Gleichstellungsantrag rückwirkende Feststellung
Maßgeblich ist daher für die Frage, ob ein behinderter Mensch einem Schwerbehinderten gleichzustellen ist, der Zeitpunkt der Antragstellung
Vorgreiflich iS des § 114 Abs 2 SGG ist in einem Rechtsstreit um Gleichstellung gemäß § 2 Abs 3 SGB 9 das bereits anhängige Verfahren bei der Versorgungsverwaltung, in dem über den Antrag auf Feststellung eines GdB 30 zu entscheiden ist. Denn auch die spätere Feststellung eines GdB von 30 (rückwirkend) bezogen auf den Zeitpunkt der Stellung des Gleichstellungsantrages oder jedenfalls einem späteren, noch während des laufenden Gleichstellungsverfahrens liegenden Zeitpunkts erfüllt die entsprechende Gleichstellungsvoraussetzung.
Im Rahmen des dem Gericht obliegenden Aussetzungsermessens ist ein Sonderkündigungsschutz nach Ablauf der Frist des GdB-Antragsverfahrens nach §§ 69 Abs 1 S 2, 90 Abs 2a SGB 9 als rechtlich geschütztes Interesse am fortdauernden Gleichstellungsverfahren zu prüfen.
Zwischen den Beteiligte ist in der Hauptsache eine Gleichstellung der Klägerin mit schwerbehinderten Menschen i.S.d. § 2 Abs. 3 SGB XI streitig; vorliegend wendet sich die Beklagte gegen die vom Sozialgericht Stuttgart (SG) angeordnete Aussetzung des Verfahrens gemäß § 114 Abs. 2 SGG.
Am 07.05.2012 beantragte die Klägerin, der bislang ein GdB von 20 zuerkannt ist, bei der Beklagten die Gleichstellung gemäß § 2 Abs. 3 SGB XI. Diesem Begehren entsprach die Beklagte mit Bescheid vom 30.05.2012 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 28.06.2013 deshalb nicht, weil kein GdB von mindestens 30 festgestellt sei. Gegen diese Entscheidung der Beklagten hat die Klägerin am 15.07.2013 beim SG Stuttgart Klage erhoben und im Hinblick auf das beim selben SG anhängige Verfahren S 18 SB 2253/12, in dem um die Feststellung eines höheren GdB gestritten wird, die Aussetzung des gegen die Beklagte geführten Klageverfahrens beantragt. Das SG hat mit Beschluss vom 12.08.2013 das Verfahren im Hinblick auf das Verfahren S 18 SB 2253/12 nach § 114 Abs. 2 SGG ausgesetzt.
Gegen den ihr am 14.08.2013 zugestellten Beschluss hat die Beklagte am 28.08.2013 beim Landessozialgericht Baden-Württemberg (LSG) Beschwerde erhoben. Ein GdB von 30 sei der Klägerin durch die zuständige Behörde vorliegend noch nicht zuerkannt. Ein Gleichstellungsantrag ohne einen GdB von 30 biete keinen Schutz vor einer Kündigung. Auch bestehe kein Rechtsschutzbedürfnis für eine Aussetzung, denn die Klägerin könne bei Änderung der Verhältnisse, insbesondere bei bestandskräftiger Zuerkennung eines GdB von 30 jederzeit einen Neuantrag stellen. Jedoch führe selbst eine Feststellung eines GdB von 30 erst ab dem Datum des Feststellungsbescheides zu einer Gleichstellung. Eine solche Feststellung bewirke keine Rückwirkung einer Gleichstellung ab dem Tag der Antragstellung.
Die Beklagte beantragt,
den Beschluss des Sozialgerichts Stuttgart vom 12.08.2013 aufzuheben.
Die Klägerin beantragt,
die Beschwerde zurückzuweisen.
Die Klägerin hat auf die Rechtsprechung des BAG vom 01.03.2007 (2 AZR 217/06) verwiesen und ausgeführt, die Aussetzung des Verfahrens entspreche der Verfahrensökonomie. Es sei nicht sachgerecht, sie angesichts der Vorgaben der Rechtsprechung des BAG auf wiederholte Anträge zu verweisen.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts sowie des Vorbringens der Beteiligten wird auf die Akten des Senats sowie die beigezogenen Akten des SG und der Beklagten Bezug genommen. II.
Die gemäß § 172 SGG - es handelt sich bei der Aussetzung des Verfahrens durch Beschluss nicht lediglich um eine prozessleitende Verfügung i.S.d. § 172 Abs. 2 SGG (dazu vgl. Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 10. Auflage, § 114 RdNr. 9; Breitkreuz in Breitkreuz/Fichte, SGG, § 114 RdNr. 17), auch ist die Beschwerde vorliegend nicht nach § 173 Abs. 3 SGG ausgeschlossen - statthafte und i.S.d. § 173 SGG form- und fristgemäß erhobene Beschwerde ist zulässig, aber unbegründet.
Gemäß § 114 Abs. 2 S. 1 SGG kann das Gericht anordnen, dass die Verhandlung bis zur Erledigung des anderen Rechtsstreits oder bis zur Entscheidung der Verwaltungsstelle auszusetzen sei, wenn die Entscheidung des Rechtsstreits ganz oder zum Teil vom Bestehen oder Nichtbestehen eines Rechtsverhältnisses abhängt, das den Gegenstand eines anderen anhängigen Rechtsstreits bildet oder von einer Verwaltungsstelle festzustellen ist.
Das Ergebnis des zwischen der Klägerin und der Beklagten geführten Rechtsstreits wird u.a. vom Ausgang des von der Klägerin gegenüber der Versorgungsverwaltung geführten Verfahrens S 18 SB 2253/12 abhängen.
Nach der Rechtsprechung des BSG (19.12.2001 – B 11 AL 57/01 R, BSGE 89, 119-124 = SozR 3-3870 § 2 Nr. 2 = juris RdNr. 26) wird die Gleichstellung gemäß § 2 Abs. 3 SGB IX durch den Bescheid der Beklagten konstitutiv mit Wirkung ab Antragstellung begründet. Maßgeblich ist daher für die Frage, ob ein behinderter Mensch einem Schwerbehinderten gleichzustellen ist, der Zeitpunkt der Antragstellung (BSG 02.03.2000 – B 7 AL 46/99 R, BSGE 86, 10-16 = juris RdNr. 15). Zu diesem Zeitpunkt lagen im hiesigen Rechtsstreit die Voraussetzungen für die Gleichstellung - mangels Zuerkennung eines GdB von 30 durch die Versorgungsverwaltung - (noch) nicht vor. Ob eine solche Zuerkennung aber im dortigen Rechtsstreit mit Wirkung ab der dortigen Antragstellung, die vor dem hiesigen Antrag liegt, auszusprechen ist, wird das SG im Verfahren S 18 SB 2253/12 zu entscheiden haben. Insoweit hängt die Entscheidung im vorliegenden Rechtsstreit davon ab, ob im Verfahren S 18 SB 2253/12 die Versorgungsverwaltung verpflichtet wird, der Klägerin einen GdB von 30 bzw. 40 zuzuerkennen und zwar ab einem Zeitpunkt, der spätestens dem der Antragstellung im vorliegenden Verfahren (07.05.2012) entspricht.
Aber auch wenn sich abzeichnen sollte, dass eine Zuerkennung eines GdB von 30 bzw. 40 erst ab einem späteren Zeitpunkt in Betracht kommt, so hinge der Ausgang des vorliegenden Rechtsstreits dennoch vom Ergebnis des Verfahrens S 18 SB 2253/12 ab. Denn nach der Rechtsprechung des BSG (02.03.2000 – B 7 AL 46/99 R, BSGE 86, 10-16 = juris RdNr. 15) sind in dem mittels Verpflichtungs- bzw. Anfechtungs- und Leistungsklage betriebenen, auf Gleichstellung gerichteten Verfahren alle im Laufe des Verwaltungs-, Widerspruchs- und Klageverfahren eintretenden tatsächlichen und rechtlichen Änderungen bis zum Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung in einer Tatsacheninstanz zu berücksichtigen. Insoweit ist nach ständiger Rechtsprechung des Senats (vgl. Urteil vom 25.01.2013 - L 8 AL 363/12, unveröffentl.) im Klageverfahren zwischen der Klägerin und der Beklagten zu berücksichtigen, ob (spätestens) zum Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung die Voraussetzungen einer Gleichstellung schon bzw. noch vorliegen (dazu vgl. z.B. BSG a.a.O.; Hessisches LSG 19.06.2013 - L 6 AL 116/12 - juris RdNr. 31). Wird der Klägerin daher ein GdB von 30 bzw. 40 zuerkannt mit Wirkung eines Zeitpunkts, der nach Antragstellung im vorliegenden Verfahren liegt (07.05.2012), so ist diese Änderung auch im vorliegenden Rechtsstreit von Bedeutung und zu berücksichtigen. Lediglich dann, wenn im vorliegenden Rechtsstreit offensichtlich ist, dass eine Gleichstellung auch unabhängig von der Zuerkennung eines GdB von 30 bzw. 40 nicht in Betracht kommt, könnte Vorgreiflichkeit i.S.d. § 114 Abs. 2 SGG verneint werden. Dies ist vorliegend aber nicht der Fall.
Hängt damit der Ausgang des vorliegenden Rechtsstreits auch von demjenigen des Verfahrens S 18 SB 2253/12 ab, so liegt Vorgreiflichkeit i.S.d. § 114 Abs. 2 SGG vor.
Auch wenn durch die Aussetzung eine Verzögerung des Gerichtsverfahrens bis zum ungewissen Zeitpunkt der Erfüllung der Anspruchsvoraussetzungen eintritt und die Klägerin auch nach Zuerkennung eines GdB von 30 bzw. 40 einen Neuantrag auf Gleichstellung stellen könnte, so entfällt damit das Rechtsschutzinteresse der Klägerin am vorliegenden - ausgesetzten - Verfahren nicht. Denn zunächst würde der nach - auch rückwirkender - Zuerkennung eines GdB von 30 bzw. 40 gestellte neue Gleichstellungsantrag nur ab dem Datum dieses Antrages wirken (BSG 19.12.2001 a.a.O.); eine weiter zurückreichende Gleichstellung käme nicht in Betracht.
Im Übrigen begründet vorliegend auch § 90 Abs. 2a SGB IX ein Rechtsschutzinteresse - auch am ausgesetzten Verfahren. Danach besteht Sonderkündigungsschutz i.S.d. § 85 ff SGB IX für Personen auch dann, wenn zum Zeitpunkt der Kündigung die Eigenschaft als schwerbehinderter Mensch nicht nachgewiesen ist oder das Versorgungsamt nach Ablauf der Frist des § 69 Abs. 1 Satz 2 SGB IX eine Feststellung wegen fehlender Mitwirkung nicht treffen konnte. Diese Regelung hat das BAG (01.03.2007 - 2 AZR 217/06, BAGE 121, 335-346 = juris RdNr. 43) auch für den Antrag auf Gleichstellung übertragen: Trotz fehlenden Nachweises bleibe der Sonderkündigungsschutz nach § 90 Abs. 2a 2. Alt. SGB IX bestehen, wenn das Fehlen des Nachweises nicht auf fehlender Mitwirkung des Arbeitnehmers beruhe. Das Fehlen des Nachweises beruhe jedenfalls dann auf fehlender Mitwirkung des Arbeitnehmers, wenn er den Antrag auf Anerkennung oder Gleichstellung nicht mindestens drei Wochen vor der Kündigung gestellt habe (BAG a.a.O.). Da der Klägerin mithin während des laufenden, auf Gleichstellung gerichteten Klageverfahrens ein Sonderkündigungsschutz zukommen kann - ob dieser besteht, müssen die Arbeitsgerichte in einem gegen eine Kündigung geführten Rechtsstreit entscheiden - besteht ein Interesse daran, das Verfahren gegen die Beklagte vorliegend - auch ausgesetzt oder ruhend - weiter offen zu lassen bis sich im auf Feststellung eines GdB von 30 geführten Verfahren eine Entscheidung ergeben hat. Dieses Weiterbetreiben eines Verfahrens bei ungewissem Ausgang ist wegen des möglichen Sonderkündigungsschutzes aber auch nicht rechtsmissbräuchlich.
Der Senat folgt der Argumentation der Beklagten und ihren Hinweisen auf die Rechtsprechung des LSG Nordrhein-Westfalen bzw des Hessischen LSG nicht. So war z.B. in der Entscheidung des LSG Nordrhein-Westfalen vom 06.07.2009 (L 19 AL 17/09, juris) eine Aussetzung abgelehnt worden, weil dort im Hinblick auf das Begutachtungsergebnis im GdB-Verfahren (der Gutachter, dem die Versorgungsverwaltung und das SG regelmäßig folgen - so das LSG -, hatte einen GdB 50 vorgeschlagen) eine Gleichstellung obsolet sei; dies hat auch das BSG (15.07.2010 - B 11 AL 150/09 B, juris) nachgehend für diese Fallkonstellation so bestätigt. Damit weicht aber der dort entschiedene Fall von dem hier vorliegenden ab; vorliegend ist für die Zuerkennung eines GdB von 50 kein Anhalt gegeben.
Damit hat das SG bei seiner Entscheidung das Verfahren auszusetzen weder gegen Prozessrecht verstoßen noch konnte der Senat Ermessensfehler feststellen.
Da es sich bei dem vorliegenden Beschwerdeverfahren nach § 172 Abs. SGG um einen Zwischenstreit im Rahmen eines noch anhängigen Rechtsstreits handelt (Senatsbeschluss vom 22.08.2006 - L 8 AL 2352/06 B, juris ; Breitkreuz a.a.O. RdNr. 17), mithin nicht um ein selbständiges Zwischenverfahren, bedarf es vorliegend einer Kostenentscheidung nicht; diese ist im Rahmen des Hauptsacheverfahrens zu treffen (Böttiger in Breitkreuz/Fichte, SGG, § 176 RdNr. 20).
Dieser Beschluss ist nicht mit der Beschwerde anfechtbar (§ 177 SGG).