Bei fehlender ärztlicher Behandlung kann in der Regel nicht davon ausgegangen werden, dass ein diagnostiziertes seelisches Leiden über eine leichtere psychische Störung hinausgeht und bereits eine stärker behindernde Störung im Sinne der GdB-Bewertungsgrundsätze (GdB 30 bis 40) darstellt.


Landessozialgericht Baden-Württemberg 8. Senat
17.12.2010
L 8 SB 1549/10
Juris



Leitsatz

Bei fehlender ärztlicher Behandlung kann in der Regel nicht davon ausgegangen werden, dass ein diagnostiziertes seelisches Leiden über eine leichtere psychische Störung hinausgeht und bereits eine stärker behindernde Störung im Sinne der GdB-Bewertungsgrundsätze (GdB 30 bis 40) darstellt.


Tatbestand

Zwischen den Beteiligten ist die Herabsetzung des Grades der Behinderung (GdB) wegen Heilungsbewährung streitig.

Dem am …1967 geborenen Kläger wurde am 08.02.2000 wegen eines malignen Teratoms der linke Hoden entfernt (Bericht der Kreiskliniken R. vom 21.03.2000). Er stellte am 03.04.2000 beim Versorgungsamt R. einen Antrag auf Feststellung des GdB. Mit Bescheid vom 21.07.2000 stellte das Versorgungsamt R. beim Kläger wegen einer Erkrankung des linken Hodens (in Heilungsbewährung) den GdB mit 50 seit 01.01.2000 fest.

Am 18.09.2000 beantragte der Kläger beim Versorgungsamt R. die Erhöhung des GdB. Er machte geltend, durch die Chemotherapie sei sein linker Fuß geschädigt worden. Weiter habe er auf einer Geschäftsreise den rechten Fuß verletzt. Der Kläger legte den radiologischen Befundbericht von Dr. T. vom 16.08.2000, den Befundbericht von Dr. U. vom 04.12.2000, ein Gutachten des Dr. B. vom 13.11.2000 sowie einen Bescheid der Süddeutschen Metall-Berufsgenossenschaft vom 14.12.1993 vor. Das Versorgungsamt holte den Befundbericht von Dr. H. vom 26.09.2000 ein, der sich unter Vorlage weiterer medizinischer Unterlagen äußerte. Nach Auswertung durch die Vertragsärztin W. (Stellungnahme vom 03.01.2001) stellte das Versorgungsamt R. mit Bescheid vom 08.01.2001 beim Kläger wegen der Erkrankung des linken Hodens in (Heilungsbewährung) - Teil-GdB 60 -, der BG-Unfallfolgen am Handgelenk - Teil-GdB 10 - und einer Funktionsbehinderung des rechten oberen Sprunggelenks sowie einer Gebrauchseinschränkung des linken Fußes - Teil-GdB 20 - den GdB mit 70 seit dem 01.01.2000 neu fest.

Im Februar 2005 leitete das zwischenzeitlich zuständige Landratsamt R. -Kreissozialamt - Versorgungsamt- (VA) ein Nachprüfungsverfahren ein. Das VA holte den Bericht der Kreiskliniken R. vom 22.04.2005 ein. Nach versorgungsärztlicher Auswertung (gutachtliche Stellungnahme Dr. S. vom 21.07.2005, in der wegen der BG-anerkannten Unfallfolgen der Teil-GdB mit 10, der Funktionsbehinderung des rechten oberen Sprunggelenks und der Gebrauchseinschränkung des linken Fußes der Teil-GdB mit 20 und wegen des Verlustes des linken Hodens nach eingetretener Heilungsbewährung und einer seelischen Störung der Teil-GdB mit 10 und der Gesamt-GdB mit 20 vorgeschlagen wurde), stellte das VA - nach Anhörung des Klägers (Anhörungsschreiben vom 19.12.2005) - mit Bescheid vom 17.02.2006 unter Aufhebung des Bescheides vom 08.01.2001 den GdB mit 20 ab 25.02.2006 fest.

Hiergegen legte der Kläger am 06.03.2006 Widerspruch ein. Er machte geltend, die Begründung des Bescheides sei nicht nachvollziehbar. Ungeachtet dessen habe sich seine gesundheitliche Verfassung nicht geändert. Nach Einholung der gutachtlichen Stellungnahme des Versorgungsarztes Dr. F. vom 25.09.2006 wurde der Widerspruch vom Regierungspräsidium S. - Landesversorgungsamt - mit Widerspruchsbescheid vom 16.10.2006 zurückgewiesen.

Hiergegen erhob der Kläger am 20.11.2006 Klage beim Sozialgericht Reutlingen (SG). Er trug zur Begründung vor, die Auffassung des Beklagten sei unzutreffend. Seine psychische Belastung habe sich zwar seit dem Jahr 2001 reduziert, allerdings sei sie nach wie vor in erheblichem Maße vorhanden. Bereits durch geringfügig erscheinende körperliche Reaktionen erleide er mehrwöchige Angstzustände, dass die Erkrankung erneut entstanden sei. Durch die für ihn täglich sichtbaren Folgen der Operation werde er immer wieder mit der Krebserkrankung konfrontiert. Der nicht vollständig ausgeheilte Bruch am rechten Handgelenk, der ihn beeinträchtige, bliebe unberücksichtigt. Die Beschwerden am rechten oberen Sprunggelenk, am linken Fuß und am rechten Handgelenk hätten sich verstärkt. Der GdB betrage nach wie vor 70.

Das SG hörte den Allgemeinarzt Dr. Sp. und den Urologen Dr. K. schriftlich als sachverständige Zeugen an. Dr. Sp. teilte in seiner Stellungnahme vom 31.01.2007 den Behandlungsverlauf und die Befunde mit. Er habe den Kläger in den letzten 3 bis 4 Jahren nicht mehr gesehen, weshalb er den GdB nur eingeschränkt beurteilen könne. Dr. Sp. schätzte den GdB auf 20 bis 30 ein. Dr. K. teilte in seiner Stellungnahme vom 13.03.2007 unter Vorlage eines Befundberichts der Kreiskliniken R. vom 02.08.2005 den Behandlungsverlauf mit. Auf urologisch-onkologischem Gebiet schätzte er den GdB auf 20 ein.

Das SG holte auf Antrag des Klägers gemäß § 109 Sozialgerichtsgesetz (SGG) das nervenärztliche Gutachten des Dr. N. vom 30.09.2008 ein. Dr. N. gelangte in seinem Gutachten zusammenfassend zu der Beurteilung, als verbliebene Folgen auf psychiatrischem Gebiet seien hervorzuheben, eine durch erheblich entstellende große mediale Laparatomienarbe mit hieraus resultierender narzisstischer Kränkung, eine stetige Angst vor einem Tumorrezidiv mit Uminterpretierung harmloser Beschwerden als mögliche Anzeichen einer erneuten Tumorerkrankung sowie eine kompensatorisch erhöhtes, teilweise auch krankhaft und zwanghaft erlebtes Bedürfnis nach sexuellen Kontakten. Dr. N. diagnostizierte eine Krankheitsfehlverarbeitung mit im Vordergrund stehender karzinophobischer Störung, eine depressiv getrübte Einschränkung der Erlebnisfähigkeit sowie eine hypochondrische Störung bei narzisstisch akzentuierte Persönlichkeit im Rahmen einer Hodenkarzinomerkrankung (Teil-GdB 40), eine Läsion des linken Plexus lumbosacralis mit zusätzlicher Sympatikusläsion und hierdurch bedingten trophischen Störungen im Bereich des linken Fußes (Teil-GdB 20) sowie eine Kahnbeinfraktur und Sprunggelenksverletzung (Teil-GdB 20). Den Gesamt-GdB schätzte Dr. N. auf 50.

Anschließend legte der Kläger den Bescheid der Süddeutschen Metall-Berufsgenossenschaft vom 27.08.2004, mit dem ihm ab 07.09.2001 wegen einer Bewegungseinschränkung im Handgelenk mit Belastungsschmerzen Rente auf unbestimmte Zeit nach einer MdE von 20 v.H. bewilligt wurde, sowie Lichtbilder hinsichtlich der Operationsnarbe vor. Der Beklagte unterbreitete daraufhin dem Kläger ein Vergleichsangebot, wegen einer Funktionsbehinderung des rechten oberen Sprunggelenks und Gebrauchseinschränkung des linken Fußes (Teil-GdB 20), der BG-anerkannten Unfallfolgen am rechten Handgelenk (Teil-GdB 20) und dem Verlust des linken Hodens sowie seelischer Störung (Teil-GdB 20) den GdB mit 40 und eine dauernde Einbuße der körperlichen Beweglichkeit jeweils seit 25.02.2006 festzustellen und legte hierzu die versorgungsärztliche Stellungnahme von Dr. G. vom 09.09.2009 vor. Dieses Vergleichsangebot nahm der Kläger nicht an.

Mit Urteil vom 11.02.2010 verurteilte das SG den Beklagten, beim Kläger den GdB mit 50 seit 25.02.2006 festzustellen. Es führte zur Begründung aus, die beim Kläger vorliegenden Funktionsbeeinträchtigungen rechtfertigten die Bewertung mit einem GdB von 50. Bei der von Dr. N. beschriebenen psychischen Störung handele es sich um eine seelische Störung mit wesentlicher Einschränkung der Erlebnis- und Gestaltungsfähigkeit. Auch unter Berücksichtigung der Tatsache, dass eine Behandlung des Klägers nicht erfolge und seine Lebensgestaltung äußerlich unbeeinträchtigt erscheine, sei mindestens ein GdB von 30 für die seelische Störung gerechtfertigt. Bei Berücksichtigung eines Teil-GdB von 30 für die seelische Störung betrage unter zusätzlicher Berücksichtigung der Funktionsbeeinträchtigung im Bereich des rechten Handgelenkes mit einem Teil-GdB von 20 und die Funktionsbeeinträchtigungen im Bereich des linken Fußes mit einem Teil-GdB von 20 der Gesamt-GdB 50.

Gegen das dem Beklagten am 12.03.2010 zugestellte Urteil hat er am 01.04.2010 Berufung eingelegt. Der Beklagte hat zur Begründung vorgetragen, der Ansicht des SG, für die seelische Störung sei ein Teil-GdB von wenigstens 30 anzunehmen, könne nicht gefolgt werden. Der im Gutachten von Dr. N. beschriebene Tagesablauf des Klägers und die angegebenen Hobbys ließen in keiner Weise erkennen, inwieweit eine stärker behindernde Störung bestehen solle. Der Kläger benötige auch keine fachärztliche Hilfe zur Behandlung seiner seelischen Störung. Bei einer psychischen Beeinträchtigung, die einen GdB von wenigstens 30 bedinge, müsse eine engmaschige fachärztliche Betreuung erfolgen. Der Umstand, dass dies nicht der Fall sei, spreche gegen eine stärker behindernde Störung. Der für die psychische Beeinträchtigung angenommene Teil-GdB von 20 sei völlig ausreichend. Bei Teil-GdB-Werten von 20 - 20 - 20 lasse sich die Schwerbehinderteneigenschaft nicht rechtfertigen. Der Beklagte hat die versorgungsärztlicher Stellungnahme von Dr. Wo. vom 23.03.2010 vorgelegt.

Der Beklagte beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Reutlingen vom 11.02.2010 abzuändern und die Klage des Klägers abzuweisen, soweit die Feststellung des Grades der Behinderung von über 40 seit dem 25.02.2006 begehrt wird.

Der Kläger beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Der Kläger hält das angefochtene Urteil für zutreffend. Er hat zur Begründung vorgetragen, die von Dr. N. getroffenen Feststellungen seien in sich stimmig und schlüssig. Die vom Beklagten erhobenen Einwendungen seien unzutreffend. Soweit zur Beurteilung der Frage, wie hoch der GdB liege, überhaupt auf den Umfang der Arbeitstätigkeit und der ausgeübten Freizeitbeschäftigungen abgestellt werden könne, sei keinesfalls die nach der aufgetretenen Krebserkrankungen eingetretene Situation isoliert betrachtet maßgeblich. Entscheidend sei vielmehr ein Vergleich der entsprechenden Situationen vor Eintritt der Erkrankung und nach Eintritt der Erkrankung. Er sei vor Eintritt der Erkrankung in einem weitaus umfangreicherem Maße arbeitstätig gewesen. Seine günstige Verfassung habe sich seit Eintritt der Krebserkrankungen nachhaltig gravierend verschlechtert. Maßgeblich sei seine tatsächlich bestehende äußerst schlechte psychische Verfassung. Der Umstand, dass er dies nicht unmittelbar äußere und er auf sein relativ hohes Arbeitspensum und seine Freizeitgestaltung verweise, sei auf seine narzisstische Neigung zurückzuführen. Diese Neigung führe dazu, dass er seine Leistungsfähigkeit geschönt, d.h. unrealistisch positiv darstelle. Seine vor dem Hintergrund der narzisstischen Neigung erfolgten Äußerungen ließen somit nicht einen Rückschluss auf seine tatsächlich bestehende psychische Verfassung zu. Daraus, dass er sich wegen seiner schwerwiegenden psychischen Beeinträchtigungen nicht in eine ärztliche Behandlung begeben habe, könne nicht der Rückschluss gezogen werden, dass er nicht unter einer starken psychischen Beeinträchtigung leide. Fachärztliche Betreuung sei in seinem Fall nicht geeignet, eine Minderung der Beeinträchtigungen zu erreichen. Eine von ihm beabsichtigte Aufnahme einer psychotherapeutischen Behandlung habe bereits im ersten Termin abgebrochen werden müssen.

Der Rechtsstreit ist durch den Berichterstatter in der nichtöffentlichen Sitzung am 12.11.2010 mit den Beteiligten erörtert worden. Auf die Niederschrift vom 12.11.2010 wird Bezug genommen.

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.

Wegen weiterer Einzelheiten des Sachverhaltes und des Vorbringens der Beteiligten wird auf die Gerichtsakten erster und zweiter Instanz sowie auf eine Band Verwaltungsakten des Beklagten Bezug genommen.


Entscheidungsgründe

Die gemäß den §§ 143, 144 SGG statthafte Berufung des Beklagten, über die der Senat im Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung entschieden hat (§ 124 Abs. 2 SGG), ist zulässig und mit dem vom Beklagten gestellten Berufungsantrag in der Sache begründet, weil eine wesentliche Änderung gegenüber dem maßgeblichen Vergleichsbescheid vom 08.01.2001 eingetreten ist, die die Herabsetzung des GdB auf 40 seit dem 25.02.2006 rechtfertigt.

Die angefochtenen Bescheide des Beklagten sind nicht formell rechtswidrig. Der Kläger ist vor dem Erlass der streitgegenständlichen Bescheide ordnungsgemäß angehört worden (§ 24 Abs. 1 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch - SGB X -). Der Bescheid vom 17.02.2006 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 16.10.2006 lässt auch hinreichend erkennen, wegen welcher Funktionsbeeinträchtigungen (zunächst) nur noch von einem GdB von 20 ausgegangen wurde, wie auch das Klagevorbringen des Klägers im Schriftsatz vom 15.11.2006 zeigt. Ein Begründungsmangel liegt damit nicht vor.

Rechtsgrundlage für die Neufeststellung ist § 48 Abs. 1 Sozialgesetzbuch (SGB) X. Danach ist ein Verwaltungsakt mit Dauerwirkung für die Zukunft aufzuheben, soweit in den tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnissen, die bei seinem Erlass vorgelegen haben, eine wesentliche Änderung eintritt. Wesentlich ist eine Änderung dann, wenn sich der GdB um wenigstens 10 erhöht oder vermindert. Im Falle einer solchen Änderung ist der Verwaltungsakt aufzuheben und durch eine zutreffende Bewertung zu ersetzen (vgl. BSG SozR 1300 § 48 SGB X Nr. 29 m.w.N.). Die den einzelnen Behinderungen - welche ihrerseits nicht zum sogenannten Verfügungssatz des Bescheides gehören - zugrunde gelegten Teil-GdB-Sätze erwachsen nicht in Bindungswirkung (BSG, Urteil vom 10.09.1997 -9 RVs 15/96 - BSGE 81, 50 bis 54). Hierbei handelt es sich nur um Bewertungsfaktoren, die wie der hierfür (ausdrücklich) angesetzte Teil-GdB nicht der Bindungswirkung des § 77 SGG unterliegen. Ob eine wesentliche Änderung eingetreten ist, muss durch einen Vergleich des gegenwärtigen Zustandes mit dem bindend festgestellten - früheren - Behinderungszustand ermittelt werden. Dies ist vorliegend der mit Bescheid vom 08.01.2001 wegen der Erkrankung des linken Hodens (in Heilungsbewährung), der BG-Unfallfolgen am Handgelenk und einer Funktionsbehinderung des rechten oberen Sprunggelenks sowie Gebrauchseinschränkung des linken Fußes mit einem GdB von 70 bewertete Behinderungszustand des Klägers.

Bei der Prüfung dieser Voraussetzungen beurteilt sich die Begründetheit der gegen die Aufhebung erhobenen Anfechtungsklage zum Zeitpunkt des Abschlusses des Widerspruchsverfahrens, hier dem Widerspruchsbescheid vom 16.10.2006. Danach eingetretene Änderungen sind nicht zu berücksichtigten (vgl. BSG, Urteil vom 10.09.1997 - 9 RVs 15/96 -, SozR 3-3870 § 3 Nr. 7).

Maßgebliche Rechtsgrundlagen für die GdB-Bewertung sind seit 01.07.2001 die Vorschriften des Neunten Buches des Sozialgesetzbuchs (SGB IX), die an die Stelle der durch dieses Gesetz aufgehobenen Vorschriften des Schwerbehindertengesetzes (SchwbG) getreten sind (vgl. Art. 63, 68 des Gesetzes vom 19.06.2001 BGBl. I S. 1046). Danach sind Menschen behindert, wenn ihre körperliche Funktion, geistige Fähigkeit oder seelische Gesundheit mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als 6 Monate von dem für das Lebensalter typischen Zustand abweichen und daher ihre Teilhabe am Leben in der Gesellschaft beeinträchtigt ist (§ 2 Abs. 1 Satz 1 SGB IX). Die Auswirkungen auf die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft werden als GdB nach 10er Graden abgestuft festgestellt. Hierfür gelten gemäß § 69 Abs. 1 Satz 4 und 5 SGB IX die Maßstäbe des § 30 Abs. 1 Bundesversorgungsgesetz (BVG) und der aufgrund des § 30 Abs. 17 des BVG erlassenen Rechtsverordnung entsprechend. In diesem Zusammenhang waren bis zum 31.12.2008 die „Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertenrecht“ (Teil 2 SGB IX), Ausgabe 2008 (AHP) heranzuziehen (BSG, Urteil vom 23.06.1993 - 9/9a RVs 1/91 - BSGE 72, 285; BSG, Urteil vom 09.04.1997 - 9 RVs 4/95 -SozR 3-3870 § 4 Nr. 19; BSG, Urteil vom 18.09.2003 - B 9 SB 3/02 R - BSGE 190, 205; BSG, Urteil vom 29.08.1990 - 9a/9 RVs 7/89 - BSG SozR 3-3870 § 4 Nr. 1).

Nach § 69 Abs. 3 SGB IX ist zu beachten, dass bei Vorliegen mehrerer Beeinträchtigungen der Teilhabe am Leben der Gesellschaft der GdB nach den Auswirkungen in ihrer Gesamtheit unter Berücksichtigung der wechselseitigen Beziehungen festzustellen ist. Bei mehreren Funktionsbeeinträchtigungen sind zwar zunächst Einzel-GdB zu bilden, bei der Ermittlung des Gesamt-GdB durch alle Funktionsbeeinträchtigungen dürfen die einzelnen Werte jedoch nicht addiert werden. Auch andere Rechenmethoden sind für die Bildung des Gesamt-GdB ungeeignet. In der Regel ist von der Behinderung mit dem höchsten Einzel-GdB auszugehen und zu prüfen, ob und inwieweit das Ausmaß der Behinderung durch die anderen Behinderungen größer wird, ob also wegen der weiteren Funktionsbeeinträchtigungen dem ersten GdB 10 oder 20 oder mehr Punkte hinzuzufügen sind, um der Behinderung insgesamt gerecht zu werden. Ein Einzel-GdB von 10 führt in der Regel nicht zu einer Zunahme des Ausmaßes der Gesamtbeeinträchtigung, auch bei leichten Behinderungen mit einem GdB von 20 ist es vielfach nicht gerechtfertigt, auf eine wesentliche Zunahme des Ausmaßes der Behinderung zu schließen. Der Gesamt-GdB ist vorliegend noch unter Beachtung der AHP in freier richterlicher Beweiswürdigung sowie aufgrund richterlicher Erfahrung unter Hinzuziehung von Sachverständigengutachten zu bilden (BSGE 62, 209, 213; BSG SozR 3870 § 3 Nr. 26 und SozR 3-3879 § 4 Nr. 5 zu den AHP). Im Übrigen hat die seit 01.01.2009 an die Stelle AHP getretene Anlage „Versorgungsmedizinische Grundsätze“ (VG) zu § 2 der Verordnung zur Durchführung des § 1 Abs. 1 und 3, § 30 Abs. 1 und § 35 Abs. 1 BVG (Versorgungsmedizin-Verordnung; VersMedV) die AHP - jedenfalls soweit vorliegend relevant - übernommen und damit gewährleistet, dass gegenüber dem bisherigen Feststellungsverfahren keine Schlechterstellung möglich ist.

Zur Überzeugung des Senats steht fest, dass in den gesundheitlichen Verhältnissen des Klägers und den sich daraus ergebenden Funktionsbeeinträchtigungen gegenüber den gesundheitlichen Verhältnissen, die dem Bescheid vom 08.01.2001 zugrunde lagen, eine Heilungsbewährung eingetreten ist. Seinerzeit war nach der am 08.02.2000 wegen eines malignen Teratoms der linke Hodens erfolgten Operation eine Erkrankung des Hodens im Stadium der Heilungsbewährung als Funktionsbeeinträchtigung anerkannt worden. Bei Erkrankungen, die - wie bei einem Krebsleiden - zu Rezidiven neigen, ist abzuwarten, ob es im Stadium der Heilungsbewährung zu einer Progression bzw. zu einem Rezidiv der Erkrankung kommt. Im Zustand der Heilungsbewährung ist der GdB höher eingeschätzt, als er dem tatsächlichen Zustand entspricht (AHP Nr. 18 Abs. 7). Nach Eintritt der Heilungsbewährung ist bei der Bewertung - im Unterschied zur Erstfeststellung - nur noch die bestehende Funktionsbeeinträchtigung zu berücksichtigen. Das Stadium der Heilungsbewährung war vorliegend nach Ablauf der Heilungsbewährungsfrist von fünf Jahren (vgl. AHP Nr. 26.1 Abs. 3) im Januar 2006 beendet, da es nicht zu einer Progression bzw. zu einem Rezidiv der Tumorerkrankung gekommen ist, wie sich aus dem Bericht des Klinikums R. vom 22.04.2005 an das VA und der schriftlichen sachverständigen Zeugenaussage von Dr. K. vom 13.03.2007 an das SG ergibt. Etwas anderes wird vom Kläger im Übrigen auch nicht vorgetragen. Der Beklagte war deshalb berechtigt und auch verpflichtet, eine Neufeststellung der Behinderung des Klägers wegen einer wesentlicher Änderung der Verhältnisse vorzunehmen.

Die verbliebenen Funktionsstörungen des Klägers bedingen jedenfalls zum maßgeblichen Beurteilungszeitpunkt des Ergehens des Widerspruchsbescheids keinen höheren GdB als 40. Der davon abweichenden Ansicht des SG schließt sich der Senat nicht an.

Allein der Verlust des (linken) Hodens rechtfertigt nach den AHP noch keinen GdB (vgl. Teil A Nr. 26.13).

Die beim Kläger auf psychiatrischem Gebiet bestehenden Funktionsbeeinträchtigungen sind mit einem GdB von 20 angemessen und ausreichend bewertet. Den abweichenden Bewertungen von Dr. N. und dem SG vermag sich der Senat nicht anzuschließen. Nach den AHP (Teil A Nr. 26.3) sind leichtere psychovegetative oder psychische Störungen mit einem GdB von 0 bis 20, stärker behindernde Störungen mit wesentlicher Einschränkung der Erlebnis- und Gestaltungsfähigkeit (z. B. ausgeprägtere depressive, hypochondrische, asthenische oder phobische Störungen, Entwicklungen mit Krankheitswert, somatoforme Störungen) mit einem GdB von 30 bis 40 und schwere Störungen (z. B. schwere Zwangskrankheit) mit mittelgradigen sozialen Anpassungsschwierigkeiten mit einem GdB von 50 bis 70 und mit schweren sozialen Anpassungsschwierigkeiten mit einem GdB von 80 bis 100 zu bewerten. Dass beim Kläger stärker behindernde Störungen mit einer wesentlichen Einschränkung der Erlebnis- und Gestaltungsfähigkeit oder gar schwere Störungen vorliegen, kann zur Überzeugung des Senats nicht angenommen werden.

Zwar liegt beim Kläger nach den Ausführungen von Dr. N. in seinem Gutachten vom 30.09.2008 eine Krankheitsfehlverarbeitung mit karzinophobischer Störung, eine depressiv getönte Einschränkung der Erlebnisfähigkeit sowie eine hypochondrische Störung bei narzisstisch akzentuierter Persönlichkeit vor. Nach dem psychischen Befund waren unterschwellig nachdenkliche, ernste, teilweise auch ängstliche Stimmungsanteile sowie Verunsicherung und Labilisierung insbesondere in Bezug auf gesundheitliche Belange spürbar. Der Kläger war um eine Kontrolle seiner Emotionalität und um mögliche optimale Anpassung bemüht. Das inhaltliche Denken war teilweise von den psychischen und körperlichen Folgen der Erkrankung geprägt. Die Selbstwertregulation war beeinträchtigt. Es bestand eine deutlich verminderte Empfindlichkeit gegenüber Kritik und Zurücksetzung in Verbindung mit sthenischem Ehrgeiz. Diese bewirken nach den im Gutachten von Dr. N. mitgeteilten Angaben des Klägers jedoch nur leichtere psychovegetative oder psychische Störungen hinsichtlich seiner Teilhabe am Leben in der Gesellschaft. So hat sich der Kläger im Jahre 2005 als Geschäftsführer eines Personaldienstleistungsunternehmens selbstständig gemacht. Intern beschäftigt er zwei Mitarbeiter. Hinzu kommen zwischen 50 und 100 Leiharbeiter, die an Kunden verliehen werden. Weiterhin betreibt der Kläger eine eigene Unternehmensberatung bezüglich Prozessabläufe, Marketing und Management. Zum Tagesablauf hat der Kläger bei der Begutachtung angegeben, zwischen 5:00 Uhr und 6:00 Uhr aufzustehen. Nach dem Frühstück versucht der mit Leiharbeitern direkt bei seinen Kunden zu erscheinen und diese persönlich zu übergeben. Anschließend geht der Kläger in sein Büro. Dort hat er den ganzen Tag viel zu tun. Gegen 17:30 Uhr geht er nach Hause und versucht sich etwas zu entspannen. Dann wird gemeinsam zu Abend gegessen. Anschließend versucht er sich mit den Kindern zu beschäftigen. Nach seinen Angaben geht der Kläger gerne mit seiner Frau aus. Einmal in der Woche hat er einen Männerabend. Als Hobby hat der Kläger Motorradfahren und gemeinsame Aktivitäten mit der Familie angegeben. Dem Kläger ist ein Hauptanliegen, auch die Freizeit genießen zu können. Weiter bestehen nach den Angaben des Klägers keine Schlafstörungen, ein guter Appetit und eine stark vorhandene Libido. Nach dem psychologischen Befund war der Kläger bei klarem Bewusstsein und allseits orientiert. Er war im Kontakt freundlich und zugewandt, offen. Es fanden sich keine Anhalte für Störungen des formalen Denkens, der Wahrnehmung sowie auf kognitive Beeinträchtigungen. Stärker behindernde Störungen mit einer wesentlichen Einschränkung der Erlebnis- und Gestaltungsfähigkeit liegen danach beim Kläger zur Überzeugung des Senats nicht vor. Dabei verkennt der Senat nicht, dass der Kläger nach dem Gutachten von Dr. N. über mögliche Ursachen seiner Tumorerkrankung nachgrübelt und eine Angst vor potentiellen schädlichen Belastungen entwickelt hat, die ihm beschäftigt. Das Berufungsvorbringen des Klägers rechtfertigt keine andere Bewertung. Allein die narzisstische Persönlichkeitsstruktur des Klägers rechtfertigt keinen höheren GdB. Maßgeblich ist vielmehr, inwieweit der Kläger in seiner Teilhabe am Leben in der Gesellschaft tatsächlich beeinträchtigt ist. Dass die im Gutachten von Dr. N. wiedergegebenen Angaben des Klägers zu seinen beruflichen Aktivitäten und Freizeitaktivitäten nicht den tatsächlichen Gegebenheiten entsprechen, ist nicht ersichtlich. Dr. N. hat in seinem Gutachten Zweifel an der Glaubwürdigkeit dieser Angaben des Klägers nicht geäußert. Auch ist eine Richtigstellung durch den Kläger nicht erfolgt.

Zudem befindet sich der Kläger wegen seiner seelische Störung nicht in ärztlicher Behandlung. Ob dem Berufungsvorbringen des Beklagten, seelische Störungen, die einen GdB von wenigstens 30 bedingten, bedürften einer engmaschigen fachärztlichen Betreuung, zu folgen ist, bedarf keiner Entscheidung des Senats. Denn aufgrund der fehlenden ärztlichen Behandlung kann jedenfalls - zum maßgeblichen Beurteilungszeitraum - nicht davon ausgegangen werden, dass das diagnostizierte seelische Leiden des Klägers über eine leichtere psychische Störung hinausgegangen ist und bereits eine stärker behindernde Störung im Sinne der GdB-Bewertungsgrundsätze darstellte. Ein entsprechender Leidensdruck des Klägers, der bei einer stärker behindernden psychischen Störung zu erwarten ist, findet sich nach den Ausführungen von Dr. N. in dessen Gutachten vom 30.09.2008 nicht. Der Kläger hatte bei der Untersuchung vielmehr angegeben, dass er seine Probleme nicht gerne nach außen trage, weil er seine Familie damit auch nicht belasten wolle. Insofern versuche er die Dinge mit sich selbst auszutragen und habe deshalb auch keine Behandlung in Anspruch genommen. Dies verdeutlicht, dass der Kläger seine Probleme als nicht so gravierend beurteilt, dass er sie nicht selbst bewältigen kann. Seine Erkrankung unter der Diagnose des Tumors sieht er nach eigenen Angaben rückschauend zwar als schweren Einschnitt in seinem Leben, der aber seinem Leben auch eine von ihm als positiv empfundene Wendung gegeben hatte. Mit der durch die Erkrankung angestoßenen beruflichen Veränderung zur Selbstständigkeit hatte er sich nach seiner Einschätzung beruflich komplett selbst verwirklicht und auch eine neue Lebenseinstellung gewonnen, da er die Erkenntnis erlangt habe, sich etwas gönnen zu müssen. Er sei spontaner und einsatzfreudiger geworden. Das nicht näher substantiierte Vorbringen des Klägers, fachärztliche Betreuung sei in seinem Fall nicht geeignet, eine Minderung der Beeinträchtigungen zu erreichen, belegt daher nicht eine gebotene Behandlungsbedürftigkeit und schon gar nicht eine tatsächlich fehlende Behandlungsoption.

Die durch die Operation hervorgerufene Bauchnarbe des Klägers rechtfertigt nach den AHP keinen GdB, der bei der Bildung des Gesamt-GdB zu berücksichtigen ist. Dass die Bauchnarbe beim Kläger Funktionsbeeinträchtigungen hervorruft, ist nicht ersichtlich und wird von ihm auch nicht geltend gemacht.

Zu Gunsten des Klägers ist eine wesentliche Änderung hinsichtlich der BG-anerkannten Unfallfolgen am rechten Handgelenk zu berücksichtigen, nach dem die Süddeutsche Metall-Berufsgenossenschaft mit Bescheid vom 27.08.2004 die Minderung der Erwerbsfähigkeit auf 20 v.H. festgestellt hat (vgl. § 69 Abs. 2 Satz 1 SGB IX). Dieser Feststellung hat der Beklagte durch sein Vergleichsangebot wie auch seinen Berufungsantrag Rechnung getragen. Einwendungen hiergegen hat der Kläger im Berufungsverfahren auch nicht erhoben.

Hinsichtlich der Funktionsbehinderung des rechten oberen Sprunggelenks und Gebrauchseinschränkung des linken Fußes des Klägers ist eine rechtlich wesentliche Änderung (Verschlimmerung) nicht ersichtlich. Dr. N. hat beim Kläger den Teil-GdB wegen der Läsion des linken Plexus lumbosacralis sowie der Kahnbeinfraktur und der Sprunggelenksverletzung jeweils mit 20 bewertet. Eine solche Änderung wird vom Kläger auch nicht substantiiert vorgetragen.

Sonstige Funktionsbeeinträchtigungen, die bei der Neufeststellung des Gesamt-GdB zu berücksichtigen sind, bestehen beim Kläger nicht.

Ausgehend von den beim Kläger bei der Bildung des Gesamt-GdB zu berücksichtigenden Teil-GdB-Werten (Verlust des linken Hodens und seelische Störung, BG-anerkannten Unfallfolgen am rechten Handgelenk, Läsion des linken Plexus sowie Kahnbeinfraktur und Sprunggelenksverletzung jeweils mit einem Teil-GdB von 20), ist nach der Rechtsprechung des Senats die Feststellung der vom Kläger angestrebten Schwerbehinderteneigenschaft (GdB 50) nicht gerechtfertigt. Die schwerwiegendste Funktionsstörung ist hier eines der vier mit einem GdB von 20 bewerteten Leiden. Ein höherer GdB als 20 bedingt keine davon. Wenn mit einem GdB 20 bewertete Behinderungen nach den AHP es vielfach nicht rechtfertigen, den Gesamt-GdB zu erhöhen, ist es grundsätzlich nicht geboten, aus einer Häufung solcher Behinderungen die Schwerbehinderteneigenschaft zu folgern. Ein GdB von 50 kann daher nach der ständigen Rechtsprechung des Senats ohne zumindest eine mit einem GdB von 30 bewertete einzelne Funktionsstörung in der Regel nicht angenommen werden (vgl. Urt. des Senats vom 21.05.2010 - L 8 SB 2171/08 -).

Anlass zu weiteren Ermittlungen besteht nicht. Der Sachverhalt ist durch die Ermittlungen des SG und die zu den Akten gelangten medizinischen Unterlagen geklärt.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Die Voraussetzungen für die Zulassung der Revision liegen nicht vor.



Versorungsmedizinische Grundsätze
in der Fassung der 5. Verordnung zur Änderung der Versorgungsmedizin-Verordnung