GdB bei Salzverlustsyndrom


Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen 9. Senat
03.05.2006
L 9 SB 45/03
Juris



Leitsatz

1. Das adrenogenitale Syndrom - AGS - wird in seiner Verlaufsform als AGS mit Salzverlustsyndrom von geschlechtsspezifisch unterschiedlichen Funktionseinschränkungen begleitet, die bis zur Vollendung des 18. Lebensjahres bei männlichen Kindern und Jugendlichen in der Regel die Feststellung eines Grades der Behinderung - GdB - nach dem SGB 9 von 60, bei weiblichen Kindern und Jugendlichen eines solchen von 70 und bei Hinzutreten von Fehlbildungen der äußeren weiblichen Genitalien von 80 erfordern.

2. Daneben haben Kinder und Jugendliche bei AGS mit Salzverlustsyndrom bis zur Vollendung des 18. Lebensjahres Anspruch auf Zuerkennung des Merkzeichens H.

3. Die schwerbehindertenrechtlich gebotenen Feststellungen bei AGS mit Salzverlustsyndrom ergeben sich aus der Anwendung des Gleichbehandlungs- sowie des Differenzierungsgebotes aus Art 3 Abs 1 GG auf die nach Ziffern 26.15 und 22 Abs 4 Buchst k der Anhaltspunkte für jugendliche Diabetiker anzuwendenden Bestimmungen. Darauf, ob Ziff 22 Abs 4 Buchst k der Anhaltspunkte geringere Anforderungen an die Zuerkennung des Merkzeichens H stellt als § 33b EStG, kommt es hierbei nicht an, solange die Anhaltspunkte die Verwaltungspraxis bestimmen und auf der Grundlage von Ziff 2 Abs 4 Buchst k der Anhaltspunkte erfolgte Feststellungen des Merkzeichens H bei Diabetikern nicht als rechtswidrig gelten (Anschluss an BSG vom 29.8.1990 - 9a/9 RVs 7/89 = BSGE 67, 204 = SozR 3-3870 § 4 Nr 1).


Tenor

Das Urteil des Sozialgerichtes Hannover vom 19. Februar 2003 wird aufgehoben und der Bescheid des Versorgungsamtes Hannover vom 2. März 2000 in der Gestalt des Teilabhilfebescheides vom 13. Juli 2000 sowie des Widerspruchsbescheides des Landesversorgungsamtes Niedersachsen vom 20. März 2001 wird abgeändert.

Der Beklagte wird verurteilt, bei der Klägerin einen Grad der Behinderung von 80 sowie die Voraussetzungen des Nachteilsausgleichs „Hilflosigkeit“ (Merkzeichen H) ab Antragstellung festzustellen.

Der Beklagte hat die außergerichtlichen Kosten der Klägerin beider Instanzen zu tragen.


Tatbestand

Die Beteiligten streiten im Erstfeststellungsverfahren über die Höhe des bei der Berufungsklägerin festzustellenden Behinderungsgrades sowie die Zuerkennung des Merkzeichens „H“.

Die Berufungsklägerin leidet seit ihrer Geburt am 10. Mai 1999 an einem adrenogenitalen Syndrom (AGS) in der Form eines adrenogenitalen Salzverlustsyndroms. Bei den adrenogenitalen Syndromen handelt es sich um eine erbliche Enzymopathie infolge einer gestörten Steroidbiosynthese mit vermehrter Bildung von Androgenen in der Nebennierenrinde. Beim adrenogenitalen Salzverlustsyndrom kommt eine Störung der Mineralkortikoidsynthese hinzu (vgl. zu alledem Pschyrembel, Med. Lexikon, zum Stichwort AGS). Zwischen den Verfahrensbeteiligten ist insoweit in tatsächlicher Hinsicht im Wesentlichen streitig, welchen Beaufsichtigungs- und Betreuungsaufwand die erforderliche Dauermedikation bei adrenogenitalem Salzverlustsyndrom verursacht und wie hoch die konkrete Gefahr einer Stoffwechselentgleisung zu veranschlagen ist.

Bei der Berufungsklägerin wegen ihres AGS einen Behinderungsgrad festzustellen, lehnte das Versorgungsamt Hannover auf Erstantrag vom 06. Juli 1999 mit Bescheid vom 02. März 2000 zunächst vollständig ab. Dieser Entscheidung lag eine beratungsärztliche Stellungnahme des Internisten Dr. F. vom 26. August 1999 zugrunde, nach der es sich um eine behandelbare Erkrankung handele, die im Alter von unter einem Jahr keinen Behinderungsgrad und keine Nachteilsausgleiche begründe. Den unter Hinweis auf die erforderliche Substitutionstherapie mit über den Tag verteilten Hormongaben erhobenen Widerspruch nahm das Versorgungsamt Hannover entgegen einer weiterhin ablehnenden Stellungnahme des Dr. G. vom 29. April 2000 nach Einholung einer weiteren Stellungnahme des Dr. H. vom 29. Mai 2000 zum Anlass, mit Teilabhilfebescheid vom 13. Juli 2000 für die Zeit ab 06. Juli 1999 (Antragstellung) einen GdB von 30 ohne weitere Merkzeichen festzustellen.

Dagegen erhob die Berufungsklägerin am 25. Juli 2000 erneut Widerspruch, auf den hin das Landesversorgungsamt zwei beratungsärztliche Stellungnahmen des Dr. I. vom 30. September 2000 und vom 26. Februar 2001 einholte. Während Dr. I. die mit Teilabhilfebescheid vom 13. Juli 2000 getroffene Entscheidung (GdB 30 ohne Merkzeichen) unter Hinweis auf Vergleichsfälle zunächst für zutreffend hielt, hielt er in seiner zweiten Stellungnahme einen GdB von wenigstens 20 nicht mehr für gegeben. Aufgrund einer Stellungnahme des leitenden Arztes Dr. J. vom 19. März 2001 wies schließlich das Landesversorgungsamt die gegen die Bescheide vom 02. März 2000 und 13. Juli 2000 erhobenen Widersprüche zurück, ohne darüber hinaus den zuerkannten Behinderungsgrad herabzusetzen.

Am 17. April 2001 hat die Berufungsklägerin Klage mit dem Ziel erhoben, den Berufungsbeklagten zur Feststellung eines GdB von wenigstens 50 sowie zur Feststellung des Nachteilsausgleichs „Hilflosigkeit“ (Merkzeichen „H“) zu verurteilen. Das Sozialgericht hat zur weiteren Sachaufklärung das Gutachten des Arztes für pädiatrische Endokrinologie Prof. Dr. K. vom 29. August 2002 erstatten lassen, der im Wesentlichen Folgendes ausgeführt hat: Unter einer laufenden Substitutionsbehandlung von 3,5 Milligramm Hydrocortison (Cortisol), 25 Mikrogramm Astonin H (Fluorcortison) jeweils zwischen 5:00 Uhr und 6:00 Uhr morgens, 2,0 Milligramm Hydrocortison zwischen 12:00 Uhr und 13:00 Uhr mittags, sowie 1,5 Milligramm Hydrocortison und 50 Mikrogramm Astonin H jeweils abends um 20:00 Uhr erscheine die krankheitsbedingte Nebenniereninsuffizienz der Berufungsklägerin gut eingestellt. Dank der regelmäßigen und absolut pünktlichen Tablettengabe und der sofortigen Dosiserhöhung in allen Notfallsituationen, insbesondere auch bei banalen Infekten, unklarem Fieber, und Bagatell-Unfällen habe sich die Berufungsklägerin bisher normal entwickelt. Für eine Fortsetzung dieser günstigen Entwicklung bedürfe es jedoch weiterhin einer ständigen Überwachung, um insbesondere banale Infekte mit nächtlichem Fieber sofort zu erkennen und unverzüglich auf sie zu reagieren. Das AGS mit Salzverlust sei als schwerste Verlaufsform des AGS prinzipiell jederzeit lebensbedrohlich, da eine normale Funktion der Nebennierenrinde zur Aufrechterhaltung des Kohlehydratstoffwechsels sowie des Salz-Wasser-Haushalts für das Überleben des Menschen unabdingbar sei. Bei jeglicher Stresssituation, d.h. bei jedem banalen Infekt, körperlichen, geistigen oder psychischen Anstrengungen, bei allen Erkrankungen und Verletzungen, bei ärztlichen Eingriffen, Zahnbehandlungen usw. produziere eine gesunde Nebennierenrinde spontan die drei- bis zehnfache Menge an Cortisol, bei dem es sich um ein den Blutzucker steigerndes und entzündungshemmendes Hormon handele, sowie an Aldosteron, das der Kreislauferhaltung und Blutdrucksteuerung diene. Beide Hormone seien in einer der jeweiligen Situation angepassten Menge für das Überleben des Menschen unerlässlich. Bei der Berufungsklägerin erfordere die situationsangepasste Zufuhr dieser lebenswichtigen Hormone eine jederzeitige Bereitschaft zur Dosiserhöhung. Sie könne bis zum Abschluss der Pubertät von kindlichen und jugendlichen Patienten mit AGS und Salzverlustsyndrom nur mit intensiver Unterstützung der Eltern gewährleistet werden. Fehle es an einer jederzeitigen Bereitschaft zur Dosisanpassung, komme es zu mittelgradigen bis schweren und schwersten Cerebralschäden bis hin zum apallischen Syndrom mit lebenslanger Pflegebedürftigkeit oder zu einer Nebennierenrinden-Krise mit raschem Tod. Tatsächlich sei die Mortalität von Kindern mit AGS und Salzverlustsyndrom um bis zu 6,6 mal (im Mittel 3,4 mal) höher als die Standard-Mortalität im Kindesalter. Bis zum Abschluss der Pubertät sei nach alledem der Behinderungsgrad mit 70, im Vorschulalter mit 100, danach bis zum Ende der Pubertät mit 70 zu veranschlagen und bis dahin auch das Merkzeichen „H“ zuzuerkennen. Ähnliches gelte für das Merkzeichen „B“ bis zum Schulabschluss, da auch auf dem Schulweg eine Überwachung sichergestellt sein müsse.

Im Termin zur mündlichen Verhandlung am 19. Februar 2003 hat das Sozialgericht sodann den Arzt Dr L. gutachtlich gehört, der den zuerkannten Behinderungsgrad von 30 mit Rücksicht auf die unter laufender Medikation normal verlaufene körperliche und geistige Entwicklung der Berufungsklägerin für zutreffend gehalten und die Feststellung des Merkzeichens „H“ mit Rücksicht auf den mit einem jugendlichen Diabetes mellitus unvergleichbaren Beaufsichtigungs- und Betreuungsaufwand bei AGS und Salzverlustsyndrom nicht für angezeigt gehalten hat.

Mit seinem klagabweisendes Urteil vom 19. Februar 2003 hat sich das Sozialgericht die Auffassung des Dr. L. zu eigen gemacht.

Mit ihrer am 16. April 2003 eingelegten Berufung verfolgt die Berufungsklägerin ihr Begehren weiter. Sie vertieft ihr bisheriges Vorbringen und verweist ergänzend darauf, dass die Landesversorgungsverwaltungen im Bundesgebiet in mehreren Fällen bei Jugendlichen mit AGS und Salzverlust-Syndrom einen Behinderungsgrad von 100 und das Merkzeichen „H“ zuerkannt hätten. Hierzu hat sie sich für den Zuständigkeitsbereich des Landesversorgungsamtes Niedersachsen auf die Fälle der 1991 geborenen J. M. (Feststellung eines GdB von 100 sowie des Merkzeichens „H“ durch Teilabhilfebescheid des Versorgungsamtes Hannover vom 13. August 1996, Az.: 31 163 57-9543 5) sowie der 1992 geborenen T. N. (Feststellung eines GdB von 100 sowie des Merkzeichens „H“ durch gerichtliches Anerkenntnis des Landesversorgungsamtes vom 9. November 1995 im Verfahren S 24 Vs 401/95 des Sozialgerichts Hannover) bezogen. Der Senat hat im Einverständnis der Eltern dieser Kinder die diesbezüglichen Akten beigezogen.

Die Berufungsklägerin beantragt,

1. das Urteil des Sozialgerichts Hannover vom 19. Februar 2003 aufzuheben und den Bescheid des Versorgungsamtes Hannover vom 2. März 2000 in der Gestalt des Teilabhilfebescheides vom 13. Juli 2000 sowie des Widerspruchsbescheides des Landesversorgungsamtes Niedersachsen vom 20. März 2001 abzuändern,

2. den Beklagten zu verurteilen, bei ihr ab Antragstellung einen Grad der Behinderung von wenigstens 50 sowie die Voraussetzungen des Nachteilsausgleichs „Hilflosigkeit“ (Merkzeichen H) festzustellen.

Der Berufungsbeklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Er trägt unter Vorlage von weiteren Stellungnahmen seines ärztlichen Dienstes vor, dass die Gesamtbehinderung der Berufungsklägerin mit der Gesamtbehinderung bei J. M. und T. N. nicht vergleichbar sei. Überdies müsse die Zuerkennung eines GdB von 100 sowie des Merkzeichens „H“ in jenen Fällen mit Rücksicht auf das Ergebnis einer Beratung in der Sektion Versorgungsmedizin des Ärztlichen Sachverständigenbeirates beim Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung am 18. und 19. November 1996 als rechtswidrig beurteilt werden.

Der Senat hat zur weiteren Sachaufklärung den Sachverständigen Prof. Dr. K. in der mündlichen Verhandlung am 03. Mai 2006 angehört. Wegen weiterer Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf den Inhalt der Gerichtsakten sowie der Schwerbehindertenakten des Berufungsbeklagten Bezug genommen, die beigezogen worden sind.


Entscheidungsgründe

Die zulässige, insbesondere rechtzeitig eingelegte Berufung ist begründet. Die Berufungsklägerin hat für die Zeit seit Antragstellung im Juli 1999 einen Anspruch auf Feststellung eines Grades der Behinderung (GdB) von 80 sowie die Zuerkennung des Nachteilsausgleichs „Hilflosigkeit“ (Merkzeichen H). Der Ablehnungsbescheid des Versorgungsamtes Hannover vom 02. März 2000 in der Gestalt des Teilabhilfebescheides vom 13. Juli 2000 sowie des Widerspruchsbescheides des Landesversorgungsamtes Niedersachsen vom 20. März 2001 sind abzuändern, soweit sie dem entgegenstehen. Insoweit verletzten sie die Berufungsklägerin in ihren Rechten.

Die Berufung ist allerdings nicht bereits deshalb erfolgreich, weil das Land Niedersachsen in den beiden von der Berufungsklägerin benannten Vergleichsfällen der ebenfalls an einem adrenogenitalen Syndrom mit Salzverlust erkrankten Mädchen J. M. und T. N. einen GdB von 100 sowie das Merkzeichen H zuerkannt hat. Ein hierauf bezogener Anspruch auf Gleichbehandlung nach Art 3 Abs. 1 GG scheitert bereits daran, dass die diesbezüglichen Entscheidungen der Niedersächsischen Landesversorgungsverwaltung aus der Zeit zwischen November 1995 und August 1996 datieren, sich indessen die Sektion Versorgungsmedizin des ärztlichen Sachverständigenbeirats beim damaligen Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung erst danach auf ihrer Tagung am 18. und 19. November 1996 mit der Thematik der Hilflosigkeit bei Kindern mit adrenogenitalem Syndrom befasst hat und dabei der generellen Vergabe des Merkzeichens H unter Hinweis auf den hierfür nicht hinreichenden krankheitsbedingten Betreuungsauwand entgegengetreten ist. Soweit diese Beschlussfassung oder auch eine daraufhin veränderte versorgungsmedizinische Einschätzung innerhalb der Niedersächsischen Landesversorgungsverwaltung zu einer Änderung der Verwaltungspraxis nicht nur bei der Vergabe des Merkzeichens „H“, sondern auch bei der Einschätzung des GdB bei AGS geführt haben, besteht unabhängig von der Richtigkeit der veränderten Sichtweise jedenfalls kein auf die Vergleichsfälle zu stützender Gleichbehandlungsanspruch der Berufungsklägerin mehr. Ihre Selbstbindung durch stetige Verwaltungspraxis kann nämlich die zuständige Behörde durch allgemeine Änderung eben dieser Verwaltungspraxis ohne weiteres durchbrechen. Ob im Falle der schwerbehindertenrechtlichen Behandlung von Kindern mit AGS in Niedersachsen eine solche Änderung der Verwaltungspraxis stattgefunden hat, hat der Senat nicht abschließend klären können; jedenfalls sind ihm aber aus der Zeit nach November 1995 keine Fälle bekannt geworden, in denen die Niedersächsische Versorgungsverwaltung bei Mädchen mit AGS und Salzverlustsyndrom noch einen GdB von 100 sowie das Merkzeichen „H“ festgestellt hat.

Die Berufung hat jedoch im tenorierten Umfang deshalb Erfolg, weil die zur Steuerung der Verwaltungspraxis vom Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung herausgegebenen Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertengesetz (AHP), von deren gleichmäßiger Anwendung durch die Versorgungsverwaltungen ausgegangen werden kann, der Berufungsklägerin in ihren seit Antragstellung geltenden Fassungen von 1996 und 2004 im Wege der gebotenen Gleichbehandlung einen Anspruch auf Feststellung eines GdB von 80 (1.) sowie Zuerkennung des Merkzeichens „H“ (2.) vermitteln.

1. Die Bemessung des schwerbehindertenrechtlichen GdB richtet sich generell nach den Auswirkungen von der Altersnorm abweichender Funktionseinschränkungen auf die Teilnahme am Leben in der Gesellschaft (vgl. für das bis zum 30. Juni 2001 geltende Recht § 3 Abs. 1 bis 3 Schwerbehindertengesetz, jetzt §§ 1 Abs. 2 und 69 Abs. 1 Satz 3 und 4 SGB IX i. V. m. § 30 Abs. 1 BVG). Das Ausmaß solcher Funktionseinschränkungen, nicht etwa die Anzahl und Schwere der sie verursachenden Erkrankungen, ist hiernach für die Höhe des GdB bestimmend. Verbindliche Grundlage für die konkrete Bewertung der Funktionseinschränkungen mit einem Behinderungsgrad bilden die vorerwähnten AHP. Nach ständiger Rechtsprechung des Bundessozialgerichts - BSG - sind sie zwar keine rechtlich unmittelbar verbindlichen Normen, sie bündeln jedoch das ärztliche Erfahrungswissen im Sinne eines vorweggenommen allgemeinen Sachverständigengutachtens und sind gerade im Interesse der grundgesetzlich gewährleisteten Gleichbehandlung aller behinderten Menschen (Artikel 3 Abs. 1 GG) als abstrakt generelles Beurteilungsgefüge auf den Einzelfall anzuwenden. Die Anhaltspunkte in der jeweiligen Fassung binden die Verwaltung; die Gerichte können sie nur im beschränkten Umfang überprüfen und nur in besonders begründeten Einzelfällen von ihnen abweichen (vgl. BSG, Urteil vom 11. Oktober 1994 - 9 RVs 1/93 - in SozR 3 - 3970, § 3 Nr. 5, zuletzt Beschlüsse vom 18. September 2003 - B 9 SB 6/02 R und B 9 SB 3/03 R -). Das Inkrafttreten des SGB IX hat hieran nichts Grundsätzliches geändert (vgl. BSG, Urteile vom 7. November 2001, Aktenzeichen B 9 SB 1/01 R und vom 18. September 2003, Az. B 9 SB 3/02 R, BSGE 91, 205 ff).

Die Anwendung der AHP bestimmt dabei auch die Bemessung des GdB bei solchen Gesundheitsstörungen, die in ihnen nicht aufgeführt und nicht mit einem bestimmten Behinderungsgrad versehen sind. In solchen Fällen ist nämlich der GdB in Analogie zu vergleichbaren Gesundheitsstörungen zu beurteilen, die in den AHP erfasst sind (Schorn in Müller-Wenner / Schorn, SGB IX, 2003, § 69 Rdnr. 50; vgl. LSG NRW, Urteil vom 28.11.2000, Az. L 6 SB 46/98 und das diese Entscheidung bestätigende Urteil des BSG vom 27.02.2002, Az.: B 9 SB 6/01 R zur Bewertung des Fibromyalgiesyndroms, vgl. auch Ziff. 26.1 Abs. 2 und - speziell für Stoffwechselstörungen - Ziff. 26.15 AHP).

In Anwendung dieser Rechtsgrundsätze geht der Senat vorliegend davon aus, dass es sich bei dem Adrenogenitalen Syndrom (AGS) mit Salzverlustsyndrom um eine Gesundheitsstörung handelt, deren Bewertung mit einem Behinderungsgrad in den AHP keine Regelung erfahren hat. Allerdings handelt es sich beim AGS um eine Funktionsstörung der Nebennierenrinde. Die AHP 1996 und 2004 enthalten in ihrer Ziffer 26.15 in diesem Zusammenhang unter dem Stichwort „Chronische Nebennierenrindeninsuffizienz (Addison-Syndrom)“ die Feststellung, dass diese Erkrankung gut behandelbar sei, so dass in der Regel dauernde Funktionsstörungen nicht zu erwarten seien. Selten auftretende Beeinträchtigungen seien analogen funktionellen Beeinträchtigungen (z.B. orthostatische Fehlregulation) entsprechend zu beurteilen. Mit einer solcherart umschriebenen Funktionsstörung der Nebennierenrinde vermag indessen der Senat das AGS mit Salzverlustsyndrom nicht zu identifizieren. Abgesehen davon, dass der in Ziff. 26.15 AHP 1996 und 2004 als Synonym für die Nebennierenrindeninsuffizienz verwendete Begriff des Addison-Syndroms ein vom AGS medizinisch verschiedenes Krankheitsbild bezeichnet (vgl. dazu Pschyrembel zum jeweiligen Stichwort), erschöpfen sich die Krankheitsfolgen des AGS mit Salzverlustsyndrom nach den auf eigene klinische Erfahrungen und aktuelle wissenschaftliche Studien gestützten und deshalb für den Senat überzeugenden Feststellungen des Sachverständigen Prof. Dr. K. keineswegs in Symptomen, die denjenigen bei einer funktionellen Störung, insbesondere einer orthostatischen Fehlregulation vergleichbar sind. Dies belegt bereits die von Prof. Dr. K. hervorgehobene, stark erhöhte Mortalitätsrate von Kindern mit AGS und Salzverlustsyndrom. Der Senat geht deshalb davon aus, dass mit der Aufnahme der Gesundheitsstörung „Chronische Nebennierenrindeninsuffizienz (Addison-Syndrom)“ in die AHP nicht etwa alle Funktionsstörungen der Nebennierenrinde, sondern lediglich das vorliegend nicht einschlägige Krankheitsbild des Addison-Syndroms erfasst worden sind. Sollten allerdings die AHP 1996 und 2004 unter Ziff. 26.15 in einem umfassenden Sinne zu verstehen sein und alle Funktionsstörungen der Nebennierenrinde erfassen, würde dies den Senat zu der Überzeugung veranlassen, dass die hiernach vorgesehene analoge Anwendung der Behinderungsgrade bei orthostatischen Fehlregulationen den tatsächlichen Auswirkungen des AGS mit Salzverlust nach dem von Prof. Dr. K. dargelegten, aktuellen Stand der wissenschaftlichen Erkenntnis nicht entspricht und deshalb der gerichtlichen Korrektur bedarf.

Wesentliches Merkmal der vom AGS mit Salzverlustsyndrom ausgehenden körperlichen Funktionsstörungen ist nach dem Gutachten des Prof. Dr. K. die jederzeitige Gefahr einer rasch fortschreitenden Entgleisung des Kohlehydratstoffwechsels und des Salz-Wasser-Haushalts mit der Möglichkeit irreversibler cerebraler Schädigungen oder einer unmittelbar tödlichen Stoffwechselkrise. Bei der Bemessung des GdB für diese körperlichen Krankheitsfolgen sind mit Rücksicht auf das Gleichbehandlungsgebot des Art 3 Abs. 1 GG vorrangig diejenigen Behinderungsgrade heranzuziehen, die die AHP für andere mit der Gefahr von Stoffwechselentgleisungen einhergehende Erkrankungen des endokrinologischen Systems vorsehen. Insbesondere sind insoweit die in Ziff. 26.15 AHP 1996 und 2004 für den diabetes mellitus Typ I bei Kindern vorgesehenen Behinderungsgrade zu berücksichtigen. Für einen schwer einstellbaren bzw. mit gelegentlichen ausgeprägten Hypoglykämien verbundenen diabetes sehen insoweit die AHP 1996 ebenso wie die AHP 2004 einen GdB von 50 vor. Der Senat hat sich auf der Grundlage des von Prof. Dr. K. erstatteten Gutachtens und dessen Erläuterung in der mündlichen Verhandlung die Überzeugung gebildet, dass das AGS mit Salzverlustsyndrom hiernach bei zutreffender Gewichtung der zwischen beiden Krankheiten bestehenden Unterschiede in der Regel eine Bewertung mit einem GdB von 60 erfordert. Eine solche Bewertung rechtfertigt sich aufgrund des Umstandes, dass sich die Gefahr von Stoffwechselentgleisungen im Falle des AGS mit Salzverlustsyndrom auch bei im allgemeinen gut eingestellter Medikation in Abhängigkeit von unvorhersehbaren und unbeeinflussbaren äußeren Faktoren (Infektion, Stress, körperliche Belastung) jederzeit realisieren kann. Hinzu kommt, dass für die Feststellung einer beginnenden Stoffwechselentgleisung im Falle des AGS mit Salzverlustsyndrom keine für den medizinischen Laien handhabbaren diagnostischen Hilfsmittel zur Verfügung stehen, wie sie im Fall des diabetes mellitus Typ I mit der Bestimmung des Blutzuckers angewendet werden können. Schließlich verlaufen Stoffwechselentgleisungen im Fall des AGS mit Salzverlustsyndrom nach den Feststellungen des Sachverständigen erheblich rascher und dramatischer als bei Kindern mit einem diabetes mellitus Typ I, so dass insgesamt hinsichtlich der für die GdB - Bemessung beim diabetes mellitus maßgebenden Gefahr von Stoffwechselentgleisungen von einer diesem gegenüber noch einmal deutlich gesteigerten Gefährdungslage bei Kindern mit AGS und Salzverlustsyndrom ausgegangen werden muss.

Hinzu treten im Fall der Berufungsklägerin noch die bei AGS-betroffenen Mädchen anzutreffenden psychischen und körperlichen Folgen einer hormonbedingten Virilisierung. Diese erschwert nach den Feststellungen des Sachverständigen regelmäßig bereits auf unmittelbar hormonellem Wege gravierend die weibliche Identitätsfindung (stärker behindernde psychische Störung, Ziff. 26.3 AHP) und wird gegebenenfalls in ihren negativen Auswirkungen für die psychische Entwicklung, wie im Fall der Berufungsklägerin, noch durch die Folgen einer krankheitsbedingt angeborenen Fehlbildung der äußeren Genitalien verstärkt. Der Senat hält es für angemessen, im Rahmen der erforderlichen zusätzlichen Bewertung dieser seelischen und ggf. körperlichen Erkrankungsfolgen den allein durch die endokrinologische Stoffwechsellage bedingten GdB von 60 bei Mädchen wegen der regelhaften hormonellen Folgen für die psychische Entwicklung um 10, bei Vorliegen von äußeren Fehlbildungen der Genitalien hingegen um 20 zu erhöhen. Dem Vorschlag des Sachverständigen, den Behinderungsgrad der Berufungsklägerin jedenfalls bis zum Abschluss der Pubertät mit 100 zu bemessen, folgt der Senat allerdings nicht. Ein solcher Behinderungsgrad kennzeichnet nach den Anhaltspunkten eine nicht mehr steigerungsfähige Schwerstbehinderung, von der sich die Auswirkungen des AGS mit Salzverlustsyndrom bei der Berufungsklägerin schon mit Rücksicht auf die Möglichkeit eines erfolgreichen Schulbesuchs abheben.

2. Daneben steht der Berufungsklägerin auch ein Anspruch auf Feststellung der Voraussetzungen des Merkzeichens „H“ zu. Grundlegend ist auch hierfür der Anspruch der Berufungsklägerin auf eine dem Gleichheitssatz genügende Berücksichtigung der von ihrem AGS mit Salzverlustsyndrom ausgehenden Behinderung. Die AHP 1996 und 2004 sehen insoweit unter Ziff. 22, Abs. 4, Buchst. k) für Kinder mit diabetes mellitus Typ I die Zuerkennung des Merkzeichens „H“ regelmäßig bis zur Vollendung des 16. Lebensjahres, bei fortbestehender unausgeglichener Stoffwechsellage, das heißt, wenn wegen der Gefahr hypoglykämischer Schocks, zwecks strenger Einhaltung der Diät und zur Dosierung des Insulins sowie im Hinblick auf die notwendigen körperlichen Betätigungen eine ständige Überwachung erforderlich ist, aber darüber hinaus auch bis zur Vollendung des 18. Lebensjahres vor. Insoweit erfordert es die auch bei im allgemeinen guter Einstellung jederzeit gegebene Gefahr lebensbedrohlicher Stoffwechselentgleisungen beim AGS mit Salzverlustsyndrom und der für Stoffwechselentgleisungen bei dieser Erkrankung kennzeichnende dramatische Verlauf, Kindern und Jugendlichen mit AGS und Salzverlustsyndrom bis zur Vollendung des 18. Lebensjahres ebenfalls das Merkzeichen „H“ zuzuerkennen. Medizinische Unterscheidungsmerkmale, die insoweit eine unterschiedliche Behandlung gegenüber Kindern und Jugendlichen mit einem diabetes mellitus Typ I rechtfertigen könnten, bestehen nicht. (vgl. Bayr. LSG, Urt. v. 23. Oktober 2002, L 18 SB 147/97, E-LSG SB-037).

Allerdings hat das BSG mit Urteil vom 29. August 1990 (Az.: 9a/9 RVs 7/89) die Auffassung vertreten, dass das Schwerbehindertenrecht für die Zuerkennung des Merkzeichens „H“ keinen besonderen Begriff der Hilflosigkeit bei Kindern kenne, so dass eine Zuerkennung unter gegenüber Erwachsenen erleichterten Voraussetzungen grundsätzlich nicht in Betracht komme. Diese Auffassung steht indessen der Annahme eines Gleichbehandlungsanspruchs der Berufungsklägerin im Ergebnis nicht entgegen. Zwar findet grundsätzlich jeder auf den Gesichtspunkt einer Selbstbindung der Verwaltung gestützte Anspruch seine Grenze dort, wo der zuständigen Behörde ein weiterhin rechtswidriges Verwaltungshandeln abverlangt werden soll. Es gibt keine Gleichheit im Unrecht mit der Folge eines Anspruchs auf Fehlerwiederholung (Jarass / Pieroth, GG, 5. Aufl. 2000, Art. 3 Rdnr. 36; Kopp / Ramsauer, VwVfG, 8. Aufl. 2003, § 40 Rdnr. 25; Obermayer, VwVfG, 3. Aufl. 1999, § 40 Rdnr. 41). Hinsichtlich der besonderen Maßstäbe, die die AHP für die Zuerkennung des Merkzeichens „H“ bei Kindern aufstellen, kann indessen von der Rechtswidrigkeit der diese Maßstäbe umsetzenden Verwaltungspraxis mit der Folge einer fehlenden Selbstbindung nicht ausgegangen werden. Bereits in Bezug auf die AHP 1977 hat nämlich das BSG in seiner vorzitierten Entscheidung vom 29. August 1990 ausgeführt, dass der faktisch normsetzende Charakter der Anhaltspunkte bei der Beurteilung der Rechtmäßigkeit der auf ihnen beruhenden Verwaltungsakte nicht ignoriert werden könne. Soweit im zu entscheidenden Fall das Merkzeichen „H“ in Übereinstimmung mit den Anhaltspunkten zuerkannt worden sei, könne nicht nachträglich von der Rechtswidrigkeit einer solchen Entscheidung ausgegangen werden. Die Anhaltspunkte seien insoweit für die Zeitdauer ihrer Geltung insbesondere insoweit, als sie begünstigend wirkten, als Maßstab von Verwaltungsentscheidungen anzuerkennen. An dieser Auffassung hat das BSG trotz der von verschiedenen Seiten erhobenen Bedenken, die sich aus ihrem fehlenden Normcharakter ergeben, bis zuletzt festgehalten.

Für den Senat ergibt sich hieraus die Rechtsfolge, dass eine weiterhin an den AHP - nunmehr in der Fassungen von 1996 und 2004 - orientierte Verwaltungspraxis, die die Zuerkennung des Merkzeichens „H“ bei Kindern und Jugendlichen, insbesondere auch bei Diabetikern bis zur Vollendung des 18. Lebensjahres, weiterhin unter erleichterten Voraussetzungen vornimmt, mit Rücksicht auf die rechtliche Anerkennung, die solche Entscheidungen wegen der Unverzichtbarkeit einer allgemeinen Anwendung der AHP erfahren, auch einen Anspruch auf Gleichbehandlung zu begründen vermag.

3. Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG. Randnummer28 Ein Grund, gem. § 160 Abs. 2 SGG die Revision zuzulassen, besteht nicht.



Versorungsmedizinische Grundsätze
in der Fassung der 5. Verordnung zur Änderung der Versorgungsmedizin-Verordnung