Merkzeichen B bei Erforderlichkeit von Begleitung in stark frequertierten Verkehrsmitteln

Das "regelmäßige" Angewiesensein auf das Mitfahren einer Begleitperson ist das nach dem Gesetz Entscheidende, nicht ein ständiges stetes Angewiesensein.  


Merkzechen B   regelmäßiges Angewiesensein auf Begleitperson


SG Düsseldorf 4. Kammer
  23.05.2019
  S 4 SB 1110/14
Juris


Tatbestand

Der Kläger begehrt von der Beklagten die Zuerkennung des Merkzeichens (Nachteilsausgleiches) "B".

Am 03.06.2011 beantragte der am 00.00.2003 geborene Kläger – vertreten durch seine Mutter U – die Feststellung eines GdB nach dem Sozialgesetzbuch (SGB) IX und die Zuerkennung der Merkzeichen B und H. Zur Begründung gab er eine Asperger-Erkrankung nebst ADHS an.

Die Beklagte zog ärztliche Unterlagen über den Kläger bei.

Mit Bescheid vom 19.10.2011 erklärte die Beklagte, dass ein (Gesamt-) GdB von 30 gegeben sei. Merkzeichen kämen mangels eines Schwerbehinderungsgrades von mindestens 50 nicht in Betracht.

Hiergegen erhob der Kläger Widerspruch.

Die Beklagte zog weitere medizinische Unterlagen und auch Schulzeugnisse des Klägers bei, sowie eine sozialpädagogische Stellungnahme zur Teilhabebeeinträchtigung und einen Hilfeplan nach dem SGB VIII, sowie Stellungnahmen des Integrationshelfers und der Klassenlehrerin des Klägers.

Mit Bescheid vom 03.04.2011 erklärte die Beklagte, dem Widerspruch insofern abzuhelfen, als sie nunmehr einen GdB von 50 zuerkenne und auch das Merkzeichen H, beides ab Antragstellung.

Mit Widerspruchsbescheid vom 16.05.2014 wies dann die Bezirksregierung als Widerspruchsbehörde der Beklagten im Übrigen den Widerspruch zurück, soweit sie nicht abgeholfen hatte.

Gegen den Widerspruchsbescheid hat der Kläger am 12.06.2014 Klage erhoben.

Der Kläger trägt zur Begründung vor, die vorliegenden Erkrankungen seien von der Beklagten nicht ausreichend berücksichtigt worden. Das vom Gericht eingeholte Gutachten der Kinderärztin und Chefärztin der T-Klinik bestätige seine Auffassung, dass Begleitung bei Bustransfers bzw. bei Nutzung sonstiger öffentlicher Verkehrsmittel notwendig sei. Ohne Begleitung könne er ferner den Rückweg nicht bzw. nicht immer ohne weiteres bewältigen. Die Zuerkennung des Merkzeichens B erfordere keinen GdB von mehr als 50.

Der Kläger beantragt,

die Beklagte unter Abänderung des Bescheides vom 03.04.2014 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 16.05.2014 zu verpflichten, ihm ab dem 03.06.2011 auch das Merkzeichen "B" zuzuerkennen.

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Die Beklagte hält die von ihr getroffene Entscheidung für zutreffend. Sie sei durch die gutachterlichen Feststellungen nicht schlüssig widerlegt worden. Die Notwendigkeit einer Begleitperson im Straßenverkehr bestreite sie, weil bei dem Kläger nicht das Vollbild eines Autismus vorliege; das Störungsbild sei weniger schwerwiegend, wie auch die Schulnoten bewiesen. Aus ihrer Sicht enthalte das Gutachten Plausibilitätsmängel. Bei einem GdB von weniger als 80 komme außerdem B nur in besonders gelagerten Einzelfällen in Betracht. Dazu nimmt die Beklagte insbesondere Bezug auf ihre Versorgungsmedizinischen Stellungnahmen vom 30.01.2018 und 17.09.2018, Blatt 127 f und 146 f der Gerichtsakte.

Das Gericht hat informatorisch gemäß §§ 103, 106 SGG einen Befundbericht des behandelnden Kinder- und Jugendpsychiaters A beigezogen.

Das Gericht hat gutachterlichen Beweis erhoben, § 106 Abs. 3 SGG, §§ 402 ff. ZPO. Es ließ dazu, im Wege des Sachverständigenbeweises, den Kläger begutachten durch die Chefärztin des Kinderneurologischen Zentrums E X, Fachärztin für Kindermedizin, Jugendmedizin und Neuropädiatrie.

Diese Sachverständige stellt folgende Diagnosen:

Asperger-Syndrom (ICD-10 F 84.5)

in Komorbidität mit

Aufmerksamkeitsdefizit/Hyperaktivitätsstörung (ADHS) (ICD- 10 F.90.1),

führend zu Verhaltens- und emotionalen Störungen mit sozialen Anpassungsschwierigkeiten.

Daraus ergäben sich – für die Bildung des Gesamt-GdB relevante – Einzel-GdB von 50 für die erste Diagnose (VMG 3.5.1) und 30 für die zweite Diagnose (VMG 3.5.2).

Es lägen vor also zwei Einzel-GdB von 50 und 30 im Funktionssystem "Nervensystem und Psyche".

Andere Funktionssysteme seien nicht betroffen, die Kurzsichtigkeit begründe auch nur einen Einzel-GdB von Null.

Insgesamt resultiere ein (Gesamt-) GdB von 60 aus allen festgestellten Beeinträchtigungen.

Die gesundheitlichen Voraussetzungen der VMG für das Merkzeichen B lägen ab Juni 2011 vor. Zur Begründung, weshalb die Voraussetzungen für B vorlägen, führt X aus:

Nach den gesetzlichen Vorschriften bzw. den VMG bzw. nach der Versorgungsmedizinverordnung sei erforderlich, dass Menschen infolge ihrer Behinderung regelmäßig auf fremde Hilfe bei der Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel angewiesen seien. Bei dem Kläger sei aktenkundig, unter anderem auch nach dem Verlaufsbericht der Schulbegleitung, dass bei ihm Verhaltensstörungen auftreten, wenn er in einem vollen Bus mit zahlreichen Mitschülern fahre. Er nutze auch die Straßenbahn. Mittags erfolge eine komplette Begleitung, da die mittags oft überfüllte Bahn mit einer Kombination aus Enge, fremden Menschen und Gedränge dem Kläger große Probleme und ein unbehagliches Gefühl bereite. Ohne Begleitung würde er nicht in eine volle Bahn einsteigen und so lange abwarten, bis eine leere Bahn käme. Nach der Schule sei der Kläger außerdem besonders häufig abgelenkt und unaufmerksam. Die Notwendigkeit einer weiteren Schulbegleitung sei gegeben und nachvollziehbar. Der Kläger könne nicht immer die Rückfahrt von der Schule in altersentsprechendem Maße absolvieren. Nicht erforderlich sei, wie die Beklagte argumentiere, dass das Merkzeichen B nur festgestellt werden dürfe bei ständigem Hilfebedarf, d. h. bei sämtlichen Fahrten mit öffentlichen Verkehrsmitteln. Entscheidend sei vielmehr ein "regelmäßiger" Bedarf, und davon müsse man aufgrund der bei dem Kläger immer wieder vorliegenden Orientierungsstörung und Verhaltensstörungen insbesondere beim Rückweg ausgehen.

Auf Rückfrage des Gerichts, zu den Einwänden der Beklagten, ist X bei ihrer Auffassung geblieben. Ergänzend führt sie aus, nicht die Verhaltensstörung durch die Komorbidität mit ADHS sei die Begründung für eine Orientierungsstörung sondern die Grunderkrankung Autismus. Dieses eigenständige Krankheitsbild beeinträchtige die Orientierung so sehr, dass der Kläger bei der Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel regelmäßig weiterhin noch auf fremde Hilfe angewiesen sei. Die enge Auffassung der Beklagten würde bedeuten, dass Menschen mit Autismus nahezu nie einen Anspruch auf das Merkzeichen B hätten. Insbesondere verkenne die Beklagte, dass die Orientierung nicht nur erfolge über Augen, Ohren oder Intelligenz; sie könne auch durch Fehlwahrnehmung bzw. Fehlverarbeitung beeinträchtigt sein, und genau das sei bei dem Kläger der Fall.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhaltes wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und der Verwaltungsakte der Beklagten verwiesen.


Entscheidungsgründe

Die Klage ist zulässig. Sie wurde insbesondere form- und fristgerecht erhoben.

Die Klage ist in der Sache auch begründet. Denn der angefochtene Bescheid vom 03.04.2014 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 16.05.2014 ist insofern rechtswidrig und verletzt die Rechte des Klägers, soweit die Beklagte damit nicht auch das Merkzeichen B zuerkannt hat, worauf der Kläger einen Anspruch hat. Die angefochtenen Bescheide waren deshalb dahingehend abzuändern (§§ 54 Abs. 2, Abs. 4 SGG).

Streitgegenstand ist, da der Kläger die Feststellung eines höheren (Gesamt-) GdB als 50 nicht verfolgt, ausschließlich, ob ihm das Merkzeichen B zusteht.

Ob das Merkzeichen B - also für Hinzuziehung einer Begleitperson - d. Kl. zusteht, richtet sich nach § 229 Abs. 2 und § 152 Abs. 1,4 SGB IX n.F. (ab 30.12.2016) und den im wesentlichen inhaltsgleichen § 146 Abs. 2 Satz 1 und § 69 Abs. 1, 4 SGB IX a.F.

Die für die Prüfung der Voraussetzungen für B maßgebliche spezielle Fragestellung (die in Punkt 4. der Beweisanordnung vom 29.08.2016 aufgeführt ist)

" Ist d. Kl. infolge seiner Behinderung ( also nicht allein aufgrund hohen oder kindlichen Alters ! ) , evtl. auch zur Vermeidung von Gefahren für sich oder andere, bei der Benutzung von öffentlichen Verkehrsmitteln regelmäßig auf fremde Hilfe angewiesen ? "

(vgl. Punkt D 2 (der zur VersMedV ergangenen) Versorgungsmedizinischen Grundsätze – VMG - , wobei auch zu beachten ist, ob er bei der Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel regelmäßig auf fremde Hilfe beim Zurücklegen von Wegen dorthin, beim Ein- und Aussteigen oder während der Fahrt der Verkehrsmittels angewiesen ist oder ob Hilfen zum Ausgleich von Orientierungsstörungen (z.B. bei Sehbehinderung, geistiger Behinderung) erforderlich sind)

hat die Sachverständige X überzeugend bejaht.

Das Gericht schließt sich insoweit vollumfänglich den Ausführungen der Sachverständigen X in ihrem Gutachten und auch in deren ergänzender Stellungnahme an. Nachvollziehbar und überzeugend hat die Sachverständige, aufgrund ihrer persönlichen Untersuchung und aufgrund des von ihr gewonnenen Eindrucks von dem Kläger, wie auch aufgrund der aktenkundigen Erkenntnisse, dargelegt, dass der Kläger - aufgrund des bei ihm vorliegenden Autismus in der bei ihm vorliegenden Ausprägungsform - zwar nicht immer stets auf eine Begleitperson angewiesen sein muss – zum Beispiel nicht in einer leeren Straßenbahn oder wenig frequentierten Straßenbahn - , doch dass er, wenn eine Bahn überfüllt oder von vielen Fahrgästen frequentiert ist, regelmäßig Verhaltensstörungen und Ängste zeigt, die es ihm dann unmöglich machen, ganz allein die Straßenbahn oder andere öffentliche Verkehrsmittel zu nutzen. Das "regelmäßige" Angewiesensein auf das Mitfahren einer Begleitperson ist aber das nach dem Gesetz, also nach dem aktuellen SGB IX Entscheidende, und nicht ein ständiges stetes Angewiesensein. Dass bei dem Kläger potenziell, insbesondere wenn Bahnen stark frequentiert sind, und weil das nicht voraussehbar ist, regelmäßig eine Begleitperson notwendig ist, begründet bereits die Regelmäßigkeit (vgl. Sozialgericht Augsburg vom 31.07.2014 – S 8 SB 301/13 zum Begriff der Regelmäßigkeit, in NZV 2015, 263 ff). Die bei dem Kläger vorliegenden Diagnosen mit den entsprechenden Funktionsstörungen begründen also die speziellen Voraussetzungen bzw. gesundheitlichen Voraussetzungen für das Merkzeichen B im Sinne des SGB IX, § 229 Abs. 2 n. F. und § 146 Abs. 2 a.F.

Das Merkzeichen B ist damit zuzuerkennen, da auch alle sonstigen Voraussetzungen des SGB IX (bzw. früher des Schwerbehindertengesetzes) vorliegen. Voraussetzung ist lediglich noch, dass zusätzlich auch die Voraussetzungen der Merkzeichen G, Gl oder H vorliegen (Bundessozialgericht Urteil vom 13.07.1988 – 9/9a RVs 14/87, fortwährend bestätigt durch die LSG – Rechtsprechung, u.a. Urteil des Bayr. LSG vom 28.07.2009 – L 15 SB 151/06 und Urteil des LSG Nds. vom 09.08.2012 – L 10 SB 10/12), und dass auch ein (Gesamt–) GdB von mindestens 50, also Schwerbehinderung, vorliegt (ebenso bereits das Bundessozialgericht Urteil vom 13.07.1988 – 9/9a RVs 14/87).

Unstreitig sind das Vorliegen der Voraussetzungen eines GdB von jedenfalls mindesten 50, und des Merkzeichens H; beides hat die Beklagte bereits mit dem Bescheid vom 03.4.2014 zuerkannt. Nicht zusätzlich vorliegen muss auch das Merkzeichen G, wie die vorzitierte Rechtsprechung bereits seit 1988 immer wieder entschieden hat; es reicht aus, wenn neben der Schwerbehinderung mit einem GdB von mindestens 50 daneben auch bereits das Merkzeichen "H" zuerkannt ist.

Dass auch ein Gesamt-GdB von mehr als 50, angeblich im Regelfall 80, vorliegen müsse, wie die Beklagte meint, vermag die Kammer nicht den gesetzlichen Vorschriften mit der zwingend erforderlichen Normenklarheit zu entnehmen. Insbesondere steht dazu nichts in den §§ 229 Abs. 2, 152 Abs. 1, 4 SGB IX neue Fassung oder § 146 Abs. 2 Satz 1 und § 69 Abs.1, 4 SGB IX alte Fassung. Soweit die Beklagte dies - wie auch manche Stimmen in der versorgungsmedizinischen Literatur oder auch untergesetzliche Verwaltungsvorschriften- quasi als ungeschriebene Tatbestandsvoraussetzung für B, im Wege der Auslegung ansehen will, so sieht die Kammer hierfür keine ausreichende Rechtsgrundlage, auch nicht durch Querverweise der Versorgungsmedizinverordnung bzw. der versorgungsmedizinischen Grundsätze. Außerdem widerspricht sich die Beklagte insofern selbst, wenn sie bei einem GdB von unter 80 das Merkzeichen B dann doch "in besonders gelagerten Einzelfällen" für zuerkennungsfähig hält (wie in der versorgungsmedizinischen Stellungnahme vom 30.01.2018).

Im Übrigen weist die Kammer darauf hin, dass die generellen Einwände der Beklagten gegen die Gutachterin X auch fachlich nicht zu überzeugen vermögen, denn bei allem Respekt vor der die Beklagte beratenden D ist festzuhalten, dass letztere nur Ärztin für Allgemeinmedizin ist, während die Gutachterin X eine erfahrene Gutachterin insbesondere auf dem Gebiet der Kinder- und Jugendmedizin ist, sogar mit der Fachbezeichnung Neuropädiatrie, was dem Krankheits – und Beschwerdebild des Klägers fachlich näher kommt als die Kompetenzen von D.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 Abs. 1, 4 SGG.



Versorungsmedizinische Grundsätze
in der Fassung der 5. Verordnung zur Änderung der Versorgungsmedizin-Verordnung