psychogene Gangstörung Merkzeichen aG

Eine psychogene Gangstörung begründet keinen Anspruch auf Feststellung des Merkzeichens "aG". Aus Gesundheitsstörungen, die das Gehvermögen nicht oder nur peripher einschränken, sondern lediglich bewirken, dass ein tatsächlich vorhandenes Gehvermögen nicht ausgenutzt wird, kann eine außergewöhnliche Gehbehinderung nicht abgeleitet werden.


Landessozialgericht Baden-Württemberg 8. Senat
24.01.2014
L 8 SB 2723/13
Juris



Leitsatz

Eine psychogene Gangstörung begründet keinen Anspruch auf Feststellung des Merkzeichens "aG". Aus Gesundheitsstörungen, die das Gehvermögen nicht oder nur peripher einschränken, sondern lediglich bewirken, dass ein tatsächlich vorhandenes Gehvermögen nicht ausgenutzt wird, kann eine außergewöhnliche Gehbehinderung nicht abgeleitet werden


Tatbestand

Zwischen den Beteiligten ist streitig, ob bei der Klägerin die gesundheitlichen Merkmale für die Inanspruchnahme des Nachteilsausgleiches (Merkzeichens) außergewöhnliche Gehbehinderung (aG) vorliegen.

Bei 1958 geborenen Klägerin stellte das Landratsamt O. -Integration und Versorgung - (VA) zuletzt mit Ausführungsbescheid vom 02.01.2012 den Grad der Behinderung (GdB) für die Zeit ab 02.12.2011 mit 80 fest.

Am 02.01.2012 beantragte der Bevollmächtigte der Klägerin beim VA die Feststellung des Merkzeichens aG und machte zur Begründung geltend, die Klägerin sei immobil und auf die Benutzung eines Rollstuhls angewiesen.

Unter Berücksichtigung der medizinischen Unterlagen des Verfahrens L 3 SB 1948/08 legte der Versorgungsärztliche Dienst in seiner Stellungnahme vom 30.01.2012 für den Gesamt-GdB von 80 folgende Teil-GdB-Werte zugrunde:

Degenerative Veränderungen der Wirbelsäule, Schulter-Arm-Syndrom, Bandscheibenschaden, Randnummer6 Gangstörung Teil-GdB 30; Diabetes mellitus Teil-GdB 30; Depression, Kopfschmerzsyndrom, somatoforme Schmerzstörung Teil-Gdb 30; Sehminderung beidseitig Teil-GdB 30; Bronchialasthma, chronische Bronchitis, Allergie Teil-GdB 20; Funktionsbehinderung des linken Kniegelenks, Knorpelschäden am linken Kniegelenk Teil-GdB 10; Chronisches Kontaktekzem Teil-GdB 10.

Die Versorgungsärztin führte des weiteren aus, die Klägerin nutze einen Rollstuhl. Ob eine Aggravation oder eine schwere psychogene Gehstörung vorliege, sei nicht nachgewiesen. Bei der Klägerin bestünden erhebliche Verdeutlichungs- und Aggravationstendenzen. Aufgrund dessen sei es nicht möglich, eine tatsächlich bestehende psychogen bedingte Bewegungsstörung von bewusstseinsnahen demonstrierten Bewegungsstörungen zu unterscheiden.

Mit Bescheid vom 06.02.2012 lehnte das VA den Antrag der Klägerin auf Feststellung des Nachteilsausgleiches aG ab, da die Voraussetzungen zur Feststellung des Merkzeichens nicht erfüllt seien. Die bei der Klägerin vorliegenden Funktionsbeeinträchtigungen an den unteren Gliedmaßen und an der Wirbelsäule seien auch nicht so ausgeprägt, dass sie dem als Vergleichsmaßstab genannten Personenkreis entsprächen.

Der hiergegen erhobene Widerspruch wurde nach Einholung einer weiteren versorgungsärztlichen Stellungnahme vom 25.05.2012 mit Widerspruchsbescheid vom 26.06.2012 zurückgewiesen. Zur Begründung wurde ausgeführt, der Sinn der Parkerleichterung sei es, Wege, die nur mit außergewöhnlicher oder großer Anstrengung zu Fuß zurückgelegt werden könnten, zu verkürzen. Eine außergewöhnliche Gehbehinderung in diesem Sinne liege nur vor, wenn die Gehfähigkeit in ungewöhnlich hohem Maße eingeschränkt sei. Als Vergleichsmaßstab sei deshalb am ehesten das Gehvermögen eines Doppeloberschenkel-amputierten heranzuziehen. Dies gelte auch, wenn Gehbehinderte einen Rollstuhl benutzen würden. Es genüge nicht, dass ein solcher verordnet worden sei, der Betroffene müsse vielmehr ständig auf den Rollstuhl angewiesen sein. Unter Berücksichtigung der von der Klägerin geklagten Beschwerden könne sie jedoch diesem begünstigten Personenkreis nicht gleichgestellt werden. Weder der Bandscheibenschaden noch die Funktionsbeeinträchtigung der Kniegelenke und das chronische Schmerzsyndrom begründeten eine außergewöhnliche Gehbehinderung. Die Untersuchung des Bewegungsapparates in der Reha-Klinik S. B. im Oktober 2010 beschreibe eine Beweglichkeit der unteren Extremitäten im Rollstuhl. Eine schwere psychogen bedingte Gangstörung ergebe sich aus den aktenkundigen Befundunterlagen ebenfalls nicht. Es seien erhebliche Verdeutlichungs-, Aggravations- und Somatisierungstendenzen beobachtet worden. Auch habe eine ausgeprägte Muskelatrophie der Beine - wie sie bei einer Gehunfähigen vorliegen müssten - nicht festgestellt werden können. Die Zuerkennung des Merkzeichens aG lasse sich daher nicht begründen.

Dagegen erhob die Klägerin am 03.07.2012 Klage zum Sozialgericht Ulm und verfolgte ihr Begehren weiter. Ihr Bevollmächtigter trug vor, die Klägerin sei auf die Benutzung eines Rollstuhls angewiesen, weshalb ihr das Merkzeichens aG zuzuerkennen sei.

Das SG zog den Bericht des Klinikum S. W. - Klinik für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik - vom 01.03.2012 über die stationäre Behandlung der Klägerin vom 11.02. bis 01.03.2012 (Diagnose: schwere depressive Episode ohne psychotische Symptome, u. a.) bei und hörte die die Klägerin behandelnden Ärzte (Augenarzt Dr. P. vom 20.08.2012 und Hautarzt Dr. W. vom 05.09.2012) als sachverständige Zeugen. Auf den Inhalt ihrer Auskünfte wird Bezug genommen.

Der die Klägerin behandelnde Orthopäde Dr. Z., den das SG als sachverständigen Zeugen hörte, teilte dem SG am 07.10.2012 mit, die Klägerin habe sich bei ihm jeweils im Rollstuhl vorgestellt und sie sei nach eigenen Angaben seit 2008 rollstuhlpflichtig. Die Ursache der Gangstörung sei unklar.

Der Beklagte trat der Klage entgegen und legte die versorgungsärztliche Stellungnahme vom 10.01.2013 vor. Darin ist ausgeführt, bei aktenkundigen Aggravationstendenzen sei eine psychogene Gangstörung von Krankheitswert, die von einer simulierten oder aggravierten Gangstörung abgegrenzt sei, die bei zumutbarer Willensanspannung nicht überwindbar sei und die das Merkzeichen aG begründe, nicht nachgewiesen. Dr. Z. habe in seiner Auskunft nur eine Gangstörung mit Benutzung eines Rollstuhles genannt, wobei ihm die Ursache der Gangstörung unklar sei. Entsprechende korrelierende orthopädische oder neurologische Befunde, die eine Rollstuhlpflichtigkeit begründen könnten, seien der Auskunft von Dr. Z. und den beigefügten Berichten nicht zu entnehmen. Detaillierte Prüfungen zur Funktionsfähigkeit der unteren Gliedmaßen und zur Gehfähigkeit seien von Dr. Z. offenbar nicht durchgeführt worden.

Der Facharzt für Innere Medizin Dr. S. berichtete dem SG (Schreiben vom 24.07.2011), die Klägerin befinde sich noch immer im Rollstuhl. Es sei nicht gelungen die eigentliche Gehfähigkeit bzw. die Gehreserven der Klägerin zu objektivieren, höchstwahrscheinlich liege eine Art von psychischer Hemmung vor. Dr. S. - Facharzt für Neurologie und Psychiatrie, Psychotherapie - teilte dem SG am 26.07.2011 mit, die Klägerin sitze im Rollstuhl, es handele sich um eine funktionelle Parese, das heiße, eine Lähmung der Beine ohne nachweisbaren organischen Defekt.

Anschließend zog das SG aus dem Rentenverfahren (S 12 R 525/11) das nervenärztliche gerichtliche Sachverständigengutachten der Ärztin für Neurologie und Psychiatrie Dr. A. vom 07.02.2013 bei. Danach gab die Klägerin bei ihrer Untersuchung vom 23.01.2013 u.a. an, sie habe Pflegestufe beantragt, aber nicht bekommen. Sie sei seit 2008 im Rollstuhl. Zuvor habe sie bei verschiedenen Firmen gearbeitet, zuletzt am 28.02.2006. Mit der Arbeit habe sie aufgehört da sie krank geworden sei. Mit dem Heilverfahren 2010 sei sie nicht einverstanden, die Beschäftigungstherapie habe sie an ihre Arbeitsstelle erinnert. Außerdem habe es dort einen stressigen Pfleger gegeben. Der habe behauptet, sie sei gar nicht gelähmt. Dann sei sie hingefallen und man habe ihr nicht mehr aufgeholfen. Dr. A. stellte bei der körperlichen Untersuchung fest, dass die Beinmuskulatur der Klägerin kräftig entwickelt war. Beim passiven Hochheben des Beines gegen die Schwerkraft werde das Bein auch kurzzeitig gehalten. Es bestünden keine Atrophien und auch keine Paresen, weder schlaff noch spastisch. Nach ihrer Beurteilung bestehe bei der Klägerin auf neurologisch-psychiatrischem Fachgebiet eine dissoziative Störung, eine Somatisierungsstörung und der Verdacht auf eine diabetische Neuropathie. Bei der Klägerin bestehe eine dissoziative Bewegungsstörung im Sinne einer funktionellen Beinlähmung. Der klinische Befund sei eindeutig und widerlege das Vorliegen einer Lähmung. Hiergegen sprächen normale Reflexe, ein seitengleiches normales Tibialis-SEP und das Fehlen jeglicher Muskelatrophien. Auffallend sei auch die Hornhaut an den Füßen an typischer Stelle, wie sie bei Menschen, die seit Jahren ihre Beine nicht mehr benützen würden, nicht vorkäme. Unter Berücksichtigung qualitativer Einschränkungen sei bei der Klägerin ein noch vollschichtiges Leistungsvermögen gegeben.

Mit Urteil vom 11.04.2013 wies das SG die Klage ab. In den Entscheidungsgründen ist ausgeführt, die Voraussetzungen zur Feststellung des Merkzeichens aG seien in der Person der Klägerin nicht erfüllt. Die Voraussetzungen einer außergewöhnlichen Gehbehinderung seien bei der Klägerin nicht nachgewiesen. Es sei schon nicht nachgewiesen, dass die Klägerin andauernd auf die Benutzung eines Rollstuhles angewiesen sei und sich ab dem ersten Schritt nur unter außergewöhnlicher Anstrengung oder mit fremder Hilfe fortbewegen könne. Dr. A. habe bei ihrer Untersuchung festgestellt, dass die Klägerin über eine kräftige Beinmuskulatur bei normalen Reflexen verfüge und da Muskelatrophien (Muskelschwund) völlig fehlten. Der Klägerin sei es auch möglich gewesen, sich im Rollstuhl zu bewegen und beim passiven Hochheben der Beine diese kurzzeitig zu halten. Ein solcher klinischer Befund widerlege das Vorliegen einer Lähmung der Beine wie dies Dr. A. in ihrem Gutachten nachvollziehbar ausgeführt habe. Desweiteren habe Dr. A. auch Hornhaut an den Füßen vorgefunden, wie sie beim Menschen, die seit Jahren ihre Beine nicht mehr zum Gehen benutzen würden, nicht vorkomme. Letztlich sei es der Klägerin daher nicht gelungen nachzuweisen, dass eine psychogene Gangstörung vorliege, die eine außergewöhnliche Gehbehinderung darstelle.

Gegen das - dem Bevollmächtigten der Klägerin am 27.06.2013 zugestellte - Urteil hat der Bevollmächtigte der Klägerin am 03.07.2013 Berufung eingelegt. Er verfolgt das Begehren der Klägerin weiter und trägt ergänzend vor, die Gehfähigkeit der Klägerin sei so stark eingeschränkt, dass es der Klägerin unzumutbar sei, längere Wege zu Fuß zurückzulegen. Schon seit vielen Jahren sei die Klägerin nicht mehr in der Lage, sich ohne Hilfe eines Rollstuhls fortzubewegen. Sie sei auch innerhalb der Wohnung auf die Benutzung eines Rollstuhls angewiesen. Die vorliegenden medizinischen Unterlagen würden suggerieren, es wären keine organischen Gesundheitsstörungen bei der Klägerin vorhanden die eine außergewöhnliche Gangstörung begründen könnten. Sollte dies der Fall sein, so sei Ursache für die außergewöhnliche Gangstörung nur in ihrer psychischen Ausnahmesituation zu sehen. Wenn im Gutachten Dr. A. festgestellt werde, dass die Klägerin über eine kräftige Beinmuskulatur bei normalen Reflexen verfüge und Muskelatrophien völlig fehlten, so hätte Anlass dazu bestanden nachzufragen, warum dieser Zustand so sei. Tatsächlich sei es so, dass die Klägerin einerseits Krankengymnastik erhalte und zum anderen eine technische Vorrichtung habe, mit welcher durch Motor betrieben die Muskulatur gestärkt werden könne. Vorgelegt wurde der Arztbrief des Neurologen/Psychiaters Dr. S. vom 29.07.2013 (Diagnose: chron. agitiertes depressives Syndrom, hysterisch-dissoziative Störung, somatoforme Schmerzstörung) und der Bericht der Praxis für Krankengymnastik S. W. vom 12.08.2013.

Die Klägerin beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Ulm vom 11. April 2013 sowie den Bescheid der Beklagten vom 06. Februar 2012 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 26. Juni 2012 aufzuheben und den Beklagten zu verurteilen, die gesundheitlichen Merkmale für die Inanspruchnahme des Nachteilsausgleiches aG seit 30.12.2011 festzustellen.

Der Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Er hält das angefochtene Urteil für zutreffend.

In nichtöffentlicher Sitzung vom 14.11.2013 sind die Beteiligten gehört worden. Hierbei hatte die Klägerin angegeben, sie stehe in nervenärztlicher Behandlung bei Dr. S. alle sechs Wochen. Sie werde behandelt wegen Schlafstörung und familiärer Probleme aufgrund ihrer Krankheit. Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt (Sitzungsniederschrift vom 14.11.2013).

Wegen weiterer Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf den Inhalt der Verwaltungsakten des Beklagten, der Akten des SG Ulm, der Vorprozessakten L 3 SB 1948/08 und der Senatsakten Bezug genommen.


Entscheidungsgründe

Die gemäß den §§ 143, 144 Sozialgerichtsgesetz (SGG) statthafte Berufung der Klägerin, über die der Senat gem. § 124 Abs. 2 SGG mit Einverständnis der Beteiligten durch Urteil ohne mündliche Verhandlung hat entscheiden können, ist auch im Übrigen zulässig (§ 151 SGG). Sie ist jedoch nicht begründet. Das angefochtene Urteil des SG ist nicht zu beanstanden. Der Klägerin steht gegen den Beklagten kein Anspruch auf die Zuerkennung des Nachteilsausgleiches aG zu.

Maßgebliche Rechtsgrundlage für die Feststellung des Merkzeichens „aG“ ist § 69 Abs. 4 Sozialgesetzbuch Neuntes Buch (SGB IX) i.V.m. §§ 1 Abs. 4 und 3 Abs. 1 Nr. 1 der Schwerbehindertenausweisverordnung vom 25.07.1991, zuletzt geändert durch Art. 7 des Gesetzes vom 02.12.2006 (BGBl. I S. 2742). Danach ist das Merkzeichen „aG“ festzustellen, wenn der behinderte Mensch außergewöhnlich gehbehindert im Sinne des § 6 Abs. 1 Nr. 14 des Straßenverkehrsgesetzes oder entsprechender straßenverkehrsrechtlicher Vorschriften ist.

Eine derartige straßenverkehrsrechtliche Vorschrift ist die Allgemeine Verwaltungsvorschrift zur Straßenverkehrsordnung (VwV-StVO) vom 26.01.2001 (BAnz S. 1419, berichtigt S. 5206), zuletzt geändert durch Art. 1 ÄndVwV vom 10.04.2006 (BAnz S. 2968). Nach Abschnitt II Nr. 1 der VwV-StVO zu § 46 Abs. 1 Nr. 11 StVO sind als schwerbehinderte Menschen mit außergewöhnlicher Gehbehinderung solche Personen anzusehen, die sich wegen der Schwere ihres Leidens dauernd nur mit fremder Hilfe oder nur mit großer Anstrengung außerhalb ihres Kraftfahrzeuges bewegen können. Hierzu zählen Querschnittsgelähmte, Doppeloberschenkelamputierte, Doppelunterschenkelamputierte, Hüftexartikulierte und einseitig Oberschenkelamputierte, die dauernd außerstande sind, ein Kunstbein zu tragen oder nur eine Beckenkorbprothese tragen können, oder zugleich unterschenkel- oder armamputiert sind, sowie andere schwerbehinderte Menschen, die nach versorgungsärztlicher Feststellung, auch aufgrund von Erkrankungen, dem zuvor genannten Personenkreis gleichzustellen sind.

Die Klägerin gehört - unstreitig - nicht zu dem ausdrücklich genannten Personenkreis der außergewöhnlich Gehbehinderten.

Die Klägerin kann dem genannten Personenkreis auch nicht gleichgestellt werden, da ihre Gehfähigkeit nicht in ungewöhnlich hohem Maße eingeschränkt ist oder sie sich nicht nur unter ebenso großen Anstrengungen wie die in der VwV genannten Personen oder nur noch mit fremder Hilfe fortbewegen kann. Dies steht für den Senat aufgrund der zu den Akten gelangten ärztlichen Unterlagen und der vom SG durchgeführten Ermittlungen fest.

Bis zum 31.12.2008 waren die „Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertenrecht“ (Teil 2 SGB IX), Ausgabe 2008 (AHP) heranzuziehen (BSG, Urteil vom 23.06.1993 - 9/9a RVs 1/91 - BSGE 72, 285; BSG, Urteil vom 09.04.1997 - 9 RVs 4/95 - SozR 3-3870 § 4 Nr. 19; BSG, Urteil vom 18.09.2003 - B 9 SB 3/02 R - BSGE 190, 205; BSG, Urteil vom 29.08.1990 - 9a/9 RVs 7/89 - BSG SozR 3-3870 § 4 Nr. 1). Seit 01.01.2009 ist an die Stelle der AHP die Anlage „Versorgungsmedizinische Grundsätze“ (VG) zu § 2 der Verordnung zur Durchführung des § 1 Abs. 1 und 3, § 30 Abs. 1 und § 35 Abs. 1 BVG (Versorgungsmedizin-Verordnung; VersMedV) getreten. Damit hat das Bundesministerium für Arbeit und Soziales von der Ermächtigung nach § 30 Abs. 16 BVG zum Erlass einer Rechtsverordnung Gebrauch gemacht und die maßgebenden Grundsätze für die medizinische Bewertung von Schädigungsfolgen und die Feststellung des Grades der Schädigungsfolgen im Sinne des § 30 Abs. 1 BVG aufgestellt. Nach § 69 Abs. 1 Satz 5 SGB IX gelten diese Maßstäbe auch für die Feststellung des GdB.

Die Anlage VG zur VersMedV ist rechtlich allerdings nicht beachtlich. Eine gesetzliche Ermächtigung für den Verordnungsgeber, die Grundsätze für die nach dem Schwerbehindertenrecht zu beurteilenden Nachteilsausgleiche durch Verordnung regeln zu können, enthalten weder § 30 Abs. 16 BVG, der nicht auf die im Schwerbehindertenrecht im SGB IX geregelten Nachteilsausgleiche verweist (vgl. Dau, jurisPR-SozR 4/2009), noch andere Regelungen des BVG. Eine Rechtsgrundlage zum Erlass einer Verordnung über Nachteilsausgleiche ist auch nicht in den einschlägigen Vorschriften des SGB IX vorhanden. Die Regelungen der VG zum Nachteilsausgleich „aG“ (wie auch „G“) sind damit mangels entsprechender Ermächtigungsgrundlage rechtswidrig. Dies entspricht ständiger Rechtsprechung des Senats (vgl. Urteile des Senats vom 23.07.2010 - L 8 SB 3119/08 - vom 14.08.2009 - L 8 SB 1691/08 -, beide veröffentlicht in juris und im Internet: www.sozialgerichtsbarkeit.de). Rechtsgrundlage sind daher allein die genannten gesetzlichen Bestimmungen und die hierzu in ständiger Rechtsprechung zulässig anzuwendenden Verwaltungsvorschriften.

Ein Betroffener ist danach gleichzustellen, wenn seine Gehfähigkeit in ungewöhnlich hohem Maße eingeschränkt ist und er sich nur unter ebenso großen Anstrengungen wie die in Nr. 11 Abschnitt II Nr. 1 Satz 2 1. Halbsatz VwV-StVO aufgeführten schwerbehinderten Menschen oder nur noch mit fremder Hilfe fortbewegen kann (BSG SozR 3-3870 § 4 Nr. 23). Hierbei ist zu beachten, dass die maßgebenden straßenverkehrsrechtlichen Vorschrift nicht darauf abstellen, über welche Wegstrecke ein schwerbehinderter Mensch sich außerhalb seines Kraftfahrzeuges zumutbar noch bewegen kann, sondern darauf, unter welchen Bedingungen ihm dies nur noch möglich ist: nämlich nur noch mit fremder Hilfe oder nur mit großer Anstrengung. Wer diese Voraussetzung - praktisch von den ersten Schritten außerhalb seines Kraftfahrzeuges an - erfüllt, qualifiziert sich für den entsprechenden Nachteilsausgleich auch dann, wenn er gezwungenermaßen auf diese Weise längere Wegstrecken zurücklegt (vgl. BSG SozR 3-3250 § 69 Nr. 1 und Urteil vom 29.03.2007 - B 9a SB 1/06 R -, juris).

Dass die Klägerin überhaupt nicht Gehen oder Stehen kann und daher auf den Rollstuhl angewiesen ist, ist zur Überzeugung des Senats nicht nachgewiesen. Die Klägerin hat dies zwar behauptet, dem stehen aber ärztliche Befunde, insbesondere die von Dr. A. erhobenen, entgegen. Dr. A. hat bei ihrer Untersuchung der Klägerin festgestellt, dass die Klägerin über eine kräftige Beinmuskulatur bei normalen Reflexen verfügt und das Muskelatrophien völlig fehlen. Zudem war es der Klägerin auch möglich, beim passiven Hochheben der Beine dieser kurzzeitig zu halten. Diese erhobenen Befunde sprechen gegen das Vorliegen einer Lähmung der Beine. Die bei der Klägerin vorliegende kräftige Beinmuskulatur steht daher im Widerspruch zu ihren Angaben, sie könne nicht gehen und stehen. Auch der die Klägerin behandelnde Orthopäde Dr. Z. hat in seiner Auskunft vom 07.10.2012 darauf hingewiesen, dass für ihn die Ursache der Gangstörung bei der Klägerin unklar ist. Eine orthopädische Ursache für eine Gangstörung bei der Klägerin ist daher nicht nachgewiesen. Ebenso wenig ist eine Ursache psychogener Art für eine Gangstörung bei der Klägerin nachgewiesen. Denn die für eine psychogene Gangstörung zuständigen Fachärzte für Neurologie, Psychiatrie, Psychosomatik haben eine psychogene Ursache für eine Gangstörung bei der Klägerin nicht festgestellt. Dem entsprechend wird die Klägerin auch von diesen Ärzten, insbesondere Dr. S., Facharzt für Neurologie und Psychiatrie, nicht wegen einer Gangstörung fachärztlich behandelt. Dies ergibt sich insbesondere aus den Angaben der Klägerin im Erörterungstermin vom 14.11.2013, wonach sie von Dr. S. lediglich wegen Schlafstörung und familiärer Probleme aufgrund ihrer Krankheit, nicht aber wegen Schwierigkeiten beim Gehen und Stehen behandelt wird.

Das Vorbringen der Klägerin, eine Muskelatrophie der unteren Extremitäten sei durch Nutzung eines Motor betriebenen Gerätes zur Bewegung der Beine und Krankengymnastik verhindert worden, ist nicht überzeugend und zwingt zu keiner anderen Beurteilung. Abgesehen davon, dass die behauptete Behandlung zum gezielten Muskelaufbau der Beine mit der Bescheinigung der Krankengymnastik-Praxis vom 12.08.2013 nicht nachgewiesen ist, geschweige denn deren Beginn und Behandlungsdauer, ist die behauptete Anwendung einer CPM (Continious Passiv Motion)-Schiene nicht geeignet, allein durch passive Bewegung der Muskulatur eine Muskelatrophie zu verhindern bzw. einen Muskelaufbau zu bewirken, wie der auch für Unfallversicherung und Streitigkeiten zur Rehabilitation behinderter Menschen zuständige Senat aus vergleichbaren Fällen weiß. Die vorgelegte Bescheinigung der Praxis zur Krankengymnastik enthält darüberhinaus keine Hinweise auf eine spezifische Therapie für den Muskelaufbau, insbesondere nicht im Zusammenhang mit der Anwendung einer CPM-Schiene etwa auf die Durchführung einer EMS(Elektro Muskel Stimulans)-Therapie. Die ärztlicherseits (Dr. A. Gutachten vom 07.06.2013) beschriebene Bildung von Hornhaut an der Fußsohle spricht zudem für eine regelmäßige und stärkere Beanspruchung der Füße durch die Fortbewegung zu Fuß, weshalb das Berufungsvorbringen der Klägerin nicht glaubhaft ist.

Nach alledem ist somit zur Überzeugung des Senats nicht nachgewiesen, dass die Klägerin zur Fortbewegung auf den Rollstuhl angewiesen ist, weil sie weder Gehen noch Stehen kann. Randnummer36 Darüber hinaus wäre eine psychogene Gangstörung, die aus einer psychiatrischen Diagnose ableitbar wäre und die Klägerin hindert, ihr körperlich uneingeschränktes Gehvermögen auszunutzen, nicht geeignet, die Gleichstellung mit dem in der Verwaltungsvorschrift zu § 46 Abs. 1 Nr. 11 StVO genannten Personenkreis zu begründen. Nach ständiger Rechtsprechung des Senats sind für die Prüfung der Gleichstellung nur die Beeinträchtigungen des Gehvermögens selbst und nicht Funktionsstörungen, die das Gehvermögen nicht oder nur peripher einschränken, maßgebend. Dies folgt unmittelbar aus den aufgeführten schwerwiegenden Gehbehinderungen der in Abschnitt II Nr. 1 der VwV-StVO zu § 46 Abs. 1 Nr. 11 StVO genannten Personen, mit denen eine Gleichstellung zu prüfen ist (Urteil des Senats vom 23.07.2010 – L 8 SB 3119/08 –, juris Rn. 30, www.sozialgerichtsbarkeit.de). Der Wortlaut des § 6 Abs. 1 Nr. 14 StVG ergibt, dass es allein auf das Maß der Gehbehinderung ankommt. Auch der Zusammenhang mit der Regelung in der VwV-StVO macht den Gesetzeszweck deutlich, dass das Restgehvermögen für den Nachteilsausgleich „aG“ maßgebend ist. Nach der an diesem Gesetzeszweck orientierten Rechtsprechung des Bundessozialgerichts muss daher der Leidenszustand die Möglichkeit der Fortbewegung auf das Schwerste behindern (grundlegend Urteil vom 08.05.1981 - 9 RVs 5/80 -). Die genannte Rechtsprechung ist in der Folgezeit durch weitere Entscheidungen des BSG bestätigt worden (z.B. Urteile vom 06.11.1985 - 9a RVs 7/83 - und vom 13.12.1994 - 9 RVs 3/94 - betreffend Anfallsleiden und Störungen der Orientierungsfähigkeit; zuletzt Urteile vom 29.03.2007 - B 9a SB 1/06 R - und 05.07.2007 - B 9/9a SB 5/06 R betreffend den Begriff der großen Anstrengung). Allen genannten Entscheidungen gemein ist, dass der Nachteilsausgleich „aG“ eine Einschränkung des Gehvermögens des betreffenden Behinderten auf das Schwerste erfordert. Danach sind maßgebend für den Nachteilsausgleich „aG“ nur die Beeinträchtigungen des Gehvermögens selbst (die auch auf schweren Herz- und Lungenkrankheiten beruhen können) und nicht Funktionsstörungen, die das Gehvermögen als solches nicht beeinträchtigen. Aus Gesundheitsstörungen, die das Gehvermögen nicht oder nur peripher einschränken, sondern lediglich bewirken, dass ein tatsächlich vorhandenes Gehvermögen, wie es bei der Klägerin vorliegt, nicht ausgenützt wird, kann eine außergewöhnliche Gehbehinderung nicht abgeleitet werden (vgl. z.B. Urteile des Senats 24.02.2012 – L 8 SB 1738/11 – betreffend eine phobische Gangbildstörung, vom 20.05.2011 - L 8 SB 4848/10 - betreffend Stuhlinkontinenz und vom 29.07.2011 - L 8 SB 576/10 - betreffend Orientierungslosigkeit; alle nicht veröffentlicht).

Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 193 SGG.

Anlass, die Revision zuzulassen, besteht nicht.



Versorungsmedizinische Grundsätze
in der Fassung der 5. Verordnung zur Änderung der Versorgungsmedizin-Verordnung