Für die Beeinträchtigung der Psyche ist gemäß Teil B Ziffer 3.7 der Versorgungsmedizinischen Grundsätze ein GdB von 30 in Ansatz zu bringen, der nach den überzeugenden Ausführungen der Gutachterin, denen sich die Kammer nach eigener Prüfung anschließt, nur soeben erreicht ist.

Neben der depressiven Störung ist hierbei auch die chronifizierte Schmerzstörung im Sinne eines (teilweise so bezeichneten) Fibromyalgie-Syndroms berücksichtigt worden (zum Krankheitsbild der Fibromyalgie vgl. etwa, Heim, T. Fibromyalgie: Trend zum Deskriptiven und Pragmatischen. InFo Neurologie 22, 57 (2020). https://doi.org/10.1007/s15005-020-1545-5; Eich, W., Häuser, W., Arnold, B. et al. Das Fibromyalgiesyndrom. Schmerz 26, 247-258 (2012). https://doi.org/10.1007/s00482-012-1169-x).

Die Diagnose eines "Fibromyalgie- Syndrom" wird - ausgehend von den 1990 veröffentlichten und 2010 modifizierten Kriterien der American College of Rheumatology (ACR) - dann gestellt, wenn die Betroffenen über einen Zeitraum von mindestens drei (teilweise sechs) Monaten ausgedehnte chronische Schmerzen an Muskeln und Sehnen in bestimmten Regionen oder Punkten (ursprünglich war die Schmerzhaftigkeit 11 von 18 typischer sog. "Tender points" gefordert), insbesondere im Bereich der Schultern und des Beckens aber auch des übrigen Bewegungsapparats, klagen, ohne dass andere Ursachen oder Erkrankungen, die diese erklären könnten, beispielweise entsprechende Entzündungszeichen, zu finden wären (vgl. dazu etwa Jaggi, Burnout-praxisnah, 2008, S. 12; Häuser, in: Baron et al. [Hrsg.], Praktische Schmerzmedizin, 2013, S. 423 ff.; kritisch zu den - von ihm seinerzeit mit aufgestellten Kriterien der ACR, Wolfe, Stop using the American College of Rheumatology criteria in the clinic, JRheumatol 2003, S. 1671-1672, abrufbar unter http://www.jrheum.org/content/30/8/1671.full.pdf). Die Betroffenen klagen häufig zudem über eine Vielzahl funktioneller, veget ativer und psychischer Beschwerden, wie schnelle Ermüdbarkeit, Abnahme der Muskelkraft, Kälteempfindlichkeit, Spannungsgefühl im Bereich der Gelenke, Atem- und Herzbeschwerden, Schwindel oder Schlafstörungen (vgl. Heisel/Jerosch, Schmerztherapie der Haltungs- und Bewegungsorgane, S. 346). Ätiologie und Pathogenese der Erkrankung sind derzeit unbekannt. Während teilweise von einem somatischen Hintergrund ausgegangen wird - nach ICD 10 wird die Fibromyalgie als sonstige Erkrankung des Weichteilgewebes unter M 79.7 verschlüsselt - handelt es sich derzeit wohl herrschender Lehrmeinung um ein psychisch bedingtes, somatoformes Schmerzsyndrom (Schreiber, in: Köhler, Fibromyalgie - Ursachen und Therapie einer chronischen Schmerzerkrankung, S. 9; Wolfe, et. al, Symptoms, the Nature of Fibromyalgia, and Diagnostic and Statistical Manual 5 (DSM-5) Defined Mental Illness in Patients with Rheumatoid Arthritis and Fibromyalgia, abrufbar unter: http://www.plosone.org/article/info%3Adoi%2F10.1371%2Fjournal.pone.0088740; vgl. auch Dohrenbusch, Begutachtung somatoformer Störungen und chronifizierter Schmer-zen, 2007, S. 348, wonach "Fibromyalgie" ein "rheumatologische Klassifikationsansatz" für Patienten mit chronischen, nicht weiter erklärbaren Schmerzen bei erhöhter Schmerzempfindlichkeit, ist).


SG Aachen 12. Kammer
27.04.2021
S 12 SB 97/20
Juris



Tatbestand

Zwischen den Beteiligten ist die Höhe des der Klägerin zustehenden Grades der Behinderung (GdB) streitig.

Das Versorgungsamt B. stellte bei der am 00.00.1961 geborenen Klägerin mit Bescheid vom 00.00.2001 aufgrund einer Hörminderung mit Ohrgeräuschen, dem Verlust beider Eierstöcke, einer Migräne und einer Funktionsstörung der Wirbelsäule einen GdB von 30 fest.

Am 11.04.2019 beantragte die Klägerin die Feststellung eines höheren GdB. Sie leide unter Bluthochdruck. Herzpoltern, Refluxbeschwerden, einer Depression, einer Fibromyalgie, einem Lymphödem in den Beinen, Hallux valgus, Migräne, Osteosklerose, Tinnitus, dem Verlust beider Eierstöcke sowie Funktionsstörungen im Bereich der HWS und BWS. Der ärztliche Dienst des Beklagten wertete daraufhin Arztberichte der Chirurgen Dr. T. und Dr. v.I., des Rheumatologen Dr. G., des Allgemeinmediziners T sowie Arzt- und Befundberichte der Internistin und Psychotherapeutin M, des HNO-Arztes Dr. C. und schließlich Befundberichte des Orthopäden Dr. I. aus und kam zu der Einschätzung, die Hörminderung sei, der Verlust beider Eierstöcke, die Migräne und die Funktionsstörung der Wirbelsäule seien mit einem GdB von jeweils 10 zu bewerten. Für eine bestehende seelische Störung (wiederkehrende, zuletzt mittelschwere traurige Verstimmungen, Angstzustände sowie psychosomatische Beschwerden im Sinne einer Somatisierungsstörung und einer Fibromyalgie) sein ein GdB von 30 zu berücksichtigen, so dass der GdB insgesamt weiter mit 30 zu bewerten sei.

Mit Bescheid vom 05.08.2019 lehnte der Beklagte die Feststellung eines höheren GdB ab. Hiergegen legte die Klägerin am 12.08.2019 Widerspruch ein, der - nachdem er trotz Aufforderung nicht näher begründet worden war - durch die Bezirksregierung Münster mit Widerspruchsbescheid vom 10.01.2020 als unbegründet zurückgewiesen wurde.

Die Klägerin hat am 10.02.2020 Klage erhoben.

Sie hat schriftsätzlich beantragt,

den Beklagten unter Aufhebung des Bescheides vom 05.08.2019 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 10.01.2020 zu verurteilen, bei der Klägerin einen Gesamtgrad der Behinderung von mindestens 50 festzustellen.

Der Beklagte hat schriftsätzlich beantragt,

die Klage abzuweisen.

Das Gericht hat Beweis erhoben durch Einholung von Befundberichten der Allgemeinmedizinerin Dr. med. K, des HNO-Arztes Dr. med. C., des Internisten und Rheumatologen Dr. med. I., Internistin und Psychotherapeutin M., des Viszeral- und Gefäßchirurgen Prof. Dr. med. I. sowie eines neurologisch-psychiatrischen Gutachtens der Frau Dr. med. W., welches diese nach Untersuchung der Klägerin am 01.09.2020 und 17.11.2020 gegenüber dem Gericht am 14.12.2020 erstattet hat.

Die Beteiligten haben ihr Einverständnis mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung erklärt.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichtsakte sowie die beigezogene Verwaltungsakte des Beklagten Bezug genommen.


Entscheidungsgründe

Die zulässige Klage ist unbegründet. Die Klägerin ist durch die angefochtenen Bescheide nicht gemäß § 54 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) in ihren Rechten verletzt, da die Bescheide rechtmäßig sind. Der Klägerin steht ein höherer Grad der Behinderung als 30 nicht zu.

Nach § 2 Abs. 1 Satz 1 des Neunten Buches des Sozialgesetzbuches - Rehabilitation und Teilhabe von Menschen mit Behinderungen - (SGB IX) in der Fassung des Gesetzes zur Stärkung der Teilhabe und Selbstbestimmung von Menschen mit Behinderungen (Bundesteilhabegesetz - BTHG) vom 23.12.2016 (BGBl. I S. 3234) sind Menschen mit Behinderungen solche, die körperliche, seelische, geistige oder Sinnesbeeinträchtigungen haben, die sie in Wechselwirkung mit einstellungs- und umweltbedingten Barrieren an der gleichberechtigten Teilhabe an der Gesellschaft mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate hindern können. Eine Beeinträchtigung in diesem Sinne liegt dabei dann vor, wenn der Körper- und Gesundheitszustand von dem für das Lebensalter typischen Zustand abweicht, § 2 Abs. 1 Satz 2 SGB IX.

Gemäß § 152 Abs. 1 Satz 5 SGB IX werden die Auswirkungen auf die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft als Grad der Behinderung nach 10er Graden abgestuft dargestellt. Bei dem Vorliegen mehrerer Beeinträchtigungen der Teilhabe am Leben in der Gesellschaft wird nach § 152 Abs. 3 SGB IX der GdB nach den Auswirkungen der Beeinträchtigungen in ihrer Gesamtheit unter Berücksichtigung ihrer wechselseitigen Beziehungen festgestellt.

Die Bemessung des Gesamt-GdB hat dabei in mehreren Schritten zu erfolgen und ist tatrichterliche Aufgabe (Bundessozialgericht - BSG - Beschluss vom 01.06.2017 - B 9 SB 20/17 B = juris; BSG Beschluss vom 09.12.2010 - B 9 SB 35/10 B = juris Rn. 5 m.w.N.; Landessozialgericht - LSG - Nordrhein-Westfalen Urteil vom 29.06.2012 - L 13 SB 127/11 = juris Rn. 32).

Zunächst sind unter Heranziehung ärztlichen Fachwissens die einzelnen, nicht nur vorübergehenden Gesundheitsstörungen im Sinn von regelwidrigen, von der Norm abweichenden Zuständen gemäß § 2 Abs. 1 SGB IX und die daraus ableitenden Teilhabebeeinträchtigungen festzustellen. Sodann sind diese den in den Versorgungsmedizinischen Grundsätzen genannten Funktionssystemen zuzuordnen und mit einem Einzel-GdB zu bewerten. Schließlich ist unter Berücksichtigung der wechselseitigen Beziehungen in einer Gesamtschau der Gesamt-GdB zu bilden (BSG Urteil vom 30.09.2009 - B 9 SB 4/08 R = juris Rn. 18 m.w.N.; LSG Nordrhein-Westfalen Urteil vom 29.06.2012 - L 13 SB 127/11 = juris Rn. 32).

Nach Teil A Ziffer 3 der Anlage zu § 2 der aufgrund § 30 Abs. 17 (a.F.) Bundesversorgungsgesetzes (BVG) erlassenen Verordnung zur Durchführung des § 1 Abs. 1 und 3, des § 30 Abs. 1 und des § 35 Abs. 1 BVG (BGBl. I 2008, S. 2412 - Versorgungsmedizin-Verordnung) vom 10.12.2008, zuletzt geändert durch Artikel 26 des Gesetzes vom 12.12.2019 (BGBl. I S. 2652), die wegen § 152 Abs. 1 Satz 4 SGB IX auch im Schwerbehindertenrecht zur Anwendung kommt (Versorgungsmedizinischen Grundsätze), sind zur Ermittlung des Gesamtgrades der Behinderung rechnerische Methoden, insbesondere eine Addition der Einzelgrade der Behinderung, nicht zulässig. Vielmehr ist bei der Beurteilung des Gesamtgrades der Behinderung in der Regel von der Funktionsbeeinträchtigung auszugehen, die den höchsten Einzelgrad der Behinderung bedingt und dann im Hinblick auf alle weiteren Funktionsbeeinträchtigungen zu prüfen, ob und inwieweit hierdurch das Ausmaß der Behinderung größer wird, ob also wegen der weiteren Funktionsbeeinträchtigungen dem ersten Grad der Behinderung 10 oder 20 oder mehr Punkte hinzuzufügen sind, um der Behinderung insgesamt gerecht zu werden. Hierbei ist gemäß Teil A Ziffer 3 lit. d) ee) der Versorgungsmedizinischen Grundsätze zu beachten, dass leichtere Gesundheitsstörungen mit einem Einzelgrad der Behinderung von 10 nicht zu einer Erhöhung des Gesamtgrades der Behinderung führen, selbst wenn mehrere dieser leichteren Behinderungen kumulativ nebeneinander vorliegen. Auch bei Leiden mit einem Einzelgrad der Behinderung von 20 ist es vielfach nicht gerechtfertigt, auf eine Zunahme des Gesamtausmaßes der Behinderung zu schließen.

Schließlich sind bei der Festlegung des Gesamt-GdB zudem die Auswirkungen im konkreten Fall mit denjenigen zu vergleichen, für die in den Versorgungsmedizinischen Grundsätzen feste GdB-Werte angegeben sind (BSG Urteil vom 02.12.2010 - B 9 SB 4/10 R = juris Rn. 25; vgl. auch Teil A Ziffer 3 lit. b) Versorgungsmedizinische Grundsätze).

Die anspruchsbegründenden Tatsachen sind, dies gilt nach allgemeinen Grundsätzen des sozialgerichtlichen Verfahrens auch im Schwerbehindertenrecht grundsätzlich im Vollbeweis, d.h. mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit, nachzuweisen (vgl. BSG Urteil vom 15.12.1999 - B 9 VS 2/98 R = juris Rn. 14; Bayerisches LSG Urteil vom 18.06.2013 - L 15 BL 6/10 = juris Rn. 67 ff.; Bayerisches LSG Urteil vom 05.02.2013 - L 15 SB 23/10= juris). Für diesen Beweisgrad ist es zwar nicht notwendig, dass die erforderlichen Tatsachen mit absoluter Gewissheit feststehen. Ausreichend, aber auch erforderlich ist indessen ein so hoher Grad der Wahrscheinlichkeit, dass bei Abwägung des Gesamtergebnisses des Verfahrens kein vernünftiger, den Sachverhalt überschauender Mensch mehr am Vorliegen der Tatsachen zweifelt (vgl. BSG, Urteil vom 28.06.2000 - B 9 VG 3/99 R = juris Rn. 11), d.h. dass die Wahrscheinlichkeit an Sicherheit grenzt (vgl. BSG, Urteil vom 05.05.1993 - 9/9a RV 1/92 = juris Rn. 14). Lässt sich der Vollbeweis nicht führen, geht die Nichterweislichkeit einer Tatsache zu Lasten dessen, der sich zur Begründung seines Anspruchs oder rechtlichen Handelns auf ihr Vorliegen stützen.

Im vorliegenden Fall steht zur Überzeugung der Kammer fest, dass die bei der Klägerin vorliegenden gesundheitlichen Beeinträchtigungen weiterhin einen GdB von 30 rechtfertigen

Die Klägerin leidet zum Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung im Wesentlichen unter:

1. Rezidivierende depressive Störung, gegenwärtig remittiert

2. Anhaltende somatoforme Schmerzstörung, Fibromyalgiesyndrom

3. Migräne, DD Spannungskopfschmerz

4. Ohrgeräusche, Schwerhörigkeit

5. Funktionsstörungen der Wirbelsäule

6. Senk-Spreizfüße mit Hallux valgus und Großzehengrundgelenksarthrose bds.

7. Lipödem Grad II der Oberschenkel

8. Behandlungsbedürftiger Bluthochdruck

9. Verlust beider Eierstöcke

Das Vorliegen dieser Gesundheitsbeeinträchtigungen steht nach Auffassung der Kammer aufgrund der im Verwaltungs- und Klageverfahren eingeholten Befund- und Arztberichte sowie des Gutachten der Neurologin und Psychiaterin Dr. W. fest. Das Gutachten beruht auf umfangreichen Untersuchungen einer erfahrenen gerichtlichen Sachverständigen, die unter Einsatz von diversen Hilfsmitteln durchgeführt worden sind. Die Kammer hat keinen Anlass an der Richtigkeit der in den Gutachten erhobenen medizinischen Befunde und gestellten Diagnosen zu zweifeln. Die Beteiligten haben auch keine substantiierten Einwände gegen die medizinischen Feststellungen erhoben.

Für die Beeinträchtigung der Psyche ist gemäß Teil B Ziffer 3.7 der Versorgungsmedizinischen Grundsätze ein GdB von 30 in Ansatz zu bringen, der nach den überzeugenden Ausführungen der Gutachterin, denen sich die Kammer nach eigener Prüfung anschließt, nur soeben erreicht ist. Neben der depressiven Störung ist hierbei auch die chronifizierte Schmerzstörung im Sinne eines (teilweise so bezeichneten) Fibromyalgie-Syndroms berücksichtigt worden (zum Krankheitsbild der Fibromyalgie vgl. etwa, Heim, T. Fibromyalgie: Trend zum Deskriptiven und Pragmatischen. InFo Neurologie 22, 57 (2020). https://doi.org/10.1007/s15005-020-1545-5; Eich, W., Häuser, W., Arnold, B. et al. Das Fibromyalgiesyndrom. Schmerz 26, 247-258 (2012). https://doi.org/10.1007/s00482-012-1169-x). Die Diagnose eines "Fibromyalgie- Syndrom" wird - ausgehend von den 1990 veröffentlichten und 2010 modifizierten Kriterien der American College of Rheumatology (ACR) - dann gestellt, wenn die Betroffenen über einen Zeitraum von mindestens drei (teilweise sechs) Monaten ausgedehnte chronische Schmerzen an Muskeln und Sehnen in bestimmten Regionen oder Punkten (ursprünglich war die Schmerzhaftigkeit 11 von 18 typischer sog. "Tender points" gefordert), insbesondere im Bereich der Schultern und des Beckens aber auch des übrigen Bewegungsapparats, klagen, ohne dass andere Ursachen oder Erkrankungen, die diese erklären könnten, beispielweise entsprechende Entzündungszeichen, zu finden wären (vgl. dazu etwa Jaggi, Burnout-praxisnah, 2008, S. 12; Häuser, in: Baron et al. [Hrsg.], Praktische Schmerzmedizin, 2013, S. 423 ff.; kritisch zu den - von ihm seinerzeit mit aufgestellten Kriterien der ACR, Wolfe, Stop using the American College of Rheumatology criteria in the clinic, JRheumatol 2003, S. 1671-1672, abrufbar unter http://www.jrheum.org/content/30/8/1671.full.pdf). Die Betroffenen klagen häufig zudem über eine Vielzahl funktioneller, veget ativer und psychischer Beschwerden, wie schnelle Ermüdbarkeit, Abnahme der Muskelkraft, Kälteempfindlichkeit, Spannungsgefühl im Bereich der Gelenke, Atem- und Herzbeschwerden, Schwindel oder Schlafstörungen (vgl. Heisel/Jerosch, Schmerztherapie der Haltungs- und Bewegungsorgane, S. 346). Ätiologie und Pathogenese der Erkrankung sind derzeit unbekannt. Während teilweise von einem somatischen Hintergrund ausgegangen wird - nach ICD 10 wird die Fibromyalgie als sonstige Erkrankung des Weichteilgewebes unter M 79.7 verschlüsselt - handelt es sich derzeit wohl herrschender Lehrmeinung um ein psychisch bedingtes, somatoformes Schmerzsyndrom (Schreiber, in: Köhler, Fibromyalgie - Ursachen und Therapie einer chronischen Schmerzerkrankung, S. 9; Wolfe, et. al, Symptoms, the Nature of Fibromyalgia, and Diagnostic and Statistical Manual 5 (DSM-5) Defined Mental Illness in Patients with Rheumatoid Arthritis and Fibromyalgia, abrufbar unter: http://www.plosone.org/article/info%3Adoi%2F10.1371%2Fjournal.pone.0088740; vgl. auch Dohrenbusch, Begutachtung somatoformer Störungen und chronifizierter Schmer-zen, 2007, S. 348, wonach "Fibromyalgie" ein "rheumatologische Klassifikationsansatz" für Patienten mit chronischen, nicht weiter erklärbaren Schmerzen bei erhöhter Schmerzempfindlichkeit, ist).

Auch die gerichtlich bestellte Gutachterin bewertet die von der Klägerin geschilderten Schmerzen und weiteren Beschwerden als psychische Beeinträchtigung gemäß Teil B Ziffer 3.7 der Versorgungsmedizinischen Grundsätze, was nach Auffassung der Kammer nicht zu beanstanden ist (so schon Sozialgericht - SG - Aachen, Urteil vom 29.04.2014 - S 12 SB 1155/13 = juris), dies schon deshalb, weil im Rahmen des Schwerbehindertenrechts die konkrete Klassifizierung letztlich weitgehend unerheblich ist; geht es doch nicht um die bloßen Diagnosen, sondern um die Auswirkungen der Erkrankungen der Klägerin. Bei der Klägerin sind dies die im Folgenden beschriebenen körperlichen Beschwerden, sowie die psychischen Beeinträchtigungen. Es handelt sich insoweit um eine chronische Schmerzstörung mit somatischen und psychischen Faktoren und einer ebenfalls bestehenden depressiven Störung. Nach den Feststellungen der Gutachterin stehen für die Klägerin ein Überforderungserleben, wenn zu viele Reize auf sie einströmten, und eine Erschöpfung in den Nachmittagsstunden im Vordergrund. Daneben beklagte die Klägerin Schmerzen in den Gliedmaßen und auch generalisiert in der Muskulatur. Im Rahmen einer Evaluation des Aktivitäts- und Sozialniveaus der Klägerin mit Hilfe des Mini-ICF-APP Ratingbogens (vgl. hierzu etwa Köllner/Bassler, Praxishandbuch Psychosomatische Medizin in der Rehabilitation, 2021, S. 60) konnten lediglich im Bereich der Durchhaltefähigkeit und der Spontanaktivitäten mittelgradige Beeinträchtigungen objektiviert werden. Ansonsten war das erhobene Aktivitäts- und Sozialniveau der Klägerin weitgehend ohne besonderen Befund. Die Klägerin macht Urlaub, sie versteht sich mit ihrer Umwelt, hat guten Kontakt zu Freundinnen, sie kümmert sich um sich und ihren Hund, sie arbeitet, bereitet Essen zu, erledigt die Einkäufe und hat sich darüber hinaus intensiv um die - mittlerweile ver storbene - Mutter gekümmert. Vor diesem Hintergrund sind auch nach Auffassung der Kammer die für die Annahme eines GdB von 30 erforderlichen wesentlichen Einschränkungen der Erlebnis- und Gestaltungsfähigkeit bei der Klägerin allerhöchstens gerade nur soeben erreicht, und lassen sich überhaupt nur mit der Schmerzsymptomatik rechtfertigen.

Für die bei der Klägerin bestehenden Kopfschmerzen ist gemäß Teil B Ziffer 2.3 der Versorgungsmedizinischen Grundsätze im Hinblick auf die Art und Dauer der Beeinträchtigungen sowie unter Berücksichtigung der Tatsache, dass die Schmerzproblematik bereits erheblich begründend in den GdB von 30 im Bereich der Psyche eingeflossen mit einem GdB von 10 bewertet.

Für die bei der Klägerin bestehende Schwerhörigkeit, verbunden mit Ohrgeräuschen ist entsprechend den übermittelten Werten des HNO-Arztes Dr. med. C. in seinem Befundbericht in Anwendung von Teil B Ziffer 5.2 und 5.3 der Versorgungsmedizinischen Grundsätze ein GdB von 10, allerhöchstens wohlwollend soeben 20 in Ansatz zu bringen.

Für die somatischen Beschwerden der Wirbelsäule ist gemäß Teil B Ziffer 18.9 der Versorgungsmedizinischen Grundsätze ebenfalls ein GdB von allenfalls 10 in Ansatz zu bringen, da wesentlichen Auswirkungen bei der Klägerin auch unter Berücksichtigung der eingeholten Befundberichte nicht objektiviert werden konnten.

Die Beeinträchtigungen der unteren Extremitäten im Sinne der orthopädischen Beschwerden im Bereich der Füße bedingen gemäß Teil B Ziffer 18.14 der Versorgungsmedizinischen Grundsätze ebenfalls einen GdB von allenfalls 10. Hier finden sich lediglich endgradige Bewegungseinschränkungen im Bereich der Grundzehengroßgelenke.

Für das bestehende Lipödem der Klägerin ist - in entsprechender Anwendung der Regelungen des Teil B Ziffer 9.2.3 der Versorgungsmedizinischen Grundsätze (vgl. hierzu etwa Landessozialgericht Sachsen-Anhalt, Urteil vom 03. Dezember 2014 - L 7 SB 69/09 = juris Rn. 48; SG Aachen, Urteil vom 09.01.2018 - S 18 SB 1001/16 = juris) - im Hinblick auf den Umfang und die konkrete Art der Behandlung ebenfalls ein GdB von höchstens 10 in Ansatz zu bringen.

Der mit dem Wirkstoff Candersartan behandelte Blutdruck bedingt, vor dem Hintergrund einer moderaten Therapie und dem Fehlen von objektivierten Beeinträchtigungen der Zielorgane gemäß Teil B Ziffer 9.3 der Versorgungsmedizinischen Grundsätze ebenfalls einen GdB von höchstens 10.

Der Verlust beider Eierstöcke ist im Hinblick auf das Alter und den hormonellen Status der Klägerin gemäß Teil B Ziffer 14.3 der Versorgungsmedizinischen Grundsätze mit einem GdB von 10 zu bewerten.

Ausgehend von den nachgewiesenen Beeinträchtigungen ist bei der Klägerin für den streitbefangenen Zeitraum nach § 152 Abs. 3 SGB IX (§ 69 Abs. 3 SGB IX a.F.) in Verbindung mit Teil A Nr. 3 der Versorgungsmedizinischen Grundsätze ein GdB von mehr als 30 nicht in Ansatz zu bringen.

§ 152 Abs. 3 Satz 1 SGB IX schreibt vor, bei Vorliegen mehrerer Teilhabebeeinträchtigungen den Grad der Behinderungen nach den Auswirkungen der Beeinträchtigungen in ihrer Gesamtheit unter Berücksichtigung ihrer wechselseitigen Beziehungen festzusetzen. Der maßgebliche Gesamt-GdB ergibt sich dabei aus der Zusammenschau aller Funktionsbeeinträchtigungen. Er ist nicht nach starren Beweisregeln, sondern aufgrund richterlicher Erfahrung unter Hinzuziehung der Sachverständigengutachten sowie der versorgungsmedizinischen Grundsätze in freier richterlicher Beweiswürdigung nach natürlicher, wirklichkeitsorientierter und funktionaler Betrachtungsweise festzustellen (LSG Nordrhein-Westfalen Urteil vom 29.06.2012 - L 13 SB 127/11 = juris Rn. 42 unter Bezugnahme auf BSG Urteil vom 11.03.1998 - B 9 SB 9/97 R = juris Rn. 10 m.w.N.). Dabei ist zu berücksichtigen, ob die Auswirkungen der einzelnen Beeinträchtigungen ineinander aufgehen, sich überschneiden, sich verstärken oder beziehungslos nebeneinander stehen (BSG Urteil vom 02.12.2010 - B 9 SB 4/10 R = juris).

Vorliegend stehen die Beeinträchtigungen Depression und der somatoformen Schmerzstörung (Fibromyalgie) absolut im Vordergrund. Diese bedingen, wie dargelegt, allenfalls soeben einen GdB von 30. Die weiteren Beeinträchtigungen sind nach den Regelungen der Versorgungsmedizinischen Grundsätze nicht geeignet, den GdB von 30 weiter zu erhöhten, da sie nur einen GdB von jeweils 10, allerhöchstens soeben 20 bedingen. Insbesondere die Hörminderung ist nicht geeignet, den GdB von 30 auf 40 zu erhöhen, zumal gerade die Beeinträchtigungen durch den Tinnitus bereits im GdB von 30 von der Psyche mit bewertet worden sind. Die Feststellung des von der Klägerin begehrten GdB von 50 kommt mithin ebenfalls nicht in Betracht. Die objektivierten Beeinträchtigungen der Klägerin lassen sich in ihren Auswirkungen schon nicht gemäß Teil A Ziffer 3 lit. b) der Versorgungsmedizinischen Grundsätze mit einem einzelnen Gesundheitsschaden vergleichen, für den die Versorgungsmedizinischen Grundsätze einen festen GdB-Wert von 50 angeben (vgl. hierzu auch LSG Nordrhein-Westfalen Urteil vom 29.06.2012 - L 13 SB 127/11 = juris Rn. 49 ff. unter Bezugnahme auf die Rechtsprechung des BSG und den hierzu vertretenen Meinungsstand in der Literatur). Dies wäre etwa beim Vorliegen bereits mittelgradiger sozialer Anpassungsschwierigkeiten oder aber der Versteifung großer Teile der Wirbelsäule bzw. der dauerhaften Ruhigstellung durch eine Rumpforthese, die drei Wirbelsäulenabschnitte erfasst (bspw. Milwaukee-Korsett). Entsprechende Beeinträchtigungen sind bei der Klägerin derzeit jedenfalls nicht ansatzweise objektiviert.

Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 183, 193 SGG.



Versorungsmedizinische Grundsätze
in der Fassung der 5. Verordnung zur Änderung der Versorgungsmedizin-Verordnung