundsätze

GdB-Tabelle nach der Versorgungsmedizin-Verordnung (VersMedV)
Schwerbehinderung und Schwerbehindertenausweis



Landessozialgericht Baden-Württemberg 8. Senat
13.09.2024
L 8 SB 337/24
Juris


Grundsätze und Voraussetzungen für die Zuerkennung von Merkzeichen H.


Gemäß § 33b Abs. 3 Satz 4 Einkommensteuergesetz (EStG) ist eine Person hilflos, wenn sie für eine Reihe von häufig und regelmäßig wiederkehrenden Verrichtungen zur Sicherung ihrer persönlichen Existenz im Ablauf eines jeden Tages fremder Hilfe dauernd bedarf. Diese Voraussetzungen sind nach § 33b Abs. 3 Satz 5 EStG auch erfüllt, wenn die Hilfe in Form einer Überwachung oder einer Anleitung zu den in Satz 4 dieser Vorschrift genannten Verrichtungen erforderlich ist oder wenn die Hilfe zwar nicht dauernd geleistet werden muss, jedoch eine ständige Bereitschaft zur Hilfeleistung erforderlich ist. Die so umschriebene Hilflosigkeit geht auf die Kriterien zurück, die von der Rechtsprechung im Schwerbehindertenrecht bezüglich der steuerlichen Vergünstigung und im Versorgungsrecht hinsichtlich der gleichlautenden Voraussetzungen für die Pflegezulage nach § 35 Bundesversorgungsgesetz entwickelt worden sind. Dabei hat sich der Gesetzgeber bewusst nicht an den Begriff der Pflegebedürftigkeit im Sinne der §§ 14, 15 SGB XI angelehnt, sodass kein vollständiger Gleichklang mit dem Recht der sozialen Pflegeversicherung besteht (vgl. zum Ganzen: BSG, Urteil vom 24.11.2005 – B 9a SB 1/05 R – juris Rn. 13 m.w.N.).

Bei den nach § 33b EStG zu berücksichtigenden Verrichtungen handelt es sich um solche, die im Ablauf eines jeden Tages unmittelbar zur Wartung, Pflege und Befriedigung wesentlicher Bedürfnisse des Betroffenen gehören sowie häufig und regelmäßig wiederkehren (BSG, Urteil vom 24.11.2005, a.a.O., juris Rn. 14). Dazu zählen zunächst die Bereiche der Grundpflege, also der Körperpflege (Waschen, Duschen, Baden, Zahnpflege, Kämmen, Rasieren, Darm- und Blasenentleerung), der Ernährung (mundgerechtes Zubereiten und Aufnahme der Nahrung) und der Mobilität (Aufstehen, Zu-Bett-Gehen, An- und Auskleiden, Gehen, Stehen, Treppensteigen, Verlassen und Wiederaufsuchen der Wohnung). Hinzu kommen Verrichtungen in den Bereichen der psychischen Erholung, geistigen Anregungen und der Kommunikation (hier insbesondere Sehen, Hören, Sprechen und Fähigkeit zu Interaktionen), während Verrichtungen im Bereich der hauswirtschaftlichen Versorgung nicht eingeschlossen sind (ständige Rechtsprechung des BSG, u.a. Urteil vom 24.11.2005, a.a.O., juris Rn. 15, m.w.N.).

Die in § 33b EStG vorausgesetzte Reihe von Verrichtungen kann regelmäßig erst dann angenommen werden, wenn es sich um mindestens drei Verrichtungen handelt, die einen Hilfebedarf in erheblichem Umfang erfordern (BSG, Urteil vom 24.11.2005, a.a.O., juris Rn. 16; bestätigt durch BSG, Beschluss vom 27.12.2018 – B 9 SB 5/18 BH – juris). Die Beurteilung der Erheblichkeit orientiert sich an dem Verhältnis der dem Betroffenen nur noch mit fremder Hilfe möglichen Verrichtungen zu denen, die er auch ohne fremde Hilfe bewältigen kann. In der Regel wird dabei auf die Zahl der Verrichtungen, den wirtschaftlichen Wert der Hilfe und den zeitlichen Aufwand abzustellen sein (BSG, Urteil vom 24.11.2005, a.a.O., juris Rn. 16). Bei der Anrechnung von Bereitschaftszeiten können dabei grundsätzlich nur solche Zeiten erfasst werden, die zeitlich und örtlich denselben Einsatz erfordern wie die körperliche Hilfe. Dies setzt voraus, dass eine entsprechende einsatzbereite Anwesenheit und Aufmerksamkeit aus gesundheitlichen Gründen notwendig ist (BSG, Urteil vom 12.02.2003 – B 9 SB 1/02 R –, juris Rn. 20).

In welchen Fällen regelmäßig von einem erheblichen Hilfebedarf bei einer Erkrankung eines Kindes bzw. Jugendlichen ausgegangen werden kann, wird wiederum in der VersMedV festgelegt. Nach Teil A Nr. 5 VG gelten insofern bei Kindern und Jugendlichen für die Beurteilung der Hilflosigkeit einige Besonderheiten.

Danach sind bei der Beurteilung der Hilflosigkeit bei Kindern und Jugendlichen nicht nur die bei der Hilflosigkeit genannten "Verrichtungen" zu beachten; auch die Anleitung zu diesen "Verrichtungen", die Förderung der körperlichen und geistigen Entwicklung (z.B. durch Anleitung im Gebrauch der Gliedmaßen oder durch Hilfen zum Erfassen der Umwelt und zum Erlernen der Sprache) sowie die notwendige Überwachung gehören zu den Hilfeleistungen, die für die Frage der Hilflosigkeit von Bedeutung sind (Teil A Nr. 5 lit. a VG). Stets ist nur der Teil der Hilfsbedürftigkeit zu berücksichtigen, der wegen der Behinderung den Umfang der Hilfsbedürftigkeit eines gesunden gleichaltrigen Kindes überschreitet; der Umfang der wegen der Behinderungen notwendigen zusätzlichen Hilfeleistungen muss erheblich sein (Teil A Nr. 5 lit. b VG). Die Besonderheiten des Kindesalters führen dazu, dass zwischen dem Ausmaß der Behinderung und dem Umfang der wegen der Behinderung erforderlichen Hilfeleistungen nicht immer eine Korrelation besteht, sodass – anders als bei Erwachsenen – auch schon bei niedrigerem GdB Hilflosigkeit vorliegen kann (Teil A Nr. 5 lit. c VG).

Tatbestand

Zwischen den Beteiligten sind die Höhe des bei der Klägerin festzustellenden Grades der Behinderung (GdB) sowie die Voraussetzungen des schwerbehinderungsrechtlichen Nachteilsausgleichs Merkzeichen H streitig.

Bei der 2018 geborenen Klägerin wurde bereits in einem Befundbericht vom 21.11.2018 seitens der Arbeitsgruppenleiterin H1 von der Ambulanz und Arbeitsgruppe Pneumologie, Allergologie und Mukoviszidose des Zentrums für Kinder- und Jugendmedizin des Universitätsklinikums F1 aufgrund auffälliger Schweißtests ein dringender Verdacht auf Mukoviszidose geäußert. In einem Folgebericht vom 04.02.2019 wurde aufgrund eines neuerlichen Schweißtests bei noch ausstehender Genetik die Diagnose bestätigt; Wachstum und Gedeihen wurden als sehr gut ohne Hinweis auf eine Pankreasinsuffizienz beschrieben, als Therapie wurde – weiterhin – eine Inhalation mit Mucoclear zweimal täglich unter Steigerung der Dosierung im Verlauf empfohlen. Genetisch wurde in einem Bericht vom 28.05.2019 das Vorliegen einer Mukoviszidose bestätigt.

In einer weiteren Verlaufsuntersuchung vom 31.10.2019 wurde neben der Mukoviszidose eine schwere exokrine Pankreasinsuffizienz diagnostiziert. Bei den durchgeführten Untersuchungen wurden weitgehend Normalbefunde beschrieben, bei insgesamt zögerlicher Gewichtszunahme wurde jedoch nochmals eine Ernährungsberatung durchgeführt. Als weitere Therapie wurden neben der fortgesetzten 2-mal täglichen Inhalation noch Kreon 1.500 IE zu den Mahlzeiten nach Fettgehalt, ADEK flüssig 1 ml täglich, Physiotherapie 1-mal wöchentlich und ab November 2019 Kalydeco Granulat in gewichtsabhängiger Dosierung angegeben. Am 23.01.2020 wurde unter Kalydeco eine deutliche Besserung des Stuhls und eine Kreon-Gabe nur noch zusammen mit Kalydeco angegeben. Die Klägerin habe gut an Gewicht aufgeholt, hinke aber bei der Längenentwicklung noch ein wenig hinterher.

Am 29.04.2020 stellte die Mutter der Klägerin für diese beim Landratsamt O1 einen Erstantrag auf schwerbehinderungsrechtliche Feststellungen ab Antragstellung. Als maßgebliche Gesundheitsstörungen wurden die Mukoviszidose und die schwere exokrine Pankreasinsuffizienz angegeben. Das Landratsamt holte eine Auskunft des D1 vom 07.05.2020 ein, welcher unter Vorlage von Befundberichten der CF-Ambulanz des Universitätsklinikums F1 auf das Bestehen einer Mukoviszidose und einer ausgeprägten exokrinen Pankreasinsuffizienz hinwies. Der Familienalltag drehe sich um die Mukoviszidoseerkrankungen der Klägerin und ihrer Schwester. Erforderlich seien umfangreiche tägliche Maßnahmen betreffend etwa Ernährung, Kleidung, Hygiene, Medikamentengaben (Therapie mit Kreon, daneben Spezialnahrung) und Inhalationen. Durch die Corona-Epidemie habe sich die Situation bei weggebrochenen sozialen Unterstützungssystemen gravierend verschärft. Vorgelegt wurde von Klägerseite zudem ein Gutachten des MDK nach Aktenlage zur Feststellung der Pflegebedürftigkeit gemäß SGB XI vom 12.05.2020, in welchem ein Pflegegrad 2 seit 10.10.2019 vorgeschlagen wurde.

In einer gutachterlichen versorgungsärztlichen Stellungnahme des K1 vom 18.06.2020 wurde bei guter Entwicklung ohne häufige Infekte die Feststellung eines (Gesamt-) GdB von 30 ohne Merkzeichen für die Mukoviszidose der Klägerin vorgeschlagen.

Mit Bescheid vom 19.06.2020 stellte das Landratsamt O1 bei der Klägerin entsprechend der versorgungsärztlichen Einschätzung des K1 einen GdB von 30 seit 29.04.2020 fest und lehnte eine Feststellung von Merkzeichen ab.

Hiergegen erhob die Mutter der Klägerin als deren Vertreterin am 29.06.2020 Widerspruch. Bis zur Einnahme von Kalydeco sei die Klägerin im Wachstum wesentlich hinterhergehinkt. Trotz eines Aufholens dank des Medikaments und hochkalorischer Kost müsse sie weiterhin das Enzym Kreon mit der Nahrung einnehmen, welches zur Vermeidung von Nebenwirkungen wie Bauchschmerzen, dünnflüssigem Stuhlgang und ungenügender Nährstoffaufnahme genau berechnet werden müsse. Durch Kalydeco habe die Dosierung von Kreon von vormals 5.000 i.E. auf 1.500-2.000 i.E pro Gramm Fett im Essen reduziert werden können. Bei Kindern mit Mukoviszidose sei bei der Notwendigkeit umfangreicher Betreuungsmaßnahmen – wozu in Anlehnung an die früheren Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit (AHP) beispielhaft die ständige Überwachung hinsichtlich Bronchialdrainagen und Inhalationen, die Anleitung zur und Überwachung der Nahrungsaufnahme sowie die psychische Führung zu rechnen seien – im Allgemeinen bis zur Vollendung des 16. Lebensjahres Hilflosigkeit anzunehmen. Dies sei auch bei einem GdB von 30 möglich. Die Klägerin benötige wöchentlich 1 Stunde Physiotherapie zu Hause unter Anleitung einer Therapeutin, tägliche Physiotherapie zu Hause mit Übungen zur Schleimlockerung und Stabilisierung, 2-mal täglich bzw. in akuten Infektzeiten 3- bis 4-mal täglich Inhalationen sowie 2-mal täglich Richten der Medikamente Kalydeco, bei fettreicher Nahrung Kreon und morgens der Vitamine. Daneben müsse sie zu jeder Mahlzeit in Abhängigkeit von der Nährstoffzusammensetzung Kreon einnehmen, in der warmen Jahreszeit ausreichend Salz zugeben, hochkalorische Nahrungszusätze einnehmen und durch vermehrtes Schwitzen mehrfach am Tag abgewaschen werden. Der aktuell gute Gesundheitszustand der Klägerin sei auf die elterliche Einweisung, Anleitung, Überwachung und Motivierung der Klägerin hinsichtlich der umfangreichen Therapiemaßnahmen zurückzuführen. Begehrt werde daher die Anerkennung der Schwerbehinderung sowie die Erteilung des Merkzeichens H. Eine Anerkennung solle ab Geburt erfolgen.

Vorgelegt wurde zudem eine Stellungnahme durch H1 vom 20.07.2020, wonach das Behandlungsregime „rund-um-die-Uhr“ durchgeführt werden müsse und eine hohe erzieherische Kompetenz der Eltern mit täglicher und dauerhafter Beaufsichtigung, Ermutigung und Motivierung der Klägerin erfordere. Neben den im Befundbericht vom 07.11.2019 angegebenen Therapiemaßnahmen wurde noch die Einhaltung besonderer Hygienevorschriften etwa bei der Handhabung des Inhalationsgerätes, bei der Benutzung des Waschbeckens, beim Toilettengang, bei der Benutzung von Taschentüchern sowie hinsichtlich täglicher Reinigung und Belüftung der Wohnung angegeben. Die sehr gute Entwicklung der Klägerin mit altersgerechtem Wachstum und Gedeihen sei der zuverlässigen und disziplinierten Pflege, Versorgung und Alltagshilfestellung durch die Eltern zu verdanken.

Auf eine versorgungsärztliche Stellungnahme durch Z1 vom 30.07.2020 zog das Landratsamt noch die Untersuchungsberichte des Universitätsklinikums F1 bei. Unter deren Auswertung empfahl der Beratungsarzt B1 in einer gutachtlichen Stellungnahme vom 09.10.2020 trotz der Diagnose einer schweren Pankreasinsuffizienz angesichts eines ausgezeichneten körperlichen Zustands der Klägerin keine Abhilfe. In einer weiteren versorgungsärztlichen Stellungnahme durch H2 vom 03.05.2021 wurde diese Einschätzung geteilt, da Betreuungsmaßnahmen zwar dokumentiert, aber in ihrem Ausmaß noch nicht als „umfangreich“ einzustufen seien.

Mit Widerspruchsbescheid vom 18.05.2021 wurde der Widerspruch zurückgewiesen. Entsprechend den Ausführungen des Beratungsarztes B1 sei lediglich ein GdB von 30 seit 30.09.2018 nachgewiesen. Ein GdB von 50 komme ohne deutliche Einschränkung von Aktivitäten und Lungenfunktion sowie ohne häufige Gedeih- und Entwicklungsstörungen nicht in Betracht. Die Verneinung des Merkzeichens H wurde entsprechend den Ausführungen von H2 begründet.

Hiergegen hat der Prozessbevollmächtigte der Klägerin am 18.06.2021 beim Sozialgericht Freiburg (SG) Klage erhoben und beantragt, den Beklagten unter teilweiser Aufhebung des Bescheides vom 19.06.2020 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 18.06.2021 zu verurteilen, bei der Klägerin einen GdB von mindestens 50 festzustellen sowie wenigstens das Merkzeichen H zuzusprechen. Der Beklagte habe die Voraussetzungen für das Merkzeichen H, dessen Grundlagen in § 33b Abs. 2 Einkommensteuergesetz (EStG) zu finden seien, nicht beachtet. Soweit beratungsärztlich ein ausgezeichneter körperlicher Zustand der Klägerin angenommen werde, sei dies ohne persönliche Untersuchung der Klägerin nur schwer nachzuvollziehen. Der Beklagte berücksichtige bei seinen Feststellungen nur den Erfolg der Therapie, ohne den damit verbundenen Aufwand zu erkennen. Die Klägerin entwickle sich nur deshalb relativ gut, weil sie den ärztlichen Rat konsequent befolge, an den Therapiemaßnahmen aktiv mitwirke und die Medikamente einnehme. Auf der am 01.07.2021 unterzeichneten Entbindungserklärung sind quartalsweise Untersuchungen bei H1 als Leiterin der Mukoviszidose-Ambulanz des Universitätsklinikums F1 sowie eine Untersuchung bei D1 zuletzt im Januar 2021 angegeben worden; bei Letzterem werde vermieden, in die Praxis zu gehen, und ein Bedarf an Medikamenten, Nutrinen etc. telefonisch mitgeteilt.

Das SG hat eine schriftliche Zeugenauskunft von H1 eingeholt. Diese hat in ihrer Auskunft vom 23.12.2021 für die Zeit ab Mai 2020 routinemäßige quartalsweise Vorstellungen der Klägerin in der Mukoviszidose-Ambulanz angegeben. Geklagt worden sei v.a. über abdominelle Beschwerden bei festem Stuhlgang mit Verstopfung und Bauchschmerzen, wobei unter Therapie mit Movicol eine Besserung eingetreten sei. Ein anamnestisch schlechtes Essverhalten der Klägerin spiegle sich in der Gewichtsentwicklung wieder. Tägliche Hilfeleistungen seien bei der Therapie erforderlich. So müsse die Klägerin 2-mal täglich mit Kochsalz über einen Vernebler inhalieren, solle zu Hause Atemübungen durchführen, erhalte 1-mal wöchentlich professionelle Physiotherapie und müsse Pankreasenzyme zu fetthaltigen Mahlzeiten, 1-mal täglich eine Lösung mit fetthaltigen Vitaminen und 2-mal täglich Kalydeco einnehmen. Wegen der Neigung zu Obstipation erhalte sie Movicol, zudem erhalte sie Hilfeleistung in Form des häufigen Anbietens von Nahrung zur Unterstützung der Nahrungs- und damit Gewichtszunahme. Das Vorliegen einer Essstörung könne gegenwärtig nicht hinreichend beurteilt werden, bei sehr guter neurologischer Entwicklung habe sich hinsichtlich des Gewichts im Verlauf des Jahrs ein deutlicher Knick in der Perzentilkurve gezeigt. Im beigefügten Befundbericht vom 02.11.2021 sind abgesehen von einem oberen Luftwegsinfekt und leichten Infektwerten mit Empfehlung einer weiteren kinderärztlichen Vorstellung die übrigen Befunde als erfreulicherweise stabil beschrieben worden. Die Dosierung für Kreon ist dabei mit 3.000 IE angegeben worden.

Am 24.02.2022 ist beim SG auf entsprechende Anforderung ein weiterer Verlaufsbericht von H1 vom 17.02.2022 eingegangen. Danach bringe die Klägerin anamnestisch viele Infekte aus der „KiTa“ mit nach Hause, wobei ggf. eine verstärkte Inhalation mit Salbutamol erfolge. Mit dem Essen klappe es wieder deutlich besser, der Stuhlgang sei fest und Bauchschmerzen bestünden nur selten. Die Klägerin habe wieder deutlich an Gewicht zugelegt, sodass der Verlauf sehr zufriedenstellend sei, und Änderungen im Therapieregime nicht angezeigt seien.

Auf einen Hinweis des Kammervorsitzenden des SG zu Bedenken gegenüber den Erfolgsaussichten der Klage hat der Prozessbevollmächtigte der Klägerin mit Schriftsatz vom 31.03.2022 angegeben, dass die Einholung einer ergänzenden Stellungnahme durch D1, welcher aufgrund regelmäßiger Vorstellungen auch im Rahmen von Infekten Angaben zur gesundheitlichen Situation machen könne, beantragt werde. Aufgrund der durch die schwere Erkrankung der Klägerin erforderlichen Therapiemaßnahmen bestehe eine erhebliche Einschränkung der gleichberechtigten Teilhabe an der Gesellschaft.

Mit Verfügung des SG ist in der Folge eine Vormerkung des Rechtsstreits zur mündlichen Verhandlung mitgeteilt worden. Von einer Befragung des D1 sei abgesehen worden, da in der Entbindungserklärung angegeben wurde, dass Praxisbesuche vermieden würden.

Mit in mündlicher Verhandlung vom 27.07.2023 verkündetem Urteil hat das SG die Klage abgewiesen. Die Klägerin habe keinen Anspruch auf Feststellung eines höheren GdB als 30 und des Merkzeichens H. Angesichts der von H1 in ihrer sachverständigen Zeugenauskunft vom 23.12.2021 angegebenen erforderlichen Therapiemaßnahmen, der sehr guten neurologischen Entwicklung und der – nach Verabreichung hochkalorischer Ernährung infolge eines Knicks in der Gewichtsentwicklung – im Befundbericht vom 17.02.2022 beschriebenen deutlichen Gewichtszunahme sei von einem (zumindest noch) altersgemäßen Gedeihen und einem (zumindest noch) altersgemäßen Ernährungszustand auszugehen. Daher könne ein nur leicht eingeschränktes Aktivitätsniveau und eine nur leicht eingeschränkte Atemfunktion bei als frei ohne Giemen und mit einer Sauerstoffsättigung von 99 % befundeter Lunge festgestellt werden, wofür ein GdB von 30 angemessen sei. Bei Kindern sei zwar bereits im Allgemeinen bis zur Vollendung des 16. Lebensjahres Hilflosigkeit anzunehmen, wenn die Mukoviszidose für sich allein einen GdB von wenigstens 50 bedinge. Nach dem medizinischen Beweisergebnis jedoch sei die Bewertung mit einem GdB von 30 ausreichend. Auch nach den allgemeinen Vorgaben gemäß Teil A Nr. 4 der Versorgungsmedizinischen Grundsätze reiche vorliegend der Umfang der zur Sicherung der Existenz notwendigen Hilfe Dritter für eine Zuerkennung des Merkzeichens H nicht aus. Die erforderlichen Hilfeleistungen bezögen sich im Wesentlichen auf das Inhalieren zweimal täglich mit Kochsalz, die Durchführung von Atemübungen und die Überwachung der Mahlzeiten bzw. der Einnahme der hierbei zu verabreichenden Medikamente. Dabei handle es sich überwiegend um Maßnahmen der ambulanten Behandlungspflege, d.h. medizinische Hilfeleistungen, nicht aber um fremde Hilfe für die gewöhnlichen und regelmäßig wiederkehrenden Verrichtungen im Ablauf des täglichen Lebens – wie z.B. Aufstehen, Waschen, Kämmen, Essen, Nahrungszubereitung, körperliche Bewegung und geistige Erholung. Soweit in dieser Hinsicht Hilfeleistungen erforderlich seien, beispielsweise beim Zurichten der Nahrung oder bei der entsprechend notwendigen Überwachung, werde das für die Feststellung des Merkzeichens H erforderliche Ausmaß erkennbar nicht erreicht.

Der Prozessbevollmächtigte der Klägerin hat mit Schreiben vom 23.10.2023 angefragt, wann mit der Übersendung des Protokolls gerechnet werden könne. Dieses ist laut Signaturprüfung im zur betreffenden Datei gehörenden Transfervermerk am 28.12.2023 um 12:44 Uhr vom Kammervorsitzenden des SG signiert worden. Das Urteil ist laut Signaturprüfung im zur betreffenden Datei gehörenden Transfervermerk ebenfalls am 28.12.2023 um 15:58 Uhr signiert worden. Urteil und Protokoll sind dem Prozessbevollmächtigten der Klägerin am 29.12.2023 zugestellt worden.

Am 29.01.2024 hat der Prozessbevollmächtigte der Klägerin beim Landessozialgericht (LSG) Baden-Württemberg Berufung gegen das Urteil des SG vom 27.07.2023 eingelegt. Sowohl das Urteil als auch die Sitzungsniederschrift vom 27.07.2023 seien der Klägerseite erst Monate nach der mündlichen Verhandlung am 29.12.2023 zugestellt worden. Mit der Berufung werde das Begehren auf Gewährung eines GdB von wenigstens 50 und Zuerkennung des Merkzeichens H weiterverfolgt. Bereits mit Schriftsatz vom 05.08.2021 sei die Klage unter Hinweis auf den hohen therapeutischen Aufwand der Erkrankung der Klägerin umfangreich begründet worden. Das SG habe eine Auskunft der Mukoviszidose-Ambulanz des Universitätsklinikums F1 eingeholt, woraufhin eine gerichtliche Verfügung im Wesentlichen unter Wiederholung von Auszügen der VersMedV ergangen sei. Auf klägerseitigen Antrag auf Vernehmung des D1 habe das SG mitgeteilt, hiervon Abstand zu nehmen, da in der Entbindungserklärung eine Vermeidung von Praxisbesuchen angegeben worden sei. Die zur mündlichen Verhandlung am 27.07.2023 geladene Mutter der Klägerin habe der Kammer des SG Rede und Antwort gestanden, was jedoch in der Sitzungsniederschrift keinen Niederschlag gefunden habe. Es sei nicht erkennbar, worauf das SG seine medizinische Expertise stütze. Insbesondere auf die schwere exokrine Pankreasinsuffizienz, die ungewöhnlich und mit einer erheblichen Beeinträchtigung der Klägerin verbunden sei, sei das SG nicht eingegangen. Dies gelte auch für die Schilderungen der Mutter der Klägerin zu Therapieaufwand und Beschwerden der Klägerin. Die Vermeidung von Kontakten in Arztpraxen habe einer Empfehlung während der damals herrschenden Corona-Pandemie entsprochen und könne der Klägerin nicht zum Nachteil gereichen. Insgesamt seien die Verfahrensfehler des SG so schwerwiegend, dass die Sache jedenfalls an das SG zurückzuverweisen sei.

Die Klägerin beantragt sinngemäß,

den Beklagten unter Aufhebung des Urteils des Sozialgerichts Freiburg vom 27.07.2023 und Abänderung des Bescheids des Beklagten vom 19.06.2020 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 18.05.2021 zu verurteilen, bei der Klägerin einen GdB in Höhe von mindestens 50 sowie die gesundheitlichen Voraussetzungen für das Merkzeichen H festzustellen,

hilfsweise die Zurückverweisung der Sache an das Sozialgericht Freiburg zur weiteren Ermittlung des Sachverhalts.

Der Beklagte hat im Berufungsverfahren keinen ausdrücklichen Antrag gestellt.

Am 26.07.2024 ist vor dem Berichterstatter ein Erörterungstermin durchgeführt worden. Hierbei hat sich die Mutter der Klägerin zu den Auswirkungen der Erkrankung im Alltag der Klägerin eingelassen. Der Berichterstatter hat zugleich darauf hingewiesen, dass beabsichtigt sei, dem Senat eine Zurückverweisung an das SG nach § 159 Abs. 1 Nr. 2 SGG vorzuschlagen. Die Beteiligten haben im Erörterungstermin übereinstimmend ihr Einverständnis mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung nach § 124 Abs. 2 SGG erklärt.

Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf die sozialgerichtlichen Verfahrensakten beider Rechtszüge sowie auf die beigezogene Verwaltungsakte des Beklagten verwiesen.


Entscheidungsgründe

Die form- und fristgerecht eingelegte und gemäß §§ 143, 144 SGG zulässige Berufung der Klägerin, über die der Senat mit Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung nach § 124 Abs. 2 SGG entschieden hat, ist im Sinne der Zurückverweisung des Rechtsstreits an das Sozialgericht zur erneuten Verhandlung und Entscheidung begründet.

Gemäß § 159 Abs. 1 Nr. 2 SGG kann das Landessozialgericht durch Urteil eine mit der Berufung angefochtene Entscheidung aufheben und die Sache an das Sozialgericht zurückverweisen, wenn das Verfahren an einem wesentlichen Mangel leidet und auf Grund dieses Mangels eine umfangreiche und aufwändige Beweisaufnahme notwendig ist.

Die tatbestandlichen Voraussetzungen dieser Bestimmung sind erfüllt. Ein Mangel des Verfahrens liegt vor, wenn gegen eine das gerichtliche Verfahren regelnde Vorschrift verstoßen worden ist. Wesentlich ist dieser Mangel, wenn die Entscheidung darauf beruhen kann; dies ist bei Verfahrensfehlern, die absolute Revisionsgründe gemäß § 202 Satz 1 SGG i.V.m. § 547 ZPO darstellen, stets der Fall (allgemeine Meinung, stellvertretend Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Schmidt, SGG, 14. Aufl. 2023, § 159 Rdnr. 3, 3a).

Im vorliegenden Fall liegt ein Verfahrensfehler vor, der zugleich einen absoluten Revisionsgrund darstellt und auf dem das Urteil somit beruht. Gemäß § 202 Satz 1 SGG i.V.m. § 547 Nr. 6 ZPO ist eine Entscheidung stets als auf einer Verletzung des Rechts beruhend anzusehen, wenn die Entscheidung entgegen den gesetzlichen Bestimmungen nicht mit Gründen versehen ist. Dies ist beim vorliegenden Urteil des SG vom 27.07.2023 der Fall, da es erst am 28.12.2023 vom zuständigen Kammervorsitzenden signiert worden ist. Ein Urteil muss nach § 136 Abs. 1 Nr. 6 SGG auch die Entscheidungsgründe enthalten. Nach § 134 Abs. 2 Satz 1 SGG soll das Urteil vor Ablauf eines Monats, vom Tag der Verkündung angerechnet, vollständig abgefasst der Geschäftsstelle übermittelt werden. Zwar ist ein Verstoß gegen diese Sollvorschrift zunächst grundsätzlich unschädlich (Keller, a.a.O., Rn. 4). Sind jedoch Tatbestand und Entscheidungsgründe nicht binnen 5 Monaten nach Verkündung schriftlich niedergelegt, von den Richtern besonders unterschrieben und der Geschäftsstelle übergeben worden, so ist das Urteil als nicht mit Gründen versehen anzusehen, da bei Überschreitung dieser Frist die Beurkundungsfunktion, wonach das Urteil auf dem Ergebnis der mündlichen Verhandlung und gleichermaßen auf dem Beratungsergebnis beruht, nicht mehr gewährleistet ist (Gemeinsamer Senat der obersten Gerichtshöfe des Bundes, Beschluss vom 27.04.1993 – GmS-OGB 1/92 – juris Rn. 18). Da das Urteil des SG am 27.07.2023 verkündet, aber erst am 28.12.2023 signiert worden ist, liegen jedenfalls zwischen Verkündung und Signatur mehr als 5 Monate, sodass das Urteil als nicht mit Gründen versehen anzusehen ist.

Die Überschreitung der 5-Monats-Frist stellt einen Verfahrensfehler dar, der bei Erfüllung der weiteren Voraussetzungen des § 159 Abs. 1 Nr. 2 SGG grundsätzlich geeignet ist, ein Zurückverweisungsermessen zu eröffnen (Schütz in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGG, 2. Aufl., Stand 15.06.2022, § 134 Rn. 21; Wolff-Dellen in: Fichte/Jüttner, SGG-Kommentar, 3. Aufl., § 134 Rn. 8; zu Begründungsmängeln als geeigneten Verfahrensfehlern für eine Zurückverweisung vgl. auch LSG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 11.06.2008 – L 8 R 36/08 – juris Rn. 54 ff.; LSG Sachsen, Beschluss vom 23.02.2009 – L 3 B 740/08 AS-PKH – juris Rn. 3 ff.). Einer konkreten Rüge dieses Verfahrensfehlers bedarf es dazu nicht. Ein solches Rügeerfordernis kann insbesondere nicht aus dem Urteil des BSG vom 14.09.1994 – 5 RJ 62/93 – abgeleitet werden (so aber LSG Bayern, Urteil vom 17.03.2010 – L 13 R 550/09 – juris Rn. 18). Die benannte Entscheidung des BSG betraf die Berücksichtigung eines entsprechenden Verfahrensmangels im Revisionsverfahren, welches aber im Rahmen der Revisionsbegründung nach § 164 Abs. 2 Satz 3 SGG die konkrete Bezeichnung der einen geltend gemachten Verfahrensmangel begründenden Tatsachen fordert. Entsprechendes gilt für das im Beschluss des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes vom 27.04.1993 – GmS-OGB 1/92 – angenommene Rügeerfordernis, da auch diese Entscheidung ein entsprechendes verwaltungsgerichtliches Revisionsverfahren zum Anlass hatte, wobei nach § 139 Abs. 3 Satz 4 VwGO entsprechende Anforderungen bei der Geltendmachung von Verfahrensmängeln bestehen. Demgegenüber setzt § 159 Abs. 1 Nr. 2 SGG nach seinem eindeutigen Wortlaut eine Rüge des Verfahrensmangels nicht voraus (vgl. etwa Keller, a.a.O., § 159 Rn. 3; Meßling in: Hennig, SGG-Kommentar, § 159 Rn. 27; Adolf in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGG, 2. Aufl., Stand 15.06.2022, § 159 Rn. 16). Im Übrigen hat die Klägerseite in ihrer Berufungsbegründung vom 21.07.2024 durchaus Verfahrensfehler moniert und u.a. auf die Zustellung von Urteil und Sitzungsniederschrift erst Monate nach der mündlichen Verhandlung sowie auf die fehlende Berücksichtigung von Angaben der Klägerin hingewiesen; gerade Letzteres entspricht dem Schutzzweck der 5-Monats-Frist, nach deren Ablauf eine schriftliche Abfassung des Urteils nicht mehr als auf dem Ergebnis der mündlichen Verhandlung und der Beratung beruhend angesehen werden kann.

Darüber hinaus liegt ein zur Zurückverweisung berechtigender wesentlicher Verfahrensmangel auch insoweit vor, als das SG den entscheidungserheblichen Sachverhalt entgegen der Verpflichtung zur Amtsermittlung (§ 103 SGG) nicht hinreichend aufgeklärt hat. Eine Verletzung des § 103 SGG liegt vor, wenn das Tatsachengericht Ermittlungen unterlässt, obwohl es sich ausgehend von seinem sachlich-rechtlichen Standpunkt zu weiteren Ermittlungen hätte gedrängt fühlen müssen (Mushoff in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGG, 2. Aufl., Stand 09.07.2024, § 103 Rn. 169 ff.; Senatsurteile vom 12.05.2021 – L 8 R 3419/20 – juris Rn. 28 ff. sowie vom 17.07.2020 – L 8 R 736/20 – juris und vom 23.09.2022 – L 8 R 1633/22 – juris Rn. 44 ff.; LSG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 10.03.2016 – L 8 R 710/15 – juris). Ein Verstoß gegen den Amtsermittlungsgrundsatz ist ein wesentlicher Mangel des Verfahrens im Sinne der § 144 Abs. 2 Nr. 3 SGG und § 160 Abs. 2 Nr. 3 SGG. Weil die Beteiligten auf eine ordnungsgemäße Aufklärung des Sachverhalts nicht verzichten können, können Verstöße gegen § 103 SGG über § 202 Satz 1 SGG in Verbindung mit § 295 ZPO nicht geheilt werden.

Die Pflicht zur Amtsermittlung ist somit dem Verantwortungsbereich des Gerichts zugewiesen. Nicht die Beteiligten, sondern das Gericht bestimmt, welche Angaben für die von ihm zu treffende Entscheidung erforderlich sind. Das Gericht entscheidet im Rahmen von Zweckmäßigkeitsüberlegungen nach dem Studium der Akten über die Reihenfolge der zur Aufklärung des Sachverhalts erforderlichen Maßnahmen. Diese Aufgaben darf das Gericht nicht an die Beteiligten delegieren. Es hat die Sachverhaltsermittlungen nach seinem pflichtgemäßen Ermessen unabhängig vom Willen und der Interessenlage einzelner Prozessbeteiligter durchzuführen. Das Gericht muss sich nicht mit den von einem Kläger angebotenen Beweismitteln begnügen, wenn es die Angaben für unzureichend erachtet, weil es diese nicht auf ihre Richtigkeit überprüfen kann (Mushoff in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGG, 2. Aufl., Stand 09.07.2024, § 103 SGG Rn. 31).

Zu ermitteln sind alle Tatsachen, die, ausgehend von der Rechtsauffassung des Sozialgerichts, für die Entscheidungsfindung in prozessualer und materieller Hinsicht wesentlich sind. Das Ausmaß der Aufklärung und die Wahl der Beweismittel sind in das pflichtgemäße richterliche Ermessen des Gerichts gestellt. Es hat diejenigen Ermittlungen durchzuführen, zu denen es sich nach der Sach- und Rechtslage gedrängt fühlen muss.

Welcher Beweismittel sich das Gericht bedient, ist eine Frage der pflichtgemäßen richterlichen Ermessensausübung. Das Gericht ist gehalten, diejenigen Beweismittel zu verwenden, die nach den Umständen des Einzelfalles zur Aufklärung des entscheidungserheblichen Sachverhalts geeignet und erforderlich sind. Umfang und Reihenfolge der Ermittlungen sind zum Teil durch die Umstände des Einzelfalls vorgegeben. So hat das Gericht vor der Beauftragung eines Sachverständigen häufig die erforderlichen medizinischen Befunde der behandelnden Ärzte einzuholen, ohne die beispielsweise verlässliche Aussagen über das Ausmaß der Behinderung häufig nicht möglich sind. Bei streitigem Sachverhalt hat das Gericht zunächst die Tatsachen zu ermitteln, die es dem Sachverständigen vorzugeben hat (§ 404a Abs. 3 ZPO).

Nach der Rechtsprechung des Senats (vgl. Senatsurteil vom 23.09.2022 – L 8 R 1633/22 – juris Rn. 51 ff. sowie Senatsurteil vom 12.05.2021 – L 8 R 3419/20 – juris Rn. 39 ff.) ist der Amtsermittlungsgrundsatz unter anderem auch dann verletzt, wenn allein der medizinische Sachverhalt streitig ist und dem Gericht durch die Benennung der behandelnden Ärzte die Möglichkeit offenstand, sachdienliche Ermittlungen vorzunehmen. Dies gilt nach Überzeugung des Senats nicht nur für den Fall einer ausbleibenden Klagebegründung, sondern immer dann, wenn behandelnde Ärzte im maßgeblichen Zeitraum in der Schweigepflichtentbindungserklärung benannt werden, und damit die aktuell bestehenden Funktionsbehinderungen weiter ermittelt werden können.

Im vorliegenden Fall ist in diesem Zusammenhang zu beachten, dass das Urteil des SG nach den obenstehenden Ausführungen nicht mit Gründen versehen ist. Daher kann ein sachlich-rechtlicher Standpunkt des SG, von dem aus eine sich aufdrängende Erforderlichkeit weitergehender Ermittlungen zu beurteilen wäre, nicht festgestellt werden. Nach § 128 Abs. 1 Satz 2 SGG sind in dem Urteil die Gründe anzugeben, die für die richterliche Überzeugung leitend gewesen sind. Ohne Urteilsbegründung sind die Grundlagen der richterlichen Überzeugungsbildung nicht nachvollziehbar, sodass der Senat auch nicht feststellen kann, aus welchen Erwägungen heraus das SG tatsächlich durchgeführte Ermittlungen als ausreichend für eine richterliche Überzeugungsbildung angesehen hat. In diesem Fall ist ungeachtet einer etwaigen Rechtsauffassung des SG nach objektiven Maßstäben zu bestimmen, ob weitergehende Ermittlungen von Amts wegen angezeigt gewesen wären.

Dies ist vorliegend zu bejahen. Für die streitgegenständlichen Feststellungen eines höheren GdB und insbesondere der Voraussetzungen des Nachteilsausgleichs Merkzeichen H wären weitergehende Ermittlungen von Amts wegen angezeigt gewesen.

Die Rechtsgrundlage eines Anspruchs auf Feststellung des GdB liegt für die Zeit bis zum 31.12.2023 in § 152 und § 2 SGB IX in der vom 01.01.2018 bis 31.12.2023 geltenden Normfassung und für die Zeit seit dem 01.01.2024 in § 152 SGB IX in der seit dem 01.01.2024 geltenden Normfassung i.V.m. § 2 SGB IX (s.o.). Danach stellen die für die Durchführung des Bundesversorgungsgesetzes (bis 31.12.2023) bzw. des SGB XIV (seit 01.01.2024) zuständigen Behörden auf Antrag des behinderten Menschen das Vorliegen einer Behinderung und den GdB zum Zeitpunkt der Antragstellung fest (§ 152 Abs. 1 Satz 1 SGB IX). Auf Antrag kann festgestellt werden, dass ein GdB oder gesundheitliche Merkmale bereits zu einem früheren Zeitpunkt vorgelegen haben, wenn dafür ein besonderes Interesse glaubhaft gemacht wird (§ 152 Abs. 1 Satz 2 SGB IX). Menschen mit Behinderungen sind gemäß § 2 Abs. 1 Satz 1 SGB IX Menschen, die körperliche, seelische, geistige oder Sinnesbeeinträchtigungen haben, die sie in Wechselwirkung mit einstellungs- und umweltbedingten Barrieren an der gleichberechtigten Teilhabe an der Gesellschaft mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate hindern können. Eine Beeinträchtigung nach § 2 Abs. 1 Satz 1 SGB XI liegt vor, wenn der Körper- und Gesundheitszustand von dem für das Lebensalter typischen Zustand abweicht (§ 2 Abs. 1 Satz 2 SGB IX). Menschen sind im Sinne des Teils 3 des SGB IX schwerbehindert, wenn bei ihnen ein Grad der Behinderung von wenigstens 50 vorliegt und sie ihren Wohnsitz, ihren gewöhnlichen Aufenthalt oder ihre Beschäftigung auf einem Arbeitsplatz im Sinne des § 156 SGB IX rechtmäßig im Geltungsbereich dieses Gesetzbuches haben (§ 2 Abs. 2 SGB IX). Die Auswirkungen auf die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft werden als Grad der Behinderung nach Zehnergraden abgestuft festgestellt (§ 152 Abs. 1 Satz 5 [bis 31.12.2023] bzw. Satz 4 [seit 01.01.2024] SGB IX). Eine Feststellung ist nur zu treffen, wenn ein GdB von wenigstens 20 vorliegt (§ 152 Abs. 1 Satz 6 [bis 31.12.2023] bzw. Satz 5 [seit 01.01.2024] SGB IX). Liegen mehrere Beeinträchtigungen der Teilhabe am Leben in der Gesellschaft vor, so wird der Grad der Behinderung nach den Auswirkungen der Beeinträchtigungen in ihrer Gesamtheit unter Berücksichtigung ihrer wechselseitigen Beziehungen festgestellt (§ 152 Abs. 3 Satz 1 SGB IX).

Da eine Verordnung des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales zur Aufstellung der Grundsätze, die für die Bewertung des GdB, die Kriterien für die Bewertung der Hilflosigkeit und die Voraussetzungen für die Vergabe von Merkzeichen maßgebend sind, die nach Bundesrecht im Schwerbehindertenausweis einzutragen sind (§ 153 Abs. 2 SGB IX), bisher nicht erlassen ist, gelten die Maßstäbe des § 30 Abs. 1 des Bundesversorgungsgesetzes (BVG) und der auf Grund des § 30 Abs. 16 BVG erlassenen Rechtsverordnungen entsprechend (§ 241 Abs. 5 SGB IX in der seit 01.01.2018 geltenden Normfassung). Die Grundsätze zur Feststellung des GdB sind dementsprechend in der Anlage zu § 2 der Versorgungsmedizin-Verordnung (VersMedV) als Bestandteil dieser Verordnung festgelegt (vgl. § 2 VersMedV). Die Versorgungsmedizinischen Grundsätze (VG) werden teilhabeorientiert auf der Grundlage des aktuellen Stands der medizinischen Wissenschaft und der Medizintechnik unter Berücksichtigung versorgungsmedizinischer Erfordernisse fortentwickelt (§ 153a Abs. 1 Satz 2 und 3 SGB IX in der seit 14.06.2023 geltenden Normfassung).

Allgemein gilt, dass der GdB auf alle Gesundheitsstörungen unabhängig von ihrer Ursache, also final bezogen ist (Teil A Nr. 2 lit. a VG). Der GdB ist ein Maß für die körperlichen, geistigen, seelischen und sozialen Auswirkungen einer Funktionsbeeinträchtigung aufgrund eines Gesundheitsschadens (Teil A Nr. 2 lit. a VG). Der GdB ist unabhängig vom ausgeübten oder angestrebten Beruf zu beurteilen (Teil A Nr. 2 lit. b VG). Ein GdB setzt stets eine Regelwidrigkeit gegenüber dem für das Lebensalter typischen Zustand voraus (Teil A Nr. 2 lit. c VG). Dies ist insbesondere bei Kindern und älteren Menschen zu beachten. Physiologische Veränderungen im Alter sind bei der Beurteilung des GdB nicht zu berücksichtigen. Als solche Veränderungen sind die körperlichen und psychischen Leistungseinschränkungen anzusehen, die sich im Alter regelhaft entwickeln, also für das Alter nach ihrer Art und ihrem Umfang typisch sind. Demgegenüber sind pathologische Veränderungen, also Gesundheitsstörungen, die nicht regelmäßig und nicht nur im Alter beobachtet werden können, bei der Beurteilung des GdB auch dann zu berücksichtigen, wenn sie erstmalig im höheren Alter auftreten oder als „Alterskrankheiten“ (etwa „Altersdiabetes“) bezeichnet werden (Teil A Nr. 2 lit. c VG).

Bei der nach Zehnergraden abgestuften Feststellung des GdB (vgl. § 152 Abs. 1 Satz 4 SGB IX) sollen im Allgemeinen die folgenden Funktionssysteme zusammenfassend beurteilt werden: Gehirn einschließlich Psyche, Augen, Ohren, Atmung, Herz und Kreislauf, Verdauung, Harnorgane, Geschlechtsapparat, Haut, Blut einschließlich blutbildendes Gewebe und Immunsystem, innere Sekretion und Stoffwechsel, Arme, Beine, Rumpf (Teil A Nr. 2 lit. e VG). Die in der GdB-Tabelle niedergelegten Sätze berücksichtigen bereits die üblichen seelischen Begleiterscheinungen (Teil A Nr. 2 lit. i VG). Sind die seelischen Begleiterscheinungen erheblich höher als aufgrund der organischen Veränderungen zu erwarten wäre, so ist ein höherer GdB gerechtfertigt. Vergleichsmaßstab ist dabei nicht der behinderte Mensch, der überhaupt nicht oder kaum unter seinem Körperschaden leidet, sondern die allgemeine ärztliche Erfahrung hinsichtlich der regelhaften Auswirkungen. Außergewöhnliche seelische Begleiterscheinungen sind anzunehmen, wenn anhaltende psychoreaktive Störungen in einer solchen Ausprägung vorliegen, dass eine spezielle ärztliche Behandlung dieser Störungen – z.B. eine Psychotherapie – erforderlich ist (Teil A Nr. 2 lit. i VG). Die in der GdB-Tabelle angegebenen Werte schließen die üblicherweise vorhandenen Schmerzen mit ein und berücksichtigen auch erfahrungsgemäß besonders schmerzhafte Zustände (Teil A Nr. 2 lit. j VG). Ist nach Ort und Ausmaß der pathologischen Veränderungen eine über das übliche Maß hinausgehende Schmerzhaftigkeit nachgewiesen, die eine ärztliche Behandlung erfordert, können höhere Werte angesetzt werden (Teil A Nr. 2 lit. j VG).

Eine rechtsverbindliche Entscheidung nach § 152 Abs. 1 Satz 1 SGB IX umfasst nur die Feststellung einer unbenannten Behinderung und des Gesamt-GdB. Die dieser Feststellung im Einzelfall zugrundeliegenden Gesundheitsstörungen, die daraus folgenden Funktionsbeeinträchtigungen und ihre Auswirkungen dienen lediglich der Begründung des Verwaltungsakts (vgl. BSG, Urteil vom 24.06.1998 – B 9 SB 17/97 R – juris, Rn. 23). Der Einzel- bzw. Teil-GdB ist keiner eigenen Feststellung zugänglich. Er erscheint nicht im Verfügungssatz des Verwaltungsakts, ist nicht isoliert anfechtbar und erwächst auch nicht in Bindung (ständige Rechtsprechung, vgl. BSG, Urteil vom 05.05.1993 – 9/9a RVs 2/92 – juris, Rn. 20; BSG, Beschluss vom 20.02.2019 – B 9 SB 67/18 B – juris, Rn. 9).

Die auf diese Weise vorzunehmende Bemessung des GdB ist grundsätzlich tatrichterliche Aufgabe, die in freier Beweiswürdigung nach Maßgabe der VG vorzunehmen ist (ständige Rechtsprechung, vgl. BSG, Urteil vom 27.10.2022 – B 9 SB 4/21 R – juris Rn. 21 m.w.N.; BSG, Urteil vom 16.12.2021 – B 9 SB 6/19 R – juris, Rn. 38 m.w.N.). Bei der rechtlichen Bewertung der Auswirkungen einer Behinderung auf die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft sind die Gerichte an die Vorschläge der von ihnen gehörten Sachverständigen nicht gebunden (vgl. BSG, Beschluss vom 04.05.2020 – B 9 SB 84/19 B – juris, Rn. 6 m.w.N.). Maßgebender Zeitpunkt zur Beurteilung der Sach- und Rechtslage ist der Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung (ständige Rechtsprechung, vgl. BSG, Urteil vom 08.12.1988 – 2 RU 83/87 – juris Rn. 17; BSG, Beschluss vom 09.12.2018 – B 9 SB 48/19 B – juris Rn. 8).

Die Rechtsgrundlage auf Zuerkennung des Merkzeichens H findet sich in § 152 Abs. 4 SGB IX in der seit 01.01.2018 geltenden Fassung. Danach treffen die zuständigen Behörden die entsprechenden Feststellungen im Verfahren nach § 152 Abs. 1 SGB IX, soweit neben dem Vorliegen der Behinderung weitere gesundheitliche Merkmale Voraussetzung für die Inanspruchnahme von Nachteilsausgleichen sind. Im Schwerbehindertenausweis etwa ist das Merkzeichen H einzutragen, wenn der schwerbehinderte Mensch hilflos im Sinne des § 33b EStG oder entsprechender Vorschriften ist (§ 3 Abs. 1 Nr. 2 der Schwerbehindertenausweisverordnung in der ab 01.01.2018 geltenden Fassung).

Gemäß § 33b Abs. 3 Satz 4 Einkommensteuergesetz (EStG) ist eine Person hilflos, wenn sie für eine Reihe von häufig und regelmäßig wiederkehrenden Verrichtungen zur Sicherung ihrer persönlichen Existenz im Ablauf eines jeden Tages fremder Hilfe dauernd bedarf. Diese Voraussetzungen sind nach § 33b Abs. 3 Satz 5 EStG auch erfüllt, wenn die Hilfe in Form einer Überwachung oder einer Anleitung zu den in Satz 4 dieser Vorschrift genannten Verrichtungen erforderlich ist oder wenn die Hilfe zwar nicht dauernd geleistet werden muss, jedoch eine ständige Bereitschaft zur Hilfeleistung erforderlich ist. Die so umschriebene Hilflosigkeit geht auf die Kriterien zurück, die von der Rechtsprechung im Schwerbehindertenrecht bezüglich der steuerlichen Vergünstigung und im Versorgungsrecht hinsichtlich der gleichlautenden Voraussetzungen für die Pflegezulage nach § 35 Bundesversorgungsgesetz entwickelt worden sind. Dabei hat sich der Gesetzgeber bewusst nicht an den Begriff der Pflegebedürftigkeit im Sinne der §§ 14, 15 SGB XI angelehnt, sodass kein vollständiger Gleichklang mit dem Recht der sozialen Pflegeversicherung besteht (vgl. zum Ganzen: BSG, Urteil vom 24.11.2005 – B 9a SB 1/05 R – juris Rn. 13 m.w.N.).

Bei den nach § 33b EStG zu berücksichtigenden Verrichtungen handelt es sich um solche, die im Ablauf eines jeden Tages unmittelbar zur Wartung, Pflege und Befriedigung wesentlicher Bedürfnisse des Betroffenen gehören sowie häufig und regelmäßig wiederkehren (BSG, Urteil vom 24.11.2005, a.a.O., juris Rn. 14). Dazu zählen zunächst die Bereiche der Grundpflege, also der Körperpflege (Waschen, Duschen, Baden, Zahnpflege, Kämmen, Rasieren, Darm- und Blasenentleerung), der Ernährung (mundgerechtes Zubereiten und Aufnahme der Nahrung) und der Mobilität (Aufstehen, Zu-Bett-Gehen, An- und Auskleiden, Gehen, Stehen, Treppensteigen, Verlassen und Wiederaufsuchen der Wohnung). Hinzu kommen Verrichtungen in den Bereichen der psychischen Erholung, geistigen Anregungen und der Kommunikation (hier insbesondere Sehen, Hören, Sprechen und Fähigkeit zu Interaktionen), während Verrichtungen im Bereich der hauswirtschaftlichen Versorgung nicht eingeschlossen sind (ständige Rechtsprechung des BSG, u.a. Urteil vom 24.11.2005, a.a.O., juris Rn. 15, m.w.N.).

Die in § 33b EStG vorausgesetzte Reihe von Verrichtungen kann regelmäßig erst dann angenommen werden, wenn es sich um mindestens drei Verrichtungen handelt, die einen Hilfebedarf in erheblichem Umfang erfordern (BSG, Urteil vom 24.11.2005, a.a.O., juris Rn. 16; bestätigt durch BSG, Beschluss vom 27.12.2018 – B 9 SB 5/18 BH – juris). Die Beurteilung der Erheblichkeit orientiert sich an dem Verhältnis der dem Betroffenen nur noch mit fremder Hilfe möglichen Verrichtungen zu denen, die er auch ohne fremde Hilfe bewältigen kann. In der Regel wird dabei auf die Zahl der Verrichtungen, den wirtschaftlichen Wert der Hilfe und den zeitlichen Aufwand abzustellen sein (BSG, Urteil vom 24.11.2005, a.a.O., juris Rn. 16). Bei der Anrechnung von Bereitschaftszeiten können dabei grundsätzlich nur solche Zeiten erfasst werden, die zeitlich und örtlich denselben Einsatz erfordern wie die körperliche Hilfe. Dies setzt voraus, dass eine entsprechende einsatzbereite Anwesenheit und Aufmerksamkeit aus gesundheitlichen Gründen notwendig ist (BSG, Urteil vom 12.02.2003 – B 9 SB 1/02 R –, juris Rn. 20).

In welchen Fällen regelmäßig von einem erheblichen Hilfebedarf bei einer Erkrankung eines Kindes bzw. Jugendlichen ausgegangen werden kann, wird wiederum in der VersMedV festgelegt. Nach Teil A Nr. 5 VG gelten insofern bei Kindern und Jugendlichen für die Beurteilung der Hilflosigkeit einige Besonderheiten.

Danach sind bei der Beurteilung der Hilflosigkeit bei Kindern und Jugendlichen nicht nur die bei der Hilflosigkeit genannten "Verrichtungen" zu beachten; auch die Anleitung zu diesen "Verrichtungen", die Förderung der körperlichen und geistigen Entwicklung (z.B. durch Anleitung im Gebrauch der Gliedmaßen oder durch Hilfen zum Erfassen der Umwelt und zum Erlernen der Sprache) sowie die notwendige Überwachung gehören zu den Hilfeleistungen, die für die Frage der Hilflosigkeit von Bedeutung sind (Teil A Nr. 5 lit. a VG). Stets ist nur der Teil der Hilfsbedürftigkeit zu berücksichtigen, der wegen der Behinderung den Umfang der Hilfsbedürftigkeit eines gesunden gleichaltrigen Kindes überschreitet; der Umfang der wegen der Behinderungen notwendigen zusätzlichen Hilfeleistungen muss erheblich sein (Teil A Nr. 5 lit. b VG). Die Besonderheiten des Kindesalters führen dazu, dass zwischen dem Ausmaß der Behinderung und dem Umfang der wegen der Behinderung erforderlichen Hilfeleistungen nicht immer eine Korrelation besteht, sodass – anders als bei Erwachsenen – auch schon bei niedrigerem GdB Hilflosigkeit vorliegen kann (Teil A Nr. 5 lit. c VG).

Bei einer Erkrankung an Mukoviszidose – wie im Fall der Klägerin – ist nach Teil A Nr. 5 lit. d sublit. ll VG bei der Notwendigkeit umfangreicher Betreuungsmaßnahmen – im Allgemeinen bis zur Vollendung des 16. Lebensjahres – Hilflosigkeit anzunehmen. Das ist immer der Fall bei Mukoviszidose, die für sich allein einen GdB von wenigstens 50 nach Teil B Nr. 15.5 VG bedingt. Während also bei einer bereits die Schwerbehinderung begründenden Mukoviszidose bis zur Vollendung des 16. Lebensjahres stets von der Notwendigkeit umfangreicher Betreuungsmaßnahmen auszugehen ist, kommt es bei einem GdB unter 50 auf die konkrete Feststellung des Umfangs der im Einzelfall notwendigen Betreuungsmaßnahmen an (zur Möglichkeit des Merkzeichens H bei Kindern und Jugendlichen mit einem mukoviszidosebedingten GdB von weniger als 50 vgl. die Darstellung der Beschlüsse des Sachverständigenbeirats bei Wendler/Schillings, Versorgungsmedizinische Grundsätze – Kommentar, 10. Aufl., Teil A Nr. 5 lit. d sublit. ll, S. 86; ferner AG der versorgungsmedizinisch tätigen Leitenden Ärztinnen und Ärzte der Länder und der Bundeswehr im März 2011, abgerufen aus einem „Arbeitskompendium der versorgungsmedizinisch tätigen Leitenden Ärztinnen und Ärzte der Länder und der Bundeswehr“ unter https://rp-giessen.hessen.de/sites/rp-giessen.hessen.de/files/2022-03/arbeitskompendium_band_i_12_2020.pdf).

In diesem Zusammenhang hat das BSG zwischen der für das Merkzeichen H maßgeblichen Grundpflege als Hilfestellung bei Verrichtungen des täglichen Lebens einerseits und der keine Verrichtungen des täglichen Lebens, sondern vielmehr die Behandlung einer Erkrankung betreffenden Behandlungspflege andererseits unterschieden (BSG, Urteile vom 29.08.1990 – 9a/9 RVs 7/89 und 9a/9 RVs 14/89 – juris). In den benannten Urteilen ging es zwar um eine Entziehung des zuvor zuerkannten Merkzeichens H bei Vollendung des 18. Lebensjahres. Das BSG hat aber zugleich ausgeführt, dass eine von den allgemeinen Grundsätzen abweichende Beurteilung bei gewissen Erkrankungen im Kindesalter in den damals für schwerbehinderungsrechtliche Feststellungen herangezogenen „Anhaltspunkten“ einer hinreichenden rechtlichen Grundlage entbehre (BSG, a.a.O.).

Der Sachverständigenbeirat hat mit Beschluss vom April 1991 (abgerufen aus dem oben genannten „Arbeitskompendium der versorgungsmedizinisch tätigen Leitenden Ärztinnen und Ärzte der Länder und der Bundeswehr“ unter https://rp-giessen.hessen.de/sites/rp-giessen.hessen.de/files/2022-03/arbeitskompendium_band_i_12_2020.pdf) auf diese Rechtsprechung reagiert und eine Änderung der „Anhaltspunkte“ vorgeschlagen, in welcher auf die Notwendigkeit umfangreicher Betreuungsmaßnahmen (z.B. ständige Überwachung hinsichtlich Bronchialdrainagen und Inhalationen, Anleitung und Überwachung der Nahrungsaufnahme, psychische Führung) für die Feststellung von Hilflosigkeit bis zur Vollendung des 16. Lebensjahres abgestellt wurde. Hinzu kommt, dass mittlerweile die Versorgungsmedizinischen Grundsätze in Form einer Verordnung – als Anlage zur VersMedV – geregelt sind. Sowohl die Verordnungsermächtigung in § 153 Abs. 2 SGB IX als auch der der VersMedV eigentlich zugrundeliegende § 30 Abs. 16 BVG benennen ausdrücklich als möglichen Regelungsgegenstand einer entsprechenden Rechtsverordnung u.a. auch die Kriterien für die Bewertung der Hilflosigkeit. Überdies sind nach § 33b Abs. 3 Satz 5 EStG die Voraussetzungen der Hilflosigkeit auch erfüllt, wenn die Hilfe in Form einer Überwachung oder einer Anleitung zu den entsprechenden Verrichtungen oder einer ständigen Bereitschaft zur Hilfeleistung erforderlich ist.

Selbst wenn man gleichwohl im vorliegenden Fall etwa die Anleitung zu täglichen Atemübungen, die wöchentliche professionelle Physiotherapie, die Anleitung zu Inhalationen und die Gabe von Medikamenten als nicht für das Merkzeichen H berücksichtigungsfähige Behandlungspflege einordnen wollte, sind bei der Klägerin durchaus Unterstützungsbedarfe auch in Verrichtungen des täglichen Lebens beschrieben, die behinderungsbedingt über den Hilfebedarf gesunder Gleichaltriger hinausgehen. So hat H1 bereits in ihrer Stellungnahme vom 20.07.2020 die Einhaltung besonderer Hygienevorschriften zur Verhinderung einer Keimbesiedelung der Lunge angegeben. Verrichtungen des täglichen Lebens sind dabei etwa insofern betroffen, als der Toilettengang zur Beurteilung der Stuhlkonsistenz und hinsichtlich des Schließens des Toilettendeckels vor Betätigung der Spülung zu beaufsichtigen ist sowie vor Benutzen des Waschbeckens für ½ Minute kaltes Wasser laufen zu lassen ist. Hinsichtlich der Nahrungsaufnahme ist auf die Einnahme hinreichend hochkalorischer Nahrung zu achten, weshalb etwa laut der sachverständigen Zeugenauskunft von H1 vom 23.12.2021 die Gabe spezieller Energy drinks empfohlen worden ist. Die Mutter der Klägerin hat darüber hinaus im Erörterungstermin vom 26.07.2024 erhebliche Schwierigkeiten bei einer Aufnahme der Klägerin in fremde Kinderbetreuung in Kindertagesstätte und Kindergarten beschrieben. Zudem hat sie wegen verstärkten Schwitzens gehäuftes Duschen und mehrmals tägliches Abwaschen der Klägerin am ganzen Körper mit einem antiseptischen Duschgel beschrieben. Im Hinblick auf die Nahrungsaufnahme hat sie wegen der diagnostizierten schweren Pankreasinsuffizienz neben einer neuerlichen Erhöhung der Kreon-Medikation in der 2. Jahreshälfte 2022 zusätzlich einen ständigen Überwachungsbedarf zur Bestimmung des Medikationsbedarfs bei jeglicher fetthaltigen Nahrungsaufnahme wie einem Schokoladenriegel, einem Glas Milch oder einem Kuchenstück mitgeteilt.

Insbesondere zur Beurteilung des für eine Zuerkennung des Merkzeichens H nach Teil A Nr. 5 lit. d sublit. ll VG erforderlichen Betreuungsaufwands im Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung vor dem SG am 27.07.2023 stellen die Einholung lediglich einer sachverständigen Zeugenauskunft der Leiterin der Mukoviszidose-Ambulanz des Universitätsklinikums F1 vom 23.12.2021 und die anschließende Beiziehung eines weiteren dortigen Verlaufsberichtes vom 17.02.2022 keine ausreichende Ermittlungsbasis für eine richterliche Überzeugungsbildung dar.

Der jüngste ärztliche Bericht ist im Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung bereits mehr als 1 Jahr und 5 Monate alt gewesen. Zwar ist darin wieder eine Gewichtszunahme der Klägerin nach vormals deutlichem Knick in der Perzentilenkurve im Verlauf des vorangegangenen Jahres beschrieben. Allerdings gab bereits der D1 in seinem Bericht vom 07.05.2020 gegenüber dem Landratsamt einen progredienten Erkrankungsverlauf an. Seitens H1 wurde bereits früher im Befundbericht vom 07.11.2019 bei Schwierigkeiten mit der Gewichtszunahme u.a. eine nochmalige Ernährungsberatung berichtet, woraufhin im Befundbericht vom 23.01.2020 wieder ein gutes Aufholen bei der Gewichtsentwicklung beschrieben wurde. Dies zeigt wiederkehrend einen wechselhaften Krankheitsverlauf, sodass für eine hinreichende Entscheidungsgrundlage des SG der weitere tatsächliche Erkrankungsverlauf der knapp 1,5 Jahre vor der mündlichen Verhandlung aufzuklären gewesen wäre. Hierfür spricht nicht zuletzt die von der Mutter der Klägerin im Erörterungstermin vom 26.07.2024 angegebene Verschlechterung der Situation etwa durch Erhöhung der Kreon-Medikation in der 2. Jahreshälfte 2022. Der – im Übrigen bereits in der Widerspruchsbegründung geschilderte – erhöhte Körperhygienebedarf und die besondere Überwachung bei der Nahrungsaufnahme wären im Hinblick auf ihre behinderungsbedingte Erforderlichkeit ärztlich zu validieren gewesen. Zudem kann bei einem Kleinkind – die Klägerin war im Februar 2022 knapp 3,5 Jahre alt – ein Zeitraum von knapp 1,5 Jahren bis zur mündlichen Verhandlung vor dem SG bereits mit einem erheblichen Unterschied in der Selbständigkeitsentwicklung einhergehen, was auch auf die Ausgestaltung der erforderlichen Hilfeleistungen durch Anleitung und Überwachung Einfluss haben kann. Im Übrigen wäre eine ergänzende Befragung des behandelnden Kinderarztes, die regelmäßig für die Beurteilung des Hilfebedarfs bei Verrichtungen des täglichen Lebens aufschlussreich sein kann, geboten gewesen. Zwar ist auf der Entbindungserklärung vom 01.07.2021 angegeben worden, Praxisbesuche seien vermieden worden. Es ist aber bereits damals zumindest noch ein Untersuchungskontakt im Januar 2021 und somit nach dem Bericht des D1 vom 07.05.2020 an das Landratsamt mitgeteilt worden. Zudem war in der 1. Jahreshälfte 2021 eine Zurückhaltung bei der Aufsuchung von Kinderarztpraxen aufgrund der Corona-Pandemie noch durchaus nachvollziehbar, was sich jedoch im Jahr 2023 angesichts der zwischenzeitlichen Entwicklung der Corona-Pandemie anders dargestellt hat. Bereits im Befundbericht der H1 vom 02.11.2021 ist etwa eine kinderärztliche Vorstellung wegen des damaligen oberen Luftwegsinfekts ausdrücklich empfohlen worden und auch der Prozessbevollmächtigte der Klägerin hat im Schriftsatz vom 31.03.2022 die Einholung einer Stellungnahme des D1 begehrt, da dieser sich aufgrund regelmäßiger Vorstellungen auch im Rahmen von Infekten zur gesundheitlichen Situation der Klägerin äußern könne.

Fehlt es somit in weitem Umfang an Ermittlungen, die zur Schaffung einer hinreichenden Entscheidungsgrundlage für eine richterliche Überzeugungsbildung durch das SG im Rahmen des § 103 SGG geboten gewesen wären, so folgt daraus zum einen, dass die angefochtene Entscheidung hierauf beruhen kann, und zum anderen, dass der Verfahrensmangel eine umfangreiche und aufwändige Beweisaufnahme erforderlich macht. Letzteres ist nach der Gesetzesbegründung (BT-Drucks. 17/6746, S. 27, zu Nummer 8) der Fall, wenn die Beweisaufnahme einen erheblichen Einsatz von personellen und sächlichen Mitteln erforderlich macht. Wie sich aus dem oben Gesagten ergibt, sind erhebliche Ermittlungen zur Aufklärung des medizinischen Sachverhalts u.a. bezüglich des weiteren Verlaufs der Mukoviszidoseerkrankung der Klägerin erforderlich. Zudem sind etwa der geschilderte erhöhte Körperhygienebedarf und die besondere Überwachung bei der Nahrungsaufnahme im Hinblick auf ihre behinderungsbedingte Erforderlichkeit – u.U. mittels eines Sachverständigengutachtens – ärztlich zu validieren, wobei auch zeitlicher Umfang und Bedeutung der Betreuungsmaßnahmen zu ermitteln sind.

Im Rahmen des von ihm bei der Entscheidung über die Zurückverweisung auszuübenden Ermessens hat der Senat das Interesse der Klägerin an einer möglichst zeitnahen Erledigung des Rechtsstreits gegenüber den Nachteilen durch den Verlust einer Tatsacheninstanz abgewogen und sich angesichts der Mängel der Sachverhaltsaufklärung durch das SG für eine Zurückverweisung entschieden. Hierbei hat er berücksichtigt, dass der Rechtsstreit noch weit von einer Entscheidungsreife entfernt ist, weshalb der Verlust einer Tatsacheninstanz, wie er wegen der vom SG unterlassenen Aufklärung eingetreten ist, besonders ins Gewicht fällt. Die Zurückverweisung stellt die dem gesetzlichen Modell entsprechenden zwei Tatsacheninstanzen wieder her. Zudem hat die Klägerseite selbst im Rahmen der Berufungsbegründung vom 21.07.2024 angegeben, dass angesichts schwerwiegender Verfahrensfehler des SG die Sache jedenfalls an dieses zurückzuverweisen sei. Auch der Grundsatz der Prozessökonomie führt nicht dazu, den Rechtsstreit bereits jetzt abschließend in der Berufungsinstanz zu behandeln. Denn das gesamte Verfahren vor dem Senat hat vom Eingang der Berufung am 29.01.2024 bis zum Tag der Zustellung des Urteils weniger als ein dreiviertel Jahr in Anspruch genommen. Es erscheint deshalb prozessökonomischer, dem SG zunächst Gelegenheit zur Aufklärung des Sachverhalts in rechtskonformer Weise zu geben.

Das SG wird in seiner künftigen Kostenentscheidung auch über die Kosten des Berufungsverfahrens zu befinden haben.

Gründe, die Revision zuzulassen (§ 160 Abs. 2 SGG), liegen nicht vor.

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