Eine leichtgradige Coxarthrose und ein Wirbelsäulenleiden ohne relevante Bewegungseinschränkungen rechtfertigen nicht die Feststellung des Merkzeichens aG.


Landessozialgericht Sachsen-Anhalt 7. Senat
23.04.2014
L 7 SB 97/13
Juris



Leitsatz

Eine leichtgradige Coxarthrose und ein Wirbelsäulenleiden ohne relevante Bewegungseinschränkungen rechtfertigen nicht die Feststellung des Merkzeichens aG. Sofern eine Herz- und Lungeninsuffizienz vorliegt, ist erst bei schweren kardialen Dekompensationserscheinungen bzw einer schweren Lungenfunktionseinschränkung die Feststellung des Merkzeichens aG gerechtfertigt. Gegen eine auf das schwerste eingeschränkte Gehfähigkeit spricht, wenn ärztlicherseits keine Notwendigkeit zum Einsatz von Hilfsmitteln zur Fortbewegung gesehen wird.


Tatbestand

Zwischen den Beteiligten ist umstritten, ob die Voraussetzungen für die Feststellung des Merkzeichens aG (außergewöhnliche Gehbehinderung) vorliegen.

Bei dem am ... 1932 geborenen Kläger stellte der Beklagte mit Bescheid vom 26. November 1992 einen Grad der Behinderung (GdB) von 80 aufgrund einer psychischen Behinderung mit ausgeprägten psychosomatischen Beschwerden und degenerativen Wirbelsäulenveränderungen sowie die Merkzeichen G (erhebliche Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr) und RF (Befreiung von der Rundfunkgebührenpflicht) fest. Mit Bescheid vom 18. April 2008 stellte er einen GdB von 90 sowie weiterhin die Merkzeichen G und RF fest und legte nach einer prüfärztlichen Stellungnahme folgende Einzelbehinderungen zugrunde: Psychische Erkrankung (GdB 80), Funktionseinschränkung der Wirbelsäule bei degenerativen Veränderungen (GdB 20), Funktionseinschränkung beider Hüftgelenke, Bandlockerung linkes Fußgelenk (GdB 20), Bluthochdruck (GdB 20), venöse Durchblutungsstörung des linken Beines (GdB 10), Funktionseinschränkung des rechten Schultergelenkes (GdB 10), Bronchitis (GdB 10), Magenschleimhautentzündung (GdB 10).

Nachdem der Beklagte bereits mehrere Anträge des Klägers auf Feststellung des Merkzeichen aG abgelehnt hatte, beantragte der Kläger am 10. Dezember 2012 erneut dieses Merkzeichen und verwies auf seine Gehbehinderung. Der Beklagte holte einen Befundschein des Facharztes für Allgemeinmedizin G. vom Januar 2013 ein, der über progrediente Schmerzen und Bewegungseinschränkungen beider Knie- und Hüftgelenke bei bereits leichten Belastungen sowie eine periphere arterielle Verschlusskrankheit (PAVK, Stadium II a) berichtete. In Anlage übersandte er den Arztbrief des Dr. K. vom A- Klinikum H. vom Juni 2010, wonach beim Kläger eine Coxarthrose mit einer eingeschränkten Beweglichkeit des rechten Hüftgelenkes (Extension/Flexion 0/0/80 Grad nach der Neutral-Null-Methode, Außenrotation/Innenrotation 10/0/20 Grad, Abduktion/Adduktion 20/0/20 Grad) vorliege. Außerdem lag dem Befundschein der Arztbrief des Facharztes für Orthopädie S. vom März 2011 bei, der ein Cervicobrachialsyndrom mit eingeschränkter Seitneigung (beidseits 20 Grad) diagnostiziert hatte. Der beteiligte ärztliche Dienst des Beklagten führte in seiner Stellungnahme aus, die leichtgradige Bewegungseinschränkung des rechten Hüftgelenkes führe zu keiner höheren Bewertung des GdB und rechtfertige nicht die Feststellung des Merkzeichens aG. Dem folgend lehnte der Beklagte mit Bescheid vom 19. März 2013 den Antrag des Klägers auf Feststellung des Merkzeichens aG ab. Dagegen legte der Kläger am 21. März 2013 Widerspruch ein und verwies auf stationäre Behandlungen im H.-klinikum wegen akuten Nierenversagens und starker Wassereinschwemmung. Aufgrund der starken Schmerzen im rechten Hüftgelenk sei er extrem gehbehindert und könne nur noch ganz langsam kurze Strecken gehen. Mit Stellungnahme vom 25. April 2013 führte der ärztliche Gutachter des Beklagten Dr. B. aus, eine wesentliche Verschlimmerung des Gesundheitszustandes sei nicht durch objektive Befunde belegt. Die Beschwerden im Bereich der Wirbelsäule und der unteren Extremitäten erlaubten keine Gleichstellung mit schweren Einschränkungen des Gehvermögens wie bei einem Doppeloberschenkelamputierten. Erkrankungen der inneren Organe, die eine solche Gleichstellung rechtfertigten, wie beispielsweise Krankheiten der Atmungsorgane mit Einschränkung der Lungenfunktion schweren Grades sowie Herzschäden mit schweren Dekompensationserscheinungen oder Ruheinsuffizienz lägen beim Kläger nicht vor. Mit Widerspruchsbescheid vom 30. April 2013 wies der Beklagte den Widerspruch des Klägers zurück.

Am 10. Mai 2013 hat der Kläger beim Sozialgericht (SG) Magdeburg Klage erhoben und vorgetragen: Aufgrund seiner extremen Gehbehinderung könne er sich nur noch mühsam fortbewegen. Das SG hat einen weiteren Befundbericht des Hausarztes G. vom 13. Juli 2013 eingeholt. Danach leide der Kläger unter einer arteriellen Hypertonie (Stadium II WHO) mit hypertensiver Herzerkrankung und chronischer Herzinsuffizienz (Stadium III bis IV nach NYHA), einem chronischen Halswirbelsäulen-/Lendenwirbelsäulensyndrom bei ausgeprägter Spondylarthrose und Osteochondrose der gesamten Wirbelsäule mit Myogelosen, einer Polyarthrose, einer Thrombose des linken Beines (Januar 2013), einem Postcholezystektomiesyndrom, einem chronischen Reizdarm und COPD. Dadurch sei er stark bewegungseingeschränkt; insbesondere sei die Rotation endgradig blockiert. Weiterhin habe er bewegungs- und belastungsabhängige Hüft-, Knie- und Schulterbeschwerden. Es liege eine progrediente Gangbildstörung vor, die insbesondere seit ein bis zwei Jahren deutlich werde. Die anamnestisch angegebene Wegstrecke liege unter 100 Meter. Das SG hatte mit Befundanforderung den Arzt um Einschätzung gebeten, ob eine außergewöhnliche Gehbehinderung vorliege und dazu folgende Hinweise gegeben: "Eine außergewöhnliche Gehbehinderung besteht bei schwerbehinderten Menschen, die sich wegen der Schwere ihres Leidens dauernd nur mit fremder Hilfe oder mit großer Anstrengung außerhalb ihres Fahrzeuges bewegen können. Hierzu zählen Querschnittsgelähmte, Doppeloberschenkelamputierte, Doppelunterschenkelamputierte, Hüftexartikulierte und einseitig Oberschenkelamputierte, die dauernd außer Stande sind, ein Kunstbein zu tragen, oder nur eine Beckenkorbprothese tragen können oder zugleich unterschenkel- oder armamputiert sind, sowie diesem Personenkreis Gleichzustellende. Bei der Frage der Gleichstellung von behinderten Menschen mit Schäden an den unteren Gliedmaßen ist zu beachten, dass das Gehvermögen auf das Schwerste eingeschränkt sein muss und deshalb als Vergleichsmaßstab am ehesten das Gehvermögen eines Doppeloberschenkelamputierten heranzuziehen ist. Dies gilt auch, wenn Gehbehinderte einen Rollstuhl benutzen. Es genügt nicht, dass ein solcher verordnet worden ist; der Betroffene muss vielmehr ständig auf einen Rollstuhl angewiesen sein. Als Erkrankung der inneren Organe, die eine solche Gleichstellung rechtfertigen, sind beispielsweise Herzschäden mit schweren Dekompensationserscheinungen oder Ruheinsuffizienz sowie Krankheiten der Atmungsorgane mit Einschränkung der Lungenfunktion schweren Grades (d. h. Atemnot bereits bei leichtester Belastung oder in Ruhe) anzusehen". Auf die gerichtliche Frage, ob bei dem Kläger eine außergewöhnliche Gehbehinderung in diesem Sinne vorliege, hat der Arzt G. "nein" angekreuzt. In Anlage hat er den Arztbrief des Dr. A. vom August 2011 über die Behandlung des Klägers im Klinikum Q. mit den Diagnosen COPD mit Lungenemphysem, einem Zustand nach Cholezystektomie und Tricuspidalinsuffizienz II° mit leichter pulmonaler Hypertonie übersandt. Die dort durchgeführte Echokardiographie habe eine gute globalsystolische Pumpfunktion des Herzens, die Spirometrie eine schwere Restriktion und eine mäßige Obstruktion der Lunge gezeigt. Von einer veränderten Inhalationsbehandlung habe der Kläger sehr profitiert. Mit dem ebenfalls beigelegten Arztbrief vom Januar 2013 hat der Facharzt für Innere Medizin Dr. K. vom Klinikum W. über die stationäre Behandlung des Klägers im Januar 2013 berichtet. Danach sei eine Thrombose, eine chronisch venöse Insuffizienz sowie eine relevante PAVK beidseits ausgeschlossen worden. Unter Trinkmengenbeschränkung und Therapie sei es zu einem raschen Rückgang der Unterschenkelödeme gekommen.

Am 1. November 2013 hat der Kläger erneut das Merkzeichen aG beim Beklagten beantragt und als weitere Erkrankungen eine Lungenüberblähung, einen Leberschaden, einen Kreissägeunfall mit Verlust des Daumens und einen Nierenschaden geltend gemacht.

Mit Urteil vom 15. November 2013 hat das SG die Klage abgewiesen und zur Begründung ausgeführt: Der Kläger gehöre nicht zum ausdrücklich genannten Personenkreis der außergewöhnlich Gehbehinderten. Er sei diesem auch nicht gleichzustellen, denn er könne sich nach dem Befundbericht des Arztes G. nicht nur noch mit ebenso großer Anstrengung wie die ausdrücklich genannten außergewöhnlich Gehbehinderten fortbewegen. Schwergradige Funktionsstörungen der unteren Extremitäten habe der Arzt nicht berichtet. Allein die erhebliche Gangbildstörung mit deutlicher Minderung der möglichen Wegestrecke (anamnestisch unter 100 Meter) rechtfertige nicht die Feststellung des Merkzeichens aG. Nach dem Arztbrief des A-Klinikums H. bestehe lediglich eine leichte Coxarthrose rechts. Darüber hinaus habe der Kläger selbst nicht angegeben, dass er sich nur noch unter großer Anstrengung fortbewegen könne. Er habe vielmehr ausgeführt, er könne nur noch extrem langsam und nur ganz kurze Strecken gehen.

Am 21. November 2013 hat der Kläger Berufung beim SG eingelegt und vorgetragen: Er sei extrem kurzatmig und habe manifeste Ventilationsstörungen. Er leide an einer Dyspnoe und einer starken Lungenüberblähung. Das SG habe nicht berücksichtigt, dass er wegen akuter Erstickungsgefahr zweimal als akuter Notfall in stationärer Behandlung gewesen sei. Die Pumpleistung des Herzens sei stark herabgesetzt. Erst durch ein straffes Reglement (täglich nur eine Tasse ungesüßten Tee trinken, straffes Wickeln der Unterschenkel) habe sich sein Zustand gebessert.

Mit Bescheid vom 28. November 2013 hat der Beklagte den erneuten Antrag des Klägers vom 1. November 2013 abgelehnt und ausgeführt: Die Verletzung des rechten Daumens mit Wundheilungsstörung bedinge keinen zusätzlichen GdB. Hinsichtlich des Merkzeichens aG werde auf das Urteil des SG vom 18. November 2013 verwiesen. Am 18. Dezember 2013 hat der Kläger einen weiteren Neufeststellungsantrag beim Beklagten gestellt. Mit Widerspruchsbescheid vom 17. Januar 2014 änderte der Beklagte den Bescheid vom 28. November 2013 ab und stellte beim Kläger ab 1. November 2013 einen GdB von 100 fest. Die Voraussetzungen für die Feststellung des Merkzeichens aG lägen auch weiterhin nicht vor.

Der Kläger beantragt nach seinem schriftlichen Vorbringen,

das Urteil des Sozialgerichts Magdeburg vom 15. November 2013 und den Bescheid des Beklagten vom 19. März 2013 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 30. April 2013 aufzuheben und den Beklagten zu verpflichten, bei ihm ab 10. Dezember 2012 die gesundheitlichen Voraussetzungen für das Merkzeichen aG festzustellen.

Der Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Nach seiner Ansicht sind die Voraussetzungen für eine außergewöhnliche Gehbehinderung auch weiterhin nicht festzustellen.

Der Senat hat einen weiteren Befundbericht des Hausarztes G. vom 9. Februar 2014 eingeholt. Dieser hat folgende Diagnosen gestellt: chronisch vertebragenes Schmerzsyndrom, Coxarthrose (rechts mehr als links), Omarthrose (Arthrose im Schultergelenk) rechts, Postcholezystektomiesyndrom, koronare Herzkrankheit, arterielle Hypertonie, chronische Herzinsuffizienz Stadium III bis IV nach NYHA, Tinnitus, chronische Kolitis, Hämorrhoiden, COPD, Harn-/Stuhlinkontinenz, Arteriosklerose, PAVK. Die Gehfähigkeit sei insbesondere durch die Coxarthrose rechts, die Osteochondrose der Lendenwirbelsäule, die Spondylarthrose der gesamten Wirbelsäule und die PAVK eingeschränkt. Ein Rollstuhl werde nicht genutzt. Gehhilfen seien anamnestisch in Gebrauch. Diese Hilfsmittel seien durch ihn aber nicht verordnet worden. Ihm sei nicht bekannt, welche Wegstrecken der Kläger ohne Rollstuhl zurücklegen könne. Das Gangbild des Klägers sei schleppend. Zeitweise liege ein Schonhinken rechts vor. Der Kläger benötige Pausen beim Gehen, Angaben über die aktuell mögliche Wegstrecke könne er nicht machen. Die Pausen seien aufgrund der Coxalgien und der Rückenbeschwerden notwendig. Der Kläger erreiche die Praxis mit dem Auto. Der Weg vom Parkplatz zum Praxisgebäudefahrstuhl betrage ca. 10 bis 15 Meter. Zusammenfassend hat der Arzt ausgeführt, eine außergewöhnliche Gehbehinderung nach dem durch das SG vorgegebenen Maßstab bestehe auch weiterhin nicht. In Anlage zum Befundbericht hat sich nochmals der Arztbrief des Klinikums W. über die stationäre Behandlung im Januar 2013 befunden, mit dem am 9. September 2013 ergänzend über den klinischen Befund berichtet worden war. Danach seien Wirbelsäule, Thorax und Lungen (abgesehen von exspiratorischem Giemen und diskretem Entfaltungsknistern), Herz und Kreislauf, Abdomen, Extremitäten und orientierende neurologische Untersuchung regelrecht gewesen. Die Echokardiografie habe eine konzentrische Linksherzhypertrophie mit guter Ejektionsfraktion an der unteren Norm gezeigt.

Hinsichtlich des weiteren Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichtsakte und die Verwaltungsakte des Beklagten, die Gegenstand der mündlichen Verhandlung und Entscheidungsfindung gewesen sind, Bezug genommen.


Entscheidungsgründe

Der Senat durfte den Rechtsstreit in Abwesenheit des Klägers verhandeln und entscheiden, weil dieser ordnungsgemäß geladen und in der Ladung auf diese Möglichkeit hingewiesen worden ist, § 110 Abs. 1 Satz 2 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG).

Die form- und fristgemäß eingelegte und gemäß § 143 SGG auch statthafte Berufung des Klägers ist unbegründet.

Die angefochtenen Bescheide und das Urteil des SG Magdeburg sind rechtmäßig und verletzen den Kläger nicht in seinen Rechten (§ 54 Abs. 2 SGG). Der Kläger hat keinen Anspruch auf Feststellung der gesundheitlichen Voraussetzungen für das Merkzeichen aG, denn er ist nicht außergewöhnlich gehbehindert.

Anspruchsgrundlage für die begehrte Feststellung der gesundheitlichen Voraussetzungen für das Merkzeichen aG ist § 69 Abs. 4 des Neunten Buches des Sozialgesetzbuches (SGB IX). Danach stellen die zuständigen Behörden die gesundheitlichen Merkmale fest, die Voraussetzung für die Inanspruchnahme von Nachteilsausgleichen für schwerbehinderte Menschen sind. Zu diesen Merkmalen gehört auch die außergewöhnliche Gehbehinderung im Sinne des § 6 Abs. 1 Nr. 14 des Straßenverkehrsgesetzes (StVG) oder entsprechender straßenverkehrsrechtlicher Vorschriften, für die in den Schwerbehindertenausweis das Merkzeichen aG einzutragen ist (§ 3 Abs. 1 Nr. 1 SchwbAwV). Diese Feststellung zieht straßenverkehrsrechtlich die Gewährung von Parkerleichterungen im Sinne von § 46 Abs. 1 Nr. 11 StVO nach sich, wobei Ausgangspunkt für die Feststellung der außergewöhnlichen Gehbehinderung die in der allgemeinen Verwaltungsvorschrift zur Straßenverkehrsordnung (VwV-StVO) enthaltenen Regelungen sind. Nach Abschnitt II Nr. 1 VwV-StVO zu § 46 Abs. 1 Nr. 11 StVO sind als schwerbehinderte Menschen mit außergewöhnlicher Gehbehinderung solche Personen anzusehen, die sich wegen der Schwere ihres Leidens dauernd nur mit fremder Hilfe oder nur mit großer Anstrengung außerhalb ihres Kraftfahrzeuges bewegen können. Dazu zählen Querschnittsgelähmte, Doppeloberschenkelamputierte, Doppelunterschenkelamputierte, Hüftexartikulierte und einseitig Oberschenkelamputierte, die dauernd außerstande sind, ein Kunstbein zu tragen, oder nur eine Beckenkorbprothese tragen können oder zugleich unterschenkel- oder armamputiert sind, sowie andere schwerbehinderte Menschen, die nach versorgungsärztlicher Feststellung, auch aufgrund von Erkrankungen, dem vorstehenden Personenkreis gleichzustellen sind. Ein Betroffener ist gleichzustellen, wenn seine Gehfähigkeit in ungewöhnlich hohem Maße eingeschränkt ist und er sich nur unter ebenso großen Anstrengungen wie die in Abschnitt II Nr. 1 Satz 2 erster Halbsatz VwV-StVO zu § 46 Abs. 1 Nr. 11 StVO aufgeführten schwerbehinderten Menschen oder nur noch mit fremder Hilfe fortbewegen kann (vgl. BSG, Urteil vom 29. März 2007, B 9 a SB 5/05 R, juris). Entscheidend ist dabei nicht, über welche Gehstrecken ein schwerbehinderter Mensch sich außerhalb seines Kraftfahrzeuges zumutbar noch bewegen kann, sondern, unter welchen Bedingungen ihm dies nur noch möglich ist: nämlich nur noch mit fremder Hilfe oder mit großer Anstrengung. Wer diese Voraussetzungen - praktisch von den ersten Schritten außerhalb seines Kraftfahrzeuges an - erfüllt, qualifiziert sich für den entsprechenden Nachteilsausgleich auch dann, wenn er gezwungenermaßen auf diese Weise längere Wegstrecken zurücklegt (vgl. BSG, Urteil vom 10. Dezember 2002, B 9 SB 7/01 R, juris sowie ständige Rechtsprechung des Senates, vgl. nur Urteil vom 25. September 2012, L 7 SB 29/10, juris).

Ob bei der Prüfung des Vorliegens einer außergewöhnlichen Gehbehinderung ergänzend die im Wesentlichen inhaltsgleichen Bestimmungen in Teil D, Nr. 3 der Anlage zu § 2 der seit dem 1. Januar 2009 geltende Versorgungsmedizin-Verordnung (VersMedV) vom 10. Dezember 2008 in ihrer jeweils geltenden Fassung heranzuziehen sind, kann dahinstehen. Denn ungeachtet der Frage, ob die Regelungen der VersMedV zum Merkzeichen aG rechtswirksam erlassen worden sind (verneinend: LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 23. Juli 2010, L 8 SB 3119/08, juris), liegen die gesundheitlichen Voraussetzungen für den von dem Kläger begehrten Nachteilsausgleich unter Berücksichtigung aller in Betracht kommender Regelungen nicht vor.

Der Kläger gehört nicht zum ausdrücklich genannten Personenkreis der außergewöhnlich Gehbehinderten. Auch eine Gleichstellung des Klägers mit dem vorgenannten Personenkreis ist nicht möglich. Sein Gehvermögen ist nicht in ungewöhnlich hohem Maße eingeschränkt bzw. er kann sich nicht nur unter ebenso großen Anstrengungen wie die in der straßenverkehrsrechtlichen Verwaltungsvorschrift bzw. in der Anlage zu § 2 VersMedV genannten Personen oder nur noch mit fremder Hilfe fortbewegen. Weder die orthopädischen noch die internistischen Behinderungen des Klägers rechtfertigen die Feststellung des Merkzeichens aG. Das ergibt sich aus den übereinstimmenden Einschätzungen des Hausarztes G. und der Prüfärzte des Beklagten. Diese haben auf Grundlage der objektiven medizinischen Befunde mit nachvollziehbarer Begründung die Voraussetzungen des Merkzeichens aG übereinstimmend verneint. Dem schließt sich der Senat an. Randnummer22 Die vorhandenen orthopädischen Behinderungen erschweren zwar die Gehfähigkeit des Klägers. So hat der Arzt G. über ein schleppendes Gangbild mit zeitweisem Schonhinken rechts berichtet. Die Einschränkungen rechtfertigen jedoch nicht die Annahme einer außergewöhnlich schweren Gehbehinderung im Sinne des Merkzeichens aG. Nach dem Befundbericht des Arztes G. wird die Gehfähigkeit insbesondere durch die Coxarthrose rechts, die Osteochondrose der Lendenwirbelsäule und die Spondylarthrose der gesamten Wirbelsäule eingeschränkt. Doch hat er keine eigenen Bewegungsmaße erhoben, so dass das Ausmaß der durch die orthopädischen Erkrankungen bestehenden Bewegungseinschränkungen nicht nachvollziehbar ist. Mit Befundbericht vom 13. Juli 2013 hat er lediglich auf eine endgradig blockierte Rotation hingewiesen, die aber nicht die Feststellung des Merkzeichens aG rechtfertigt. Nach dem Befund des Klinikums H. vom Juni 2010 ist die Coxarthrose zwar mit einer eingeschränkten Beweglichkeit des rechten Hüftgelenkes verbunden. Allerdings ist die Beweglichkeit dadurch nicht so stark eingeschränkt (Extension/Flexion 0/0/80 Grad, Außenrotation/Innenrotation 10/0/20 Grad, Abduktion/Adduktion 20/0/20 Grad), dass daraus auf eine außergewöhnliche Gehbehinderung geschlossen werden kann. Auch der Orthopäde S. hat in seinem Arztbrief vom März 2011 nicht über schwere Bewegungseinschränkungen der Lendenwirbelsäule und/oder der unteren Extremitäten berichtet, sondern nur ein Cervicobrachialsyndrom mit eingeschränkter Seitneigung diagnostiziert. Bei der Behandlung im Januar 2013 im Klinikum W. waren die Wirbelsäule und Extremitäten sowie die orientierende neurologische Untersuchung sogar regelrecht gewesen. Die im Bescheid vom 18. April 2008 festgestellte Bandlockerung des linken Fußgelenkes ist in der Folgezeit in den medizinischen Befunden nicht mehr erwähnt. Damit rechtfertigt keinesfalls der orthopädische Befund - auch unter Berücksichtigung der Einschränkungen im Schulterbereich aufgrund der Arthrose, der Kniegelenksbeschwerden, des Cervicobrachialsyndrom, der Polyarthrose und der Einschränkungen im Daumenbereich - die Feststellung des Merkzeichens aG.

Auch die internistischen Erkrankungen des Klägers, die dieser im Berufungsverfahren in den Mittelpunkt seiner gesundheitlichen Beschwerden gerückt hat, führen nicht zur Feststellung des Merkzeichens aG. Zwar kann auch eine Herzleistungsminderung als innere Erkrankung die Feststellung des Merkzeichens aG rechtfertigen. Doch setzt dies einen Herzschaden mit schweren Dekompensationserscheinungen oder Ruheinsuffizienz (d.h. Einzel-GdB von 80 bis 100) voraus (vgl. Versorgungsmedizinische Grundsätze, Teil D, Nr. 3c). Nach dem Befundbericht des Hausarztes G. vom 13. Juli 2013 leidet der Kläger an einer arteriellen Hypertonie (Stadium II WHO) mit hypertensiver Herzerkrankung und chronischer Herzinsuffizienz (Stadium III bis IV nach NYHA). Die damit verbundenen Einschränkungen entsprechen aber keinem Herzschaden mit schweren Dekompensationserscheinungen oder Ruheinsuffizienz. Nach dem Arztbrief des Dr. A. vom August 2011 habe die im Klinikum Q. durchgeführte Echokardiographie eine gute globalsystolische Pumpfunktion des Herzens gezeigt. Im Arztbrief des Klinikums W. über die dortige Behandlung im Januar 2013 wurde weiterhin über einen regelrechten Herz- und Kreislaufbefund und eine ebenfalls gute Pumpfunktion berichtet. Auch die Lungenerkrankung des Klägers rechtfertigt nicht die Feststellung des Merkzeichens aG, denn dies würde eine Lungenfunktionseinschränkung schweren Grades voraussetzen (vgl. Versorgungsmedizinische Grundsätze, Teil D, Nr. 3c). Davon ist nach Teil B Nr. 8.3 der Versorgungsmedizinischen Grundsätze erst auszugehen, wenn Atemnot bereits bei leichtester Belastung oder in Ruhe (statische und dynamische Messwerte der Lungenfunktionsprüfung um mehr als zwei Drittel niedriger als die Sollwerte, respiratorische Globalinsuffizienz) eintritt. Die von den Ärzten G. und Dr. A. (Klinikum Q., Arztbrief vom August 2011) diagnostizierte COPD mit Lungenemphysem rechtfertigt nicht die Annahme einer schwergradigen Lungenfunktionseinschränkung nach diesem Maßstab. Zwar wurde im Klinikum Q. aufgrund der Spirometrie eine schwere Restriktion und eine mäßig Obstruktion der Lunge festgestellt. Eine respiratorische Globalinsuffizienz und eine Atemnot bereits bei leichtester Belastung oder in Ruhe wurden aber nicht diagnostiziert. Im Übrigen ist eine Verbesserung des Gesundheitszustandes bereits im Klinikum Q. durch eine veränderte Inhalationsbehandlung eingetreten. Im Klinikum W. konnte beim stationären Aufenthalt des Klägers im Januar 2013, abgesehen vom exspiratorischen Giemen und dem diskreten Entfaltungsknistern, ein regelrechter Befund von Thorax und Lungen festgestellt werden. Eine auf das schwerste eingeschränkte Gehfähigkeit wegen einer schwergradigen Lungenerkrankung kann nach alledem somit nicht festgestellt werden.

Auch unter Berücksichtigung der weiteren Erkrankungen des Klägers kann nicht das Merkzeichen aG begründet werden. Der Arzt G. hat in seinem Befundbericht vom 9. Februar 2014 neben den bereits aufgeführten Erkrankungen auch ein Postcholezystektomiesyndrom, einen Tinnitus, eine chronische Kolitis, Hämorrhoiden, eine Harn-/ Stuhlinkontinenz und eine Arteriosklerose diagnostiziert. Ein Zusammenhang zwischen diesen Erkrankungen und der eingeschränkten Gehfähigkeit des Klägers ist nicht erkennbar und wird auch weder von dem behandelnden Hausarzt beschrieben noch vom Kläger behauptet. Auch die ebenfalls vom Arzt G. diagnostizierte PAVK II a (Befundschein vom Januar 2013), die nach seiner Ansicht ebenfalls die Gehfähigkeit des Klägers einschränkt, rechtfertigt nicht die Feststellung des Merkzeichens aG. Denn während der stationären Behandlung im Januar 2013 im Klinikum W. wurden eine relevante PAVK, eine Thrombose und eine chronisch venöse Insuffizienz ausgeschlossen, so dass keinesfalls auf diese Erkrankungen die Feststellung des Merkzeichens aG gestützt werden kann. Schließlich kann aufgrund der vom Kläger angegebenen stationären Notfallbehandlungen wegen Nierenversagens, Wassereinschwemmungen und Leberfunktionsstörungen nicht das Merkzeichen aG festgestellt werden. Denn ein akutes Behandlungsleiden, das nach den vorliegenden Arztbriefen zu keiner dauerhaften Funktionsstörung geführt, kann nicht zur Begründung eines GdB bzw. zur Begründung von Merkzeichen herangezogen werden.

Da keine bei dem Kläger bestehende Erkrankung den objektiven Rückschluss auf eine außergewöhnliche Gehbehinderung zulässt, kann auch dahingestellt bleiben, ob die vom Kläger angegebene Wegstrecke (unter 100 Meter) die Feststellung des Merkzeichens aG rechtfertigt. Letztlich spricht auch gegen eine auf das Schwerste eingeschränkte Gehfähigkeit, dass nach dem Befundbericht des Arztes G. der Kläger nur anamnestisch Gehhilfen einsetzt. Insbesondere hat der Arzt ausdrücklich darauf hingewiesen, dass er diese nicht verordnet hat. Auch in den weiteren medizinischen Unterlagen ist die Notwendigkeit des Einsatzes von Gehhilfen nicht beschrieben worden. Von einer Einschränkung der Gehfähigkeit praktisch von den ersten Schritten außerhalb eines Kraftfahrzeuges kann somit nicht ausgegangen werden. Insgesamt sind die vorliegenden Gehbehinderungen des Klägers in ihren Auswirkungen nicht mit denen vergleichbar, für die nach Abschnitt II Nr. 1 VwV-StVO zu § 46 Abs. 1 Nr. 11 StVO eine außergewöhnliche Gehbehinderung anzunehmen ist.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Die Revision war nicht zuzulassen, weil Zulassungsgründe nach § 160 SGG nicht gegeben sind.



Versorungsmedizinische Grundsätze
in der Fassung der 5. Verordnung zur Änderung der Versorgungsmedizin-Verordnung