Gleichstellungsantrag Bbetriebsratsmitglied

Gleichstelllungsantrag auch für Betriebsratsmitglieder


SG Berlin 57. Kammer
12.02.2018
S 57 AL 1161/16
Juris



Tatbestand

Streitig ist zwischen den Beteiligten die Gleichstellung des Klägers mit schwerbehinderten Menschen nach § 2 Abs. 3 des Neunten Buchs Sozialgesetzbuch (SGB IX).

Der 1972 geborene verheiratete Kläger, der den Beruf des Drehers erlernt hat, ist seit 1995 bei der Firma N.GmbH & Co. KG als Produktionshelfer bzw. Rüsthelfer sozialversicherungspflichtig beschäftigt. Er übt nach seinen Angaben bei der Arbeitgeberin die Funktion des Betriebsratsvorsitzenden aus. Ausweislich des von ihm überreichten Widerspruchsbescheids des Landesamts für Gesundheit und Soziales vom 02. September 2015 hat er einen Grad der Behinderung von 30 vom Hundert. Die Funktionsbeeinträchtigungen haben hiernach zu einer dauernden Einbuße der körperlichen Beweglichkeit des Klägers geführt. Sie lauten folgendermaßen:

seelische Störung, Anpassungsstörung, psychosomatische Störungen, Funktionsbehinderung des Kniegelenkes beidseitig, Funktionsbehinderung der Wirbelsäule, Sehbehinderung beidseitig, Bluthochdruck.

Am 07. September 2015 beantragte der Kläger bei der Beklagten die Gleichstellung mit einem schwerbehinderten Menschen und gab hierbei zur Begründung insbesondere an, er habe seine vollzeitige Beschäftigung in Wechsel–/Nachtschicht auszuüben und sei bereits 2013 zwangsweise als Rüsthelfer umgesetzt worden; seit 2014 sei er als Produktionshelfer beschäftigt. Die Arbeitsbedingungen seien unter anderem durch Zeitdruck, häufiges Bücken und Zwangshaltungen sowie häufiges Heben gekennzeichnet. Es bestünden erhebliche krankheitsbedingte Fehlzeiten. In der Zeit vom 1. April bis 12. Juli 2013 habe er im Rahmen des Hamburger Modells gearbeitet. Er sei bereits mehrmals durch die Arbeitgeberin abgemahnt worden, die mit ihm ständig Personalgespräche führe. Da er drei Kinder habe und Alleinverdiener sei, befürchte er, den Arbeitsplatz zu verlieren. Auf Anforderung der Beklagten überreichte er das ärztliche Attest des ihn behandelnden Orthopäden Dr. N. M. vom 02. März 2015, der hierin ausführte, es bestünden die Diagnosen Cervicobrachialgie, BWS-Syndrom mit rezidivierender Blockierung, Lumbago mit Nervenwurzelreizerscheinung, Protrusion L5/S1, Nervenwurzelirritation LWS, Chondropathia beidseits, Meniskopathie links, chronisches Schmerzsyndrom und therapieresistente Beschwerden. Aufgrund der Diagnosen bestehe eine nur eingeschränkte Belastbarkeit des Klägers, der noch einsetzbar sei für körperlich leichte Tätigkeiten ohne schweres Heben und Tragen. Zwangshaltungen wie längeres Bücken, Sitzen oder Stehen seien nicht erlaubt. Auf Anfrage teilte die Arbeitgeberin gegenüber der Beklagten mit, ihr seien gesundheitliche Einschränkungen des Klägers nicht bekannt, während der stellvertretende Betriebsratsvorsitzende angab, es bestünden häufige krankheitsbedingte Fehlzeiten, die sich nach Versetzung in ein Dreischichtensystem noch stark erhöht hätten. Aus dortiger Sicht sei der derzeitige Arbeitsplatz für den Kläger nicht geeignet. Es sei die Schichtarbeit und das lange Stehen an Maschinen zu vermeiden.

Mit Bescheid vom 23. November 2015 lehnte die Beklagte den Antrag auf Gleichstellung mit einem schwerbehinderten Menschen ab. Die Prüfung habe keine Anhaltspunkte dafür ergeben, dass der Arbeitsplatz aus behinderungsbedingten Gründen gefährdet und der Kläger zur Erhaltung des Arbeitsplatzes auf den Schutz angewiesen sei. Es könnten zwar eingeschränkte Arbeitseinsatzmöglichkeiten und vorhandene Fehlzeiten aufgrund der gesundheitlichen Einschränkungen erkannt werden, auf die die Arbeitgeberin jedoch nicht reagiert habe, so dass eine derzeitige Bedrohung des Arbeitsplatzes nicht gegeben sei. Darüber hinaus verfüge er als Betriebsratsvorsitzender über einen besonderen Kündigungsschutz. Allgemeine Darlegungen, dass sich das Leiden verschlimmern könnte, reichten zur Begründung nicht aus. Dagegen erhob der Kläger Widerspruch. Seine Funktion als Betriebsratsvorsitzender schließe eine Gleichstellung nicht aus. Er sei auf die Gleichstellung dringend angewiesen, um seinen Arbeitsplatz erhalten zu können. Er sei innerhalb des Betriebs zwangsweise umgesetzt worden und sei nun als Rüsthelfer/Produktionshelfer tätig. Hierbei sei er im 3-Schichtsystem eingesetzt und müsse bei der Arbeit ständig stehen. Die Arbeit sei mit häufigem Tragen von Lasten über 20 kg, häufigem Bücken und Zwangshaltungen verbunden. Er stehe unter Zeitdruck und sei Lärm, Zugluft, Nässe und Staub ausgesetzt. Nach dem vorgelegten ärztlichen Attest des Orthopäden Dr. N. M. verbiete es sein Gesundheitszustand, eine solche Tätigkeit auszuüben. Mit der aktuellen Ausgestaltung des Arbeitsplatzes könne er diesen nicht dauerhaft erhalten. Der Betriebsrat habe die häufigen Fehlzeiten bestätigt. Darüber hinaus habe ihm die Arbeitgeberin bereits ein „Kündigungsangebot“ unterbreitet, dass er jedoch abgelehnt habe. Wegen seiner häufigen Arbeitsunfähigkeitszeiten habe es im Dezember 2015 ein weiteres Gespräch mit der Arbeitgeberin gegeben. Sein Schreiben zum „Kündigungsangebot“ vom 21. Februar 2014 fügte er bei.

Mit Widerspruchsbescheid vom 21. Juli 2016 wies die Beklagte den Widerspruch des Klägers zurück. Sein Vortrag lasse keine Gefährdung des Arbeitsplatzes aus Gründen, die in seinen gesundheitlichen Einschränkungen lägen, erkennen. Soweit er angegeben habe, dass er im 3-Schichtsystem eingesetzt sei und bei der Arbeit ständig stehen müsse mit häufigem Tragen von Lasten über 20 kg, häufigem Bücken und Zwangshaltungen sei der Arbeitsplatz für ihn konkret nicht geeignet. Die Gleichstellung mit einem schwerbehinderten Menschen könne jedoch für einen nicht geeigneten Arbeitsplatz nicht erteilt werden. Darüber hinaus sei nicht zu erkennen, dass derzeit die Gleichstellung zur Erlangung eines behinderungsgerechten Arbeitsplatzes dienlich sein könnte. Auch diese Möglichkeit führe zu keinem anderen Ergebnis. Da er als Betriebsratsmitglied einen besonderen Kündigungsschutz genieße, sei die Gleichstellung auch aus diesem Grunde zum Erhalt des Arbeitsplatzes nicht notwendig.

Mit seiner am 24. August 2016 beim Sozialgericht Berlin erhobenen Klage verfolgt der Kläger sein Begehren weiter. Er trägt unter anderem unter Vorlage diverser betriebsinterner Bewerbungen zur Begründung weiter vor, die Gleichstellung führe nicht nur zur Erlangung eines besonderen Kündigungsschutzes, sondern auch zu einem Anspruch auf eine leidensgerechte Ausgestaltung des Arbeitsplatzes. Die krankheitsbedingten Arbeitsunfähigkeiten seien betriebsintern bekannt, so dass es nicht plausibel erscheine, wenn die Arbeitgeberin angebe, nichts von der Behinderung des Klägers zu wissen. Auch das „Kündigungsangebot“ und die Umsetzung auf einen für ihn weniger geeigneten Arbeitsplatz legten die Gefährdung des Arbeitsplatzes nahe.

Der Kläger beantragt,

den Bescheid der Beklagten vom 23. November 2015 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 21. Juli 2016 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, ihn mit schwerbehinderten Menschen nach § 2 Abs. 3 SGB IX gleichzustellen.

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Sie stützt sich zur Begründung auf den Inhalt ihrer angefochtenen Bescheide und trägt weiter vor, gegen die Gleichstellung spreche insbesondere, dass der Kläger derzeit keinen geeigneten Arbeitsplatz innehabe. Die innerbetriebliche Umsetzung des Klägers sei nach Aktenlage nicht vorgesehen. Darüber hinaus seien keine Anhaltspunkte dafür ersichtlich, dass er einen konkreten anderen – geeigneten – Arbeitsplatz anstrebe, den er aufgrund seiner gesundheitlichen Einschränkungen nicht erlangen könne. Für die Beurteilung müsse es auf den Zeitpunkt des Antragseingangs ankommen. Im Übrigen bestehe die Möglichkeit beim zuständigen Rehabilitationsträger einen Antrag auf Teilhabe am Arbeitsleben zu stellen. Hierfür bedürfte es keiner Gleichstellung mit einem schwerbehinderten Menschen.

Für den sonstigen Sach– und Streitstand wird auf die zwischen den Beteiligten gewechselten Schriftsätze nebst Anlagen und den übrigen Inhalt der Gerichtsakte sowie die Leistungsakte der Beklagten (Kdnr. 962D166459) Bezug genommen, die Gegenstand der mündlichen Verhandlung und der Beratung der Kammer gewesen sind.


Entscheidungsgründe

Die form- und fristgerecht erhobene Klage ist zulässig und begründet.

Der ablehnende Bescheid der Beklagten vom 23. November 2015 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 21. Juli 2016 ist rechtswidrig und kann damit keinen Bestand haben. Der Kläger hat gegen die Beklagte einen Anspruch auf Gleichstellung mit schwerbehinderten Menschen nach § 2 Abs. 3 SGB IX, da er ohne die Gleichstellung einen geeigneten Arbeitsplatz nicht erlangen kann.

Nach der eben bezeichneten Vorschrift werden behinderte Menschen mit einem Grad der Behinderung von weniger als 50, aber wenigstens 30, schwerbehinderten Menschen gleichgestellt, bei denen die übrigen Voraussetzungen des Absatzes 2 vorliegen, wenn sie infolge ihrer Behinderung ohne die Gleichstellung einen geeigneten Arbeitsplatz im Sinne des § 73 nicht erlangen oder nicht behalten können (gleichgestellte behinderte Menschen). Weitere Voraussetzung ist entsprechend Absatz 2 dieser Vorschrift, dass die behinderten Menschen ihren Wohnsitz, ihren gewöhnlichen Aufenthalt oder ihre Beschäftigung auf einem Arbeitsplatz im Sinne des § 73 rechtmäßig im Geltungsbereich dieses Gesetzbuches haben. Diese Bedingungen werden durch den Kläger erfüllt. Der Grad der Behinderung von 30 vom Hundert ist durch das zuständige Landesamt für Gesundheit und Soziales - Versorgungsamt - im Widerspruchsverfahren am 02. September 2015 festgestellt worden. Aufgrund der bereits seinerzeit festgestellten Funktionsbeeinträchtigungen, insbesondere der Funktionsbehinderung der Kniegelenke, der Wirbelsäule und der Sehbehinderung sowie des Bluthochdrucks war der Kläger bereits zu dieser Zeit auch nach Aussage des behandelnden Orthopäden Dr. N. M. (vgl. dessen Attest vom 02. März 2015) nicht einsetzbar für Tätigkeiten mit schwerem Heben und Tragen von Lasten von mehr als 10 kg, Arbeiten bei Zugluft sowie Zwangshaltungen und längerem Bücken, Sitzen oder Stehen. Insgesamt wurde eine Leistungsfähigkeit nur noch für körperlich leichte Tätigkeiten angenommen. Die Beteiligten gehen nunmehr übereinstimmend davon aus, dass die Arbeit des Klägers als Produktionshelfer im Schichtsystem mit häufigem Bücken und Zwangshaltungen diesen Einschränkungen nicht entspricht. Zwar ist hier einzuräumen, dass die überreichten Abmahnungen seitens der Arbeitgeberin nicht auf die behinderungsbedingten Einschränkungen und Gründe hinweisen. Ihnen lagen andere Sachverhalte zugrunde. Andererseits erscheint die Stellungnahme der Arbeitgeberin nicht nachvollziehbar, dass ihr die vorhandenen Leistungseinschränkungen des Klägers nicht bekannt seien. Im Hinblick auf die häufigen krankheitsbedingten Fehlzeiten, die auch durch den Betriebsrat bestätigt wurden, musste sich die gesundheitliche Problematik der Arbeitgeberin aufdrängen. Letztlich entscheidend kommt es aber darauf an, dass die innerbetrieblichen Bemühungen des Klägers, einen geeigneten anderen Arbeitsplatz zu erlangen, durch die Gleichstellung befördert werden. In der mündlichen Verhandlung hat er die diversen Bewerbungen für Tätigkeiten als Mechaniker und Betriebstechniker substantiiert dargelegt und ausreichend durch die überreichten schriftlichen Unterlagen belegt. Demgegenüber kann er nicht darauf verwiesen werden, dass er als Betriebsratsvorsitzender einen besonderen Kündigungsschutz bereits genießt. Die besondere Situation bei der Arbeitgeberin, die bereits zu einer Umsetzung des Klägers als Produktionshelfer/Rüsthelfer und zu einem konkreten "Kündigungsangebot" geführt haben, begründet die Gefährdung des Arbeitsplatzes des Klägers in hinreichendem Maße. Diese Gefährdung wird durch mögliche Ansprüche auf Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben nicht beseitigt.

Hiernach ist die Klage erfolgreich.

Die Entscheidung über die Kosten beruht auf § 193 des Sozialgerichtsgesetzes.



Versorungsmedizinische Grundsätze
in der Fassung der 5. Verordnung zur Änderung der Versorgungsmedizin-Verordnung