Merkzeichen B ständige Begleitung
Für die Notwendigkeit ständiger Begleitung reicht es aus, dass Gefahren möglich sind, sie brauchen weder mit Sicherheit einzutreten, noch wahrscheinlich zu sein.
Die Kammer geht dabei aufgrund eigener Erfahrungen davon aus, dass angesichts der hohen Auslastung der öffentlichen Verkehrsmittel sehr häufig nicht gewährleistet ist, dass ein Fahrgast noch vor dem Anfahren des Verkehrsmittels einen freien Sitzplatz erreichen kann. Es besteht dann – ebenso wie beim Aufsuchen des Ausgangs am Zielort – die Notwendigkeit zur Fortbewegung Innerhalb des fahrenden Busses oder Zuges. Häufig stehen dabei noch andere Fahrgäste im Gang des Verkehrsmittels, so dass ein zügiges und ungehindertes Voranschreiten unter Zuhilfenahme der Unterarmgehstützen und ein ausreichend sicheres Festhalten nicht möglich sind.  
Nach Begrenzung des Klagebegehrens im Termin zur mündlichen Verhandlung vom 09.12.2021 begehrt die Klägerin weiterhin die Feststellung eines Grades der Behinderung (GdB) von mindestens 80 sowie der gesundheitlichen Voraussetzungen für das Merkzeichen “B“.
Die im Jahre 1988 geborene Klägerin erlitt im Jahre 2006 als damals 17jährige Beifahrerin einen Verkehrsunfall, bei dem sie aus dem Fahrzeug geschleudert und schwer verletzt wurde.
Durch Bescheid vom 12.06.2013 stellte der damals zuständige Hochsauerlandkreis einen GdB von 50 sowie das Vorliegen der gesundheitlichen Voraussetzungen für das Merkzeichen “G“ fest. Dabei wurde als Funktionsbeeinträchtigung “Chronische Osteomyelitis rechter Unterschenkel, Beinverkürzung 1,5 cm, Muskelminderung des rechten Beckengürtels und rechten Beines, Hüftgelenksveränderung rechts, Schmerzsyndrom“ zugrunde gelegt.
Am 08.10.2018 stellte die Klägerin bei der Beklagten einen Änderungsantrag, mit dem sie unter Angabe einer Verschlimmerung ihres Gesundheitszustandes neben der Feststellung eines höheren GdB auch die Zuerkennung der Merkzeichen “B“ und “aG“ beantragte. Zur Begründung gab sie psychische Belastungsstörungen, Depressionen sowie dauerhafte Schmerzen bei Überlastung des linken Knies an und führte aus, dass sie dauerhaft auf Gehhilfen angewiesen sei.
Die Beklagte zog einen Entlassungsbericht der M. Klinik B. S. vom 10.01.2017 über eine stationäre Rehamaßnahme sowie einen Bericht des Psychologischen Psychotherapeuten R. vom 19.07.2017 über eine laufende ambulante Psychotherapie bei. Anschließend holte die Beklagte Befundberichte von dem Arzt für Orthopädie Dr. S. und dem Arzt für Neurologie und Psychiatrie Dr. B. ein. In einer hierzu auf Veranlassung der Beklagten erstatteten gutachtlichen Stellungnahme vom 14.112018 gelangte deren ärztlicher Berater Dr. P. zu der Einschätzung, dass neben der bisher berücksichtigten Funktionsbeeinträchtigung im Bereich der rechten unteren Extremität mit einem Einzel-GdB von 50 zusätzlich ein seelisches Leiden (Depression, Anpassungsstörung) mit einem Einzel-GdB von 30, ein rezidivierendes Lendenwirbelsäulensyndrom mit einem Einzel-GdB von 10 sowie Beinnervenstörungen mit einem Einzel-GdB von 10 zu berücksichtigen seien. Er gelangte zu der Einschätzung, dass der Gesamt-GdB 60 betrage und die gesundheitlichen Voraussetzungen für die Merkzeichen “B“ und “aG“ nicht vorlägen.
Unter Zugrundelegung des Ergebnisses der gutachtlichen Stellungnahme stellte die Beklagte sodann durch Bescheid vom 27.11.2018 einen GdB von 60 ab 08.10.2018 sowie das Nichtvorliegen der gesundheitlichen Voraussetzungen für die Merkzeichen “aG“ und “B“ fest.
Mit dem hiergegen erhobenen Widerspruch machte die Klägerin geltend, dass die bei ihr vorliegenden Beeinträchtigungen mit einem GdB von 60 zu niedrig bewertet worden seien. Sie leide an täglichen Schmerzen und sei dauerhaft auf den Gebrauch von Gehhilfen angewiesen. Des Weiteren benötige sie Hilfe beim Ein- und Aussteigen bei Auto- sowie Zugfahrten, Sie leide an täglichen starken Stimmungsschwankungen je nach Schmerzen und Situationen sowie einer depressiven Grundstimmung und Schlafstörungen mit Ein- und Durchschlafproblemen.
Zur weiteren Begründung ihres Widerspruchs legte die Klägerin ärztliche Bescheinigungen des Direktors der Chirurgischen Klinik B. Prof. Dr. M. vom 01.06.2006, des Arztes für Orthopädie Dr. S. vom 21.01.2019 und des Psychologischen Psychotherapeuten R. vom 05.02.2019 vor, auf deren Inhalt verwiesen wird.
In einer hierzu auf Veranlassung der Beklagten erstatteten gutachtlichen Stellungnahme vom 03.03.2019 gelangte deren ärztlicher Berater Dr. U. zu der Einschätzung, dass die bei der Klägerin vorliegenden Funktionsbeeinträchtigungen ausreichend gewürdigt und zutreffend bewertet worden seien. Die Gehfähigkeit sei nicht in ungewöhnlich hohem Maße eingeschränkt und ein regelmäßiges behinderungsbedingtes Angewiesen sein auf fremde Hilfe bei der Benutzung von öffentlichen Verkehrsmitteln liege nicht vor.
Durch Widerspruchsbescheid vom 15.03.2019 wies die Bezirksregierung Münster den Widerspruch der Klägerin sodann als unbegründet zurück.
Mit der hiergegen am 15.04.2019 erhobenen Klage trägt die Klägerin unter Vorlage eines Entlassungsberichts der Klinik B., Abteilung für Orthopädische Schmerztherapie, vom 06.12.2019 sowie einer ärztlichen Verordnung eines Rollstuhls vom 08.01.2020 zur Begründung im Wesentlichen vor:
Infolge der bei dem Verkehrsunfall im Jahr 2006 erlittenen Verletzungen sei es ihr bis heute nicht möglich, sich schmerzfrei fortzubewegen; die Fortbewegung erfolge mittels Gehhilfen. Trotz der Inanspruchnahme von Gehhilfen sei sie ständig auf fremde Hilfe angewiesen. Bei der rudimentär vorhandenen Gehfähigkeit sei die Bewertung des GdB durch die Beklagte zu gering. Des Weiteren seien ihrer Auffassung nach die Voraussetzungen für die Merkzeichen “B“ und “aG“ erfüllt.
Im Termin zur mündlichen Verhandlung vom 09.12.2021 hat die Klägerin die Klage hinsichtlich des Merkzeichens “aG“ zurückgenommen und ihr Klagebegehren auf die Feststellung eines GdB von mindestens 80 sowie der gesundheitlichen Voraussetzungen für das Merkzeichen “B“ begrenzt.
Die Klägerin beantragt,
die Beklagte unter entsprechender Aufhebung des Bescheides vom 27.11.2018 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 15.03.2019 zu verurteilen; bei ihr ab 08.10.2018 einen Grad der Behinderung von mindestens 80 sowie die gesundheitlichen Voraussetzungen für das Merkzeichen “B“ festzustellen.
Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Sie vertritt nach gerichtlicher Beweisaufnahme unter Bezugnahme auf eine versorgungsärztliche Stellungnahme ihrer ärztlichen Beraterin Frau S. vom 09.06.2021 des Auffassung, dass der Gesamt-GdB 70 betrage und die Voraussetzungen für das Merkzeichen “B“ nicht vorlägen.
Ein von der Beklagten zur Beendigung des Klageverfahrens unterbreitetes Vergleichsangebot vom 15.06.2021 mit dem Inhalt, ab dem 08.10.2018 einen GdB von 70 festzustellen, hat die Klägerin nicht angenommen.
Das Gericht hat Befundberichte eingeholt von dem Arzt für Neurologie und Psychiatrie Dr. B., dem Psychologischen Psychotherapeuten R., dem Arzt für Allgemeinmedizin und Hausarzt Dr. M. sowie dem Arzt für Orthopädie Dr. S.. Auf den Inhalt der Befundberichte sowie der beigefügten ärztlichen Berichte wird verwiesen.
Sodann hat das Gericht Beweis erhoben durch Einholung eines Gutachtens von dem Sachverständigen Dr. H. (Arzt für Neurologie, Psychiatrie, Sozialmedizin) vom 28.04.2021 und eines Zusatzgutachtens von der Sachverständigen Frau Dr. G. (Ärztin für Orthopädie) vom 16.02.2021. Die Sachverständige Frau Dr. G. hat für ihr Fachgebiet für den Funktionsbereich der unteren Extremitäten eine “Erhebliche Minderbelastbarkeit des rechten Beines bei Zustand nach komplikationsbehafteten Unfallfolgen mit insbesondere Entwicklung einer Osteomyelitis des rechten Unterschenkels, ohne Wiederaufflammen des knöchernen Entzündungsgeschehens seit 2009, mit Funktionsbeeinträchtigung des Hüft- und Kniegelenkes sowie des oberen und unteren Sprunggelenkes, mit der nachzuvollziehenden Notwendigkeit der Nutzung zweier Unterarmgehstützen“ mit einem Einzel-GdB von 70 und einen “Wirbelsäulenschaden mit funktionell leichtgradigen Auswirkungen im Lendenwirbelsäulenbereich“ mit einem Einzel-GdB von 10 festgestellt. Hinsichtlich des zunächst noch streitigen Merkzeichens „aG“ hat sie den mobilitätsbezogenen GdB mit 70 bewertet und ist hinsichtlich des Gehvermögens der Klägerin zu der Einschätzung gelangt, dass diese unter Zuhilfenahme von Unterarmgehstützen bei ausreichend sicherem Gangbild in der Lage sei, Wegstrecken von bis zu 500 Metern zurückzulegen, Hinsichtlich des Merkzeichens “B“ hat die Sachverständige ausgeführt, dass die Klägerin bei der Benutzung von öffentlichen Verkehrsmitteln beim Ein- und Aussteigen dann auf fremde Hilfe angewiesen sei, wenn es sich dabei nicht um einen ebenerdigen stufenlosen Zugang handele, wie beispielsweise bei einem Niederflurwagen. Der Sachverständige Dr.H. hat für sein Fachgebiet ein seelisches Leiden im Sinne einer Depression sowie ein chronisches Schmerz-Syndrom (anhaltende somatoforme Schmerzstörung, Spannungskopfschmerzen) mit einem Einzel-GdB von 30 bewertet und sich der von der Sachverständigen Frau Dr. G. vorgenommenen Bewertung der Minderbelastbarkeit. des rechten Beines mit einem Einzel-GdB von 70 aus neurologisch-sozialmedizinischer Sicht angeschlossen. Er hat hierzu ausgeführt, dass diese Beurteilung aufgrund der Parese, der Sensibilitätsstörungen, der Deformität und der Muskelauffälligkeiten und den erheblichen Auswirkungen auf die Funktion des Beines sachgerecht erscheine. In der Gesamtschau hat der Sachverständige Dr. H. unter Berücksichtigung des orthopädischen Zusatzgutachtens einen Gesamt-GdB von 80 für angemessen erachtet. Hinsichtlich der Beweisfragen zu den Merkzeichen „“B“ und „aG“ hat der Sachverständige Dr. H. ausgeführt, dass die hierfür relevanten Beeinträchtigungen aus den orthopädischen Einschränkungen resultierten, so dass er hierzu auf das Gutachten der Sachverständigen Frau Dr. G. verweise.
Wegen aller weiteren Einzelheiten wird auf den Inhalt der Gutachten der Sachverständigen Frau Dr. G. und Dr. H. verwiesen.
Die Kammer hat die Klägerin im Termin zur mündlichen Verhandlung vom 09.12.2021 zur Nutzung öffentlicher Verkehrsmittel persönlich gehört, Wegen ihrer Angaben wird auf den Inhalt der Sitzungsniederschrift vom 09.12.2021 Bezug genommen.
Wegen aller weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakten und der beigezogenen Verwaltungsakten der Beklagten, die Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen sind, Bezug genommen.
Die zulässige Klage ist begründet.
Die Klägerin ist durch den angefochtenen Bescheid vom 27.11.2018 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 15.03.2019 beschwert im Sinne des § 54 Abs. 2 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG), weil dieser insoweit rechtswidrig ist, als die Feststellung eines GdB von 80 sowie der gesundheitlichen Voraussetzungen für das Merkzeichen „“B“ abgelehnt wurde.
Die Klägerin hat nach Auffassung der Kammer für den Zeitraum ab Stellung des Änderungsantrags (08.10.2018) einen Anspruch auf Feststellung eines GdB von 80.
Nach § 48 Abs. 1 SGB X ist ein Verwaltungsakt mit Dauerwirkung mit Wirkung für die Zukunft aufzuheben, soweit in den tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnissen, die bei seinem Erlass vorgelegen haben, eine wesentliche Änderung eingetreten ist. Gegenüber den Verhältnissen, die dem Bescheid vom 12.06.2013 zugrunde gelegen haben, ist eine wesentliche Veränderung im Sinne des § 48 Abs. 1 SGB X wegen einer Verschlimmerung der Funktionsbeeinträchtigung im Bereich der rechten unteren Extremität sowie wegen Hinzutritts eines psychischen Leidens eingetreten.
Die Kammer ist unter Zugrundelegung der von den Sachverständigen Dr. H. und Frau Dr. G. erstatteten Gutachten zu der Überzeugung gelangt, dass die bei der Klägerin vorliegenden Funktionsbeeinträchtigungen nach ihren Auswirkungen in ihrer Gesamtheit ab 08.10.2018 einen Gesamt-GdB von 80 rechtfertigen.
Nach § 2 Abs. 1 S. 1 SGB IX sind Menschen mit Behinderungen Menschen, die körperliche, seelische, geistige oder Sinnesbeeinträchtigungen haben, die sie in Wechselwirkung mit einstellungs- und umweltbedingten Barrieren an der gleichberechtigten Teilhabe an der Gesellschaft mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als 6 Monate hindern können. Liegen mehrere Beeinträchtigungen der Teilhabe am Leben in der Gesellschaft vor, so wird nach § 152 Abs. 3 SGB IX der Grad der Behinderung nach den Auswirkungen der Beeinträchtigungen in ihrer Gesamtheit unter Berücksichtigung ihrer Wechselseitigen Beziehungen festgestellt. Zur Ermittlung eines Gesamt-GdB ist in diesem Fall zunächst für jede einzelne Funktionsstörung ein Einzel-GdB zu bilden. Bei der Feststellung des GdB ist gemäß § 153 Abs. 2 SGB IX seit dem 01.01.2009 die vom Bundesministerium für Arbeit und Soziales im Einvernehmen mit dem Bundesministerium der Verteidigung nach § 30 Abs. 16 Bundesversorgungsgesetz erlassene Anlage zu § 2 der Versorgungsmedizin-Verordnung vom 10.12.2008 (VmG) zu beachten.
Der Gesundheitszustand der Klägerin wird vorrangig durch die im Vordergrund stehende Funktionsbeeinträchtigung der rechten unteren Extremität beeinträchtigt, für die unter Zugrundelegung der von der Sachverständigen Frau Dr. G. für das orthopädische Fachgebiet erhobenen Befunde und der von dem Sachverständigen Dr. H. erhobenen neurologischen Befunde nach Auffassung der Kammer ein GdB von 70 in Ansatz zu bringen ist. Nach den Darlegungen der Sachverständigen Frau Dr. G. besteht eine deutliche Minderbelastbarkeit des gesamten rechten Beines mit Funktionsbeeinträchtigung des rechten Hüft- und Kniegelenkes sowie des rechten oberen und unteren Sprunggelenkes. Zusätzlich waren bei der Untersuchung durch den Sachverständigen Dr. H. eine allgemeine Schwäche und Sensibilitätsstörungen festzustellen, Nach der für die Kammer nachvollziehbar und plausibel vorgenommenen Bewertung der Sachverständigen Frau Dr. G., der sich der Sachverständige Dr. H. ausdrücklich angeschlossen hat, wird die Klägerin durch die Funktionsbeeinträchtigung im Bereich der rechten unteren Extremität vergleichbar behindert wie ein Betroffener, der einen Verlust eines Beines im Oberschenkel erlitten hat, für den nach Teil B Ziff. 18.14 VmG ein Einzel-GdB von 70 in Ansatz zu bringen ist. Die entgegenstehende lediglich nach Aktenlage vorgenommene Bewertung durch Frau S. in der versorgungsärztlichen Stellungnahme vom 09.06.2021 vermochte die Kammer nicht zu überzeugen. Soweit durch die ärztliche Beraterin der Beklagten kritisch angemerkt wird, dass eine ständige Entlastung des rechten Beines nicht notwendig, vielmehr das freie Gehen – eingeschränkt - möglich sei, ist jedoch zur Überzeugung der Kammer unter Berücksichtigung des von den Sachverständigen Frau Dr. G. und Dr. H. beschriebenen Gangbildes ein freies Gehen im Ablauf des täglichen Lebens nur sehr unsicher und sturzgefährdet möglich und somit nicht zumutbar; Nach den Feststellungen der Sachverständigen war das Gangbild sehr kleinschrittig und unsicher wirkend mit deutlich rechts verkürzter Standbeinphase. Die Klägerin zeigte nur unter Zuhilfenahme von Unterarmgehstützen ein langsames aber genügend sicheres und ausreichend stabiles Gangbild. Nach den Feststellungen der Sachverständigen. Frau Dr. G. besteht eine nachzuvollziehende Notwendigkeit der Nutzung zweier Unterarmgehstützen beim Gehen. Vor diesem Hintergrund hält die Kammer die von den Sachverständigen vorgenommene Bewertung der Funktionsbeeinträchtigung des rechten Beines in Analogie zu einem Verlust eines Beines im Oberschenkel für zutreffend und angemessen.
Zusätzlich leidet die Klägerin im Bereich der Haltungs- und Bewegungsorgane an einer endgradig schmerzhaften Bewegungsbeeinträchtigung der Lendenwirbelsäule, ohne akute Nervenwurzelreiz- oder Ausfallerscheinungen. Die lediglich geringgradige Funktionsbeeinträchtigung ist zur Überzeugung der Kammer in Übereinstimmung mit der Auffassung der Sachverständigen Frau Dr. G. nach Teil B Ziff. 18.9 VmG als Wirbelsäulenschaden mit geringen funktionellen Auswirkungen in einem Wirbelsäulenabschnitt mit einem Einzel-GdB von 10 zu bewerten. Daneben wird der Gesundheitszustand der Klägerin durch ein psychisches Leiden beeinträchtigt. Nach den Feststellungen des Sachverständigen Dr. H. handelt es sich dabei um eine rezidivierende depressive Störung bei aktuell leicht- bis mittelgradiger Episode sowie eine anhaltende somatoforme Schmerzstörung. Bei der Untersuchung durch den Sachverständigen zeigten sich eine leichte Minderung des Antriebs und eine depressiv gefärbte Grundstimmung sowie eine ängstliche Verunsicherung. Nach Einschätzung des Sachverständigen handelt es sich um eine relevante, d. h. behandlungsbedürftige depressive Erkrankung. Neben der Einnahme eines medikamentösen Antidepressivums befindet sich die Klägerin in regelmäßiger psychotherapeutischer Behandlung bei dem Psychologischen Psychotherapeuten Herrn R.. Die Gespräche erfolgen den Angaben der Klägerin zufolge einmal im Monat und geben ihr viel Halt. Des Weiteren wird die Klägerin durch eine chronische Schmerzkrankheit aufgrund körperlicher und psychischer Faktoren beeinträchtigt. Die Klägerin klagt über starke Schmerzen im rechten Bein sowie über weitere Schmerzen im Rücken, an der rechten Hüfte, und über wiederholt auftretende Kopfschmerzen. Hinsichtlich der chronifizierten Schmerzsymptomatik erfolgt eine schmerztherapeutische Behandlung in der Klinik B., wobei durch den behandelnden Arzt zwischenzeitlich gegen die Schmerzen ein Cannabis-Präparat verordnet worden ist. Nach Teil B Ziff. 3.7 VmG sind leichte psychovegetative oder psychische Störungen mit einem GdB von 0 bis 20 zu bewerten; bei stärker behindernden Störungen mit wesentlicher Einschränkung der Erlebnis- und Gestaltungsfähigkeit beträgt der GdB 30 bis 40. Die Kammer schließt sich der Einschätzung des Sachverständigen Dr. H. an, wonach sich aus der psychischen Symptomatik im Sinne einer Depression und der chronifizierten Schmerzsymptomatik eine komplexe Symptomatik ergib, die zu einer Einschränkung der Erlebnis- und Gestaltungsfähigkeit führt. Die Klägerin leidet an Schlafstörungen, fühlt sich tagsüber müde und ausgelaugt und hat sich von ihrem sozialen Umfeld zurückgezogen. Die Tagesstrukturierung ist aufgrund der mangelnden Schlafqualität insoweit beeinträchtigt, als die Klägerin zu sehr unregelmäßigen Zeiten aufsteht. Nach eigener Schilderung vermag die Klägerin im Haushalt nur eine geringe Anzahl von Tätigkeiten zu verrichten (z. B. das Falten von Wäsche, Bügeln im Sitzen oder die Erledigung von Kleinigkeiten in der Küche), während die anderen Haushaltsarbeiten von ihrem Freund erledigt werden. Hierbei geht die Kammer davon aus, dass die angegebenen Einschränkungen bei Haushaltstätigkeiten nicht vorrangig auf das psychische Leiden, sondern vielmehr auf die erhebliche Einschränkung der Mobilität aufgrund der Funktionsbeeinträchtigung des rechten Beines zurückzuführen sind. Wegen der aufgrund des psychischen Leidens lediglich leichtgradig eingeschränkten Tagesstruktur hält die Kammer in Übereinstimmung mit der Auffassung des Sachverständigen Dr. H. einen Einzel-GdB von 30 für angemessen.
Unter Zugrundelegung der festgestellten Einzelgrade für die bei der Klägerin vorliegenden Funktionsbeeinträchtigungen hält die Kammer in Übereinstimmung mit dem Vorschlag des Sachverständigen Dr. H. einen Gesamt-GdB von 80 für zutreffend und angemessen. Bei der Bemessung des Gesamt-GdB ist in der Regel von der Funktionsbeeinträchtigung auszugehen, die den höchsten Einzel-GdB bedingt, und dann im Hinblick auf alle weiteren Funktionsbeeinträchtigungen zu prüfen, ob und inwieweit hierdurch das Ausmaß der Behinderung größer wird,(vgl. Teil A Ziff. 3 c) VmG). Insoweit ist zu berücksichtigen, ob sich die Auswirkungen einzelner Funktionsstörungen gegenseitig verstärken, sich überschneiden oder auch gänzlich voneinander unabhängig sind, Grundsätzlich führen leichte Gesundheitsstörungen mit einem Einzel-GdB von 10 nicht zu einer Zunahme des Ausmaßes der Gesamtbehinderung (vgl. Teil A Ziff, 3 d) ee) VmG). Bei der Bildung des Gesamt-GdB von 80 hat sich die Kammer von folgenden Erwägungen leiten lassen:
Ausgehend von der Funktionsbeeinträchtigung im Bereich der rechten unteren Extremität mit einem Einzel-GdB von 70 ist das psychische Leiden mit einem Einzel-GdB von 30 erhöhend zu berücksichtigen, da die Klägerin hierdurch zusätzlich in einem weiteren Lebensbereich betroffen wird. Durch die Beeinträchtigungen am rechten Bein werden die selbstbestimmte Lebensführung und vor allem die Mobilität beeinträchtigt. Durch die psychische Symptomatik und die chronischen Schmerzen ergeben sich zusätzlich Einschränkungen im sozialen Anpassungsvermögen mit einem allgemeinen sozialen Rückzug. Die daneben vorliegende leichte Funktionsbeeinträchtigung im Bereich der Wirbelsäule mit einem Einzel-GdB von 10 führt nicht zu einer Zunahme des Ausmaßes der Gesamtbehinderung.
Des Weiteren liegen auch die Voraussetzungen für die Zuerkennung des Merkzeichens “B“ bei der Klägerin vor.
Nach § 229 Abs. 2 SGB IX sind zur Mitnahme einer Begleitperson schwerbehinderte Menschen berechtigt, die bei der Benutzung von öffentlichen Verkehrsmitteln infolge ihrer Behinderung regelmäßig auf Hilfe angewiesen sind. Nach Teil D Ziff, 2.b) VmG ist dementsprechend zu beachten, ob sie bei der Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel regelmäßig auf fremde Hilfe beim Ein- und Aussteigen oder während der Fahrt des Verkehrsmittels angewiesen sind oder ob Hilfen zum Ausgleich von Orientierungsstörungen (z. B. bei Sehbehinderung, geistiger Behinderung) erforderlich sind.
Dabei ist von einem weitgehenden Gefahrenbegriff auszugehen. Für die Notwendigkeit ständiger Begleitung reicht es aus, dass Gefahren möglich sind, sie brauchen weder mit Sicherheit einzutreten, noch wahrscheinlich zu sein (vgl. Bayrisches LSG, Urteil vom 26.09.2001, Az.: L 18 SB 117/00, juris). Die Sachverständige Frau Dr. G. hat hierzu nachvollziehbar ausgeführt, dass die Klägerin bei der Benutzung von öffentlichen Verkehrsmitteln beim Ein- und Aussteigen nur dann auf fremde Hilfe angewiesen ist, wenn kein ebenerdiger stufenloser Zugang – wie beispielsweise bei einem Niederflurwagen – vorhanden ist. Denn angesichts einer auch bereits im Jahr 2018 (Jahr der Antragstellung) verbreiteten Barrierefreiheit im öffentlichen Nahverkehr kann nicht positiv festgestellt werden, dass regelmäßig bei der Nutzung öffentlicher Verkehrsmittel Stufen zu überwinden sind (vgl. LSG NRW, Urteil vom 13.03.2020, Az.: L 13 SB 115/18; juris, wonach auch bereits für das Jahr 2011 von einem regelmäßigen Vorhandensein von Stufen beim Zugang zu öffentlichen Verkehrsmitteln ausgegangen werden kann). Soweit die Klägerin hierzu vorgetragen hat, dass bei den von ihr genutzten Busverbindungen zwar häufig der Eingangsbereich des Busses abgesenkt sei, aber dennoch wegen fehlender Anpassung des Bürgersteiges ein von ihr nicht zu bewältigender Höhenunterschied beim Einsteigen überwunden werden müsse, sind die konkreten Verhältnisse am Wohnort der Klägerin nicht maßgeblich. Für die Frage, ob regelmäßig beim Ein- und Aussteigen Hilfe durch eine Begleitperson erforderlich ist, ist vielmehr ein genereller Maßstab anzulegen, sodass auf eine weitgehende Barrierefreiheit im öffentlichen Nahverkehr abzustellen ist.
Unabhängig davon ist die Klägerin aber zur Überzeugung der Kammer regelmäßig auf fremde Hilfe während der Fahrt des Verkehrsmittels angewiesen. Da die Klägerin aufgrund der erheblichen Gebrauchsminderung des rechten Beines nach Feststellung der Sachverständigen Dr. H. und Frau Dr. G. regelmäßig auf zwei Unterarmstützen zur Fortbewegung angewiesen ist, kann sie sich in einem fahrenden Bus oder Zug auf dem Weg zu einem freien Sitzplatz bzw. auf dem Weg zum Ausgang nicht ausreichend sicher festhalten. Die Klägerin hat hierzu im Termin zur mündlichen Verhandlung glaubhaft und nachvollziehbar geschildert, dass sie in einem fahrenden Verkehrsmittel im Stand unstabil sei und sich zur Vermeidung eines Sturzes nicht immer ausreichend sicher festhalten könne.
Die Kammer geht dabei aufgrund eigener Erfahrungen davon aus, dass angesichts der hohen Auslastung der öffentlichen Verkehrsmittel sehr häufig nicht gewährleistet ist, dass ein Fahrgast noch vor dem Anfahren des Verkehrsmittels einen freien Sitzplatz erreichen kann. Es besteht dann – ebenso wie beim Aufsuchen des Ausgangs am Zielort – die Notwendigkeit zur Fortbewegung Innerhalb des fahrenden Busses oder Zuges. Häufig stehen dabei noch andere Fahrgäste im Gang des Verkehrsmittels, so dass ein zügiges und ungehindertes Voranschreiten unter Zuhilfenahme der Unterarmgehstützen und ein ausreichend sicheres Festhalten nicht möglich sind. Die Klägerin ist deshalb bei der Fahrt des Verkehrsmittels regelmäßig auf fremde Hilfe angewiesen (vgl. hierzu auch Wendler/Schillings, VmG, 10 Auflage, S. 473). Da im Hinblick auf die Auslastung der öffentlichen Verkehrsmittel jederzeit und nicht vorhersehbar eine Fortbewegung beim fahrenden Verkehrsmittel erforderlich sein kann, besteht zur Überzeugung der Kammer auch eine dauerhafte Gefahrensituation, die eine ständige Begleitperson bei der Benutzung von öffentlichen Verkehrsmitteln erforderlich macht.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SOG und entspricht dem Verhältnis des Obsiegens zum Unterliegen. Hierbei war zu berücksichtigen, dass die Klägerin mit ihrer Klage zunächst auch das Merkzeichen „aG“ angestrebt hat und die Klage diesbezüglich zu keinem Erfolg geführt hat.