GdB Narkolepsie

Nach den Versorgungsmedizinischen Grundsätzen - wie zuvor auch den AHP - ist der GdB bei Narkolepsie im Allgemeinen mit 50 bis 80 festzusetzen. Begutachtungsliteratur kann den dort vorgegebenen Rahmen ausfüllen und konkretisieren. Weicht sie von den Vorgaben ab und erstellt eigene Bewertungssysteme, ist sie als Grundlage behördlicher oder gerichtlicher Feststellungen nicht geeignet.


SG Nordhausen 25. Kammer
17.06.2015
S 25 SB 1489/14
Juris



Leitsatz

Nach den Versorgungsmedizinischen Grundsätzen - wie zuvor auch den AHP - ist der GdB bei Narkolepsie im Allgemeinen mit 50 bis 80 festzusetzen. Begutachtungsliteratur kann den dort vorgegebenen Rahmen ausfüllen und konkretisieren. Weicht sie von den Vorgaben ab und erstellt eigene Bewertungssysteme, ist sie als Grundlage behördlicher oder gerichtlicher Feststellungen nicht geeignet


Tatbestand

Der 1980 geborene Kläger begehrt die Feststellung des Schwerbehindertenstatus´ mit einem Grad der Behinderung (GdB) von mindestens 50 wegen Narkolepsie.

Auf einen Erstantrag aus August 2007 hatte das für den damaligen Wohnort zuständige Versorgungsamt D. mit Bescheid vom 21. Januar 2008 einen GdB von 30 festgestellt. Der dagegen – ohne Begründung – erhobene Widerspruch wurde mit Widerspruchsbescheid vom 16. September 2009 zurückgewiesen.

Einen nach Umzug bei dem nunmehr zuständigen Beklagten gestellten Änderungsantrag aus Juli 2012 wegen einer als weitere Behinderung zu berücksichtigenden Sehschwäche hat dieser mit Bescheid vom 27. September 2012 abgelehnt, weil auch unter Zugrundelegung der weiteren Behinderung eine wesentliche Änderung nicht eingetreten sei. Der Bescheid vom 21. Januar 2008 bleibe weiterhin gültig.

Mit am 14. Oktober 2013 eingegangenen so bezeichnetem „Änderungsantrag“ vom 9. Oktober 2013 begehrte der Kläger die Feststellung eines GdB von mindestens 50. Aus der seinem Antrag beigefügten Veröffentlichung der D. N.-Gesellschaft e. V. gehe hervor, dass bei der Diagnose Narkolepsie mindestens ein GdB von 50 einzustufen sei. Er wolle den nach dem Neunten Buch des Sozialgesetzbuches richtigen GdB bekommen.

Der Beklagte zog einen Befundbericht des Neurologen und Psychiaters Dr. M. bei, der mitteilte, es habe sich seit der letzten Vorstellung im August 2011 keine geänderte Befundlage ergeben. Daraufhin lehnte der Beklagte den Antrag des Klägers mit Bescheid vom 4. März 2014 ab, weil keine wesentliche Änderung eingetreten sei.

In dem dagegen erhobenen Widerspruch wies der Kläger ausdrücklich darauf hin, dass nach der Versorgungsmedizin-Verordnung Teil B Ziffer 3.2 bei der Erkrankung Narkolepsie im Allgemeinen ein GdS von 50 bis 80 anzusetzen sei. Der Widerspruch wurde mit Widerspruchsbescheid vom 16. Juni 2014 zurückgewiesen. Die nachgewiesenen Behinderungen seien mit einem Gesamt-GdB von 30 korrekt bewertet. Zur Einschätzung des GdB bei Narkolepsie wird zunächst der einschlägige Absatz der Versorgungsmedizinischen Grundsätze zitiert, unmittelbar danach jedoch ausgeführt „Diesbezüglich erscheint es sinnvoll, bei Zweifelsfragen zur Höhe des GdB eine entsprechende Analogie zur Bewertung der epileptischen Anfälle zu bilden. Bei isoliert auftretenden Schlafanfällen wird ein GdB von 20 bis 30 als angemessen angesehen. Erst zusätzliche Symptome, wie gehäufte Schlafattacken mit verlängerter Reaktionszeit, verkürzter Aufmerksamkeit, affektivem Tonusverlust, abnormer Schläfrigkeit und automatisches Verhalten, hypnagogen Halluzinationen rechtfertigen einen höheren GdB“. Aufgrund fehlender Befunde sei eine Verschlechterung der Narkolepsie hier nicht nachweisbar.

Mit der dagegen erhobenen Klage verfolgt der Kläger sein Begehren fort und verweist insbesondere auf die ausdrücklichen Vorgaben der Versorgungsmedizin-Verordnung.

Die Vorsitzende der erkennenden Kammer hat in dem Erörterungstermin vom 11. Juni 2015 den Kläger ausführlich zu den Symptomen seiner Erkrankung und den daraus folgenden Einschränkungen befragt sowie seine Ehefrau, Frau R. T., seinen Schwiegervater, Herrn R. T., sowie seinen Freund, Herrn D. D., als Zeugen vernommen. Wegen der Einzelheiten der Aussagen wird auf die Sitzungsniederschrift Bezug genommen.

Die Beteiligten haben in dem Termin ihr Einverständnis mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung erklärt.

Der Kläger beantragt,

den Bescheid vom 4. März 2014 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 16. Juni 2014 abzuändern und den Beklagten zu verurteilen, bei dem Kläger einen Grad der Behinderung von mindestens 50 anzuerkennen.

Der Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Er bezieht sich auf Literatur zur ärztlichen Begutachtung neurologischer Erkrankungen und meint zudem, dass die Beeinträchtigungen des Klägers nicht vergleichbar seien mit anderen Behinderungen, für die in den Versorgungsmedizinischen Grundsätzen ein GdB von 50 vorgesehen sei. Auch die noch vorhandene Fahrerlaubnis spreche gegen eine erhebliche Beeinträchtigung.

Wegen der sonstigen Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt von Gerichts- und Verwaltungsakte Bezug genommen, der Gegenstand der Beratung und Entscheidungsfindung gewesen ist.


Entscheidungsgründe

Das Gericht durfte ohne mündliche Verhandlung entscheiden, nachdem sich die Beteiligten damit einverstanden erklärt haben, § 124 Abs. 2 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG).

Die Klage ist begründet. Der Kläger hat Anspruch auf Feststellung eines GdB von 50 ab dem 14. Oktober 2013. 1.

Sein an diesem Tag bei dem Beklagten eingegangener Antrag ist dahingehend auszulegen, dass er nicht nur die Erhöhung des zuletzt mit Bescheid vom 21. Januar 2008 festgestellten GdB von 30 wegen einer eingetretenen Verschlimmerung begehrt, sondern in erster Linie eine Korrektur wegen einer bislang bereits rechtswidrig zu niedrig getroffenen Feststellung mit Wirkung für die Zukunft. Das Antragsformular des Beklagten sieht eine derartige Option nicht vor, sondern eröffnet nur die Auswahlmöglichkeiten „Erstantrag“ oder „Änderungsantrag“. Auch in seinem beigefügten Schreiben hat der Kläger den Antrag zwar zunächst als Änderungsantrag bezeichnet, in der Folge jedoch – nach Ausführungen zur Entwicklung der Erkrankung und den aktuellen Beeinträchtigungen – ausdrücklich begehrt, den „nach dem Neunten Buch des Sozialgesetzbuches richtigen GdB“ zu bekommen. Daraus ergibt sich eindeutig, dass er die bisherige Einstufung für fehlerhaft erachtete und eine Korrektur verlangte.

So wie das Gericht über die vom Kläger erhobenen Ansprüche zu entscheiden hat, ohne an die Fassung der Anträge gebunden zu sein (§ 123 SGG), muss auch zuvor eine Behörde das tatsächliche Begehren des Betroffenen ermitteln und im Zweifel auf die Stellung sachdienlicher Anträge hinwirken, vgl. § 16 Abs. 3 des Ersten Buches Sozialgesetzbuch (SGB I). Derartige Zweifel sind hier aber nicht verblieben. Nach dem objektiven Erklärungswert und der recht verstandenen Interessenlage des Klägers (vgl. § 133 des Bürgerlichen Gesetzbuches) unter Berücksichtigung des Meistbegünstigungsgrundsatzes (ständige Rechtsprechung des Bundessozialgerichts [BSG], vgl. etwa Urteile vom 10. November 2011, Az.: B 8 SO 18/10 R; vom 29. April 2010, Az.: B 9 VS 2/09 R; vom 24. April 2008, Az.: B 9/9a SB 10/06 R, und vom 4. April 2006, Az.: B 1 KR 5/05 R; alle nach Juris) konnte der Antrag des Klägers nur so verstanden werden, dass er die Überprüfung und Korrektur der bisherigen Feststellung des GdB unabhängig von der eingetretenen Bestandskraft begehrte.

Über dieses Begehren hat der Beklagte zwar nicht ausdrücklich entschieden, denn in dem Bescheid vom 4. März 2014 bezieht er sich ausschließlich auf § 48 des Zehnten Buches Sozialgesetzbuch (SGB X) als Rechtsgrundlage. Nach dem Inhalt dieses Bescheides sollte der Antrag des Klägers jedoch in vollem Umfang abgelehnt werden. Insbesondere hat sich der Beklagte eine Entscheidung über den Überprüfungsantrag nicht vorbehalten. Es liegt somit lediglich eine unvollständige Begründung der umfassenden Entscheidung vor (vgl. zur Auslegung von Anträgen und Verwaltungsakten in diesem Zusammenhang BSG, Urteil vom 24. April 2008, Az.: B 9/9a SB 10/06 R; nach Juris). 2.

Rechtsgrundlage für die tatsächlich begehrte Überprüfung der bestandskräftigen Feststellung des GdB mit Bescheid vom 21. Januar 2008 für die Zukunft ist daher § 44 Abs. 2 Satz 1 SGB X i. V. m. § 69 des Neunten Buches Sozialgesetzbuch (SGB IX) i. V. m. den vom Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung herausgegebenen Anhaltspunkten für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertenrecht (AHP) bzw. der Verordnung zur Durchführung des § 1 Abs. 1 und 3, des § 30 Abs. 1 und des § 35 Abs. 1 des Bundesversorgungsgesetzes – Versorgungsmedizinverordnung (VersMedV).

Nach § 44 Abs. 2 Satz 1 ist (im Übrigen, d. h. soweit wie hier nicht die Erbringung von Sozialleistungen oder Erhebung von Beiträgen im Raum steht, vgl. Abs. 1 der Vorschrift) ein rechtswidriger nicht begünstigender Verwaltungsakt, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, ganz oder teilweise mit Wirkung für die Zukunft zurückzunehmen.

Nicht begünstigend war der Verwaltungsakt, soweit er einen geringeren als den vom Kläger begehrten GdB feststellte.

Er war auch bereits im Zeitpunkt seines Erlasses rechtswidrig, denn bei dem Kläger war ein GdB von mindestens 40 festzustellen. Ob ein GdB von 50 zum damaligen Zeitpunkt angemessen gewesen wäre, lässt sich aufgrund der geringen Aussagekraft der in der Akte vorhandenen Unterlagen nicht ohne verbleibenden Zweifel feststellen. Für den Ausgang des Rechtsstreites ist das jedoch unerheblich, da nach dem Ergebnis der gerichtlichen Beweisaufnahme jedenfalls in den letzten Jahren und damit bei Antragstellung im Oktober 2013 ein Zustand vorgelegen hat, der – auch im Zusammenhang mit der zwischenzeitlich in Kraft getretenen Versorgungsmedizin-Verordnung – einen GdB von 50 rechtfertigt. Sollte der Zustand im Januar 2008 noch besser gewesen sein, wäre insoweit eine wesentliche Änderung eingetreten und der GdB bei dem Kläger deswegen nach § 48 Abs. 1 SGB X zu erhöhen.

Rechtsgrundlage für die Feststellung der Behinderung und des Grades der Behinderung mit Bescheid vom 21. Januar 2008 und damit Prüfungsmaßstab für dessen Rechtmäßigkeit war § 69 Abs. 1 SGB IX in der (der bei Antragstellung im Oktober 2013 im Wesentlichen gleichen) Fassung vom 13. Dezember 2007. Danach stellen die für die Durchführung des Bundesversorgungsgesetzes zuständigen oder nach Landesrecht abweichend geregelten Behörden auf Antrag eines Behinderten das Vorliegen einer Behinderung und deren Grad nach Zehnergraden abgestuft fest, sofern er mindestens 20 beträgt. Behindert in diesem Sinne ist ein Mensch, wenn seine körperliche Funktion, geistige Fähigkeit oder seelische Gesundheit mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate von dem für das Lebensalter typischen Zustand abweichen und daher seine Teilhabe am Leben in der Gesellschaft beeinträchtigt ist (§ 2 Abs. 1 Satz 1 SGB IX).

Nach § 69 Abs. 1 Satz 5 SGB IX galten die Maßstäbe des § 30 Abs. 1 des Bundesversorgungsgesetzes (BVG) und der aufgrund des § 30 Abs. 17 (bzw. ab 1. Juli 2011 Abs. 16) BVG erlassenen Rechtsverordnung entsprechend. Maßstab für die Feststellung der Höhe des GdB waren deshalb bis zum 31. Dezember 2008 die AHP in den bezüglich der Bewertung der Narkolepsie gleich lautenden (vgl. Ziffer 26.3) Fassungen von 1996 und 2008. Diese besaßen zwar keine Normqualität, waren aber als antizipierte Sachverständigengutachten zu verstehen und im Interesse einer gleichmäßigen Rechtsanwendung wie untergesetzliche Rechtsnormen von den Gerichten anzuwenden, bis der Gesetzgeber die erforderliche Ermächtigungsnorm für im Verordnungswege zu erlassende Regelungen geschaffen hat (vgl. BSG, Urteil vom 18. September 2003 – Az.: B 9 SB 3/02 R; nach juris). Auf der Grundlage des § 30 Abs. 17 BVG ist sodann zum 1. Januar 2009 die VersMedV in Kraft getreten und seitdem alleiniger rechtlicher Bewertungsmaßstab (vgl. etwa BSG, Urteile vom 2. Dezember 2010, Az. B 9 SB 3/09 R, und vom 16. Dezember 2014, Az. B 9 SB 2/13 R, nach Juris). Nach § 2 VersMedV werden die Grundsätze für die medizinische Bewertung von Schädigungsfolgen und die Feststellung des Grades der Schädigungsfolgen in der Anlage „Versorgungsmedizinische Grundsätze“ zu dieser Verordnung als deren Bestandteil festgelegt. Diese wird auf der Grundlage des aktuellen Stands der medizinischen Wissenschaft unter Anwendung der Grundsätze der evidenzbasierten Medizin erstellt und fortentwickelt.

Nach den bei der Antragstellung im August 2007 und bei Feststellung im Januar 2008 geltenden AHP waren bei festgestellter Narkolepsie je nach Häufigkeit, Ausprägung und Kombination der Symptome (Tagesschläfrigkeit, Schlafattacken, Kataplexien, automatisches Verhalten im Rahmen von Ermüdungserscheinungen, Schlaflähmungen – häufig verbunden mit hypnagogen Halluzinationen) im Allgemeinen GdB/MdE-Grade von 50 bis 80 anzusetzen. Selten sollten auch GdB/MdE-Grade von 40 (z. B. bei gering ausgeprägter Tagesschläfrigkeit in Kombination mit seltenen Schlaflähmungen und hypnagogen Halluzinationen) oder auch über 80 (bei ungewöhnlich starker Ausprägung) in Betracht kommen. Ob bei dem Kläger ein solcher seltener Fall vorlag, der eine Abweichung von dem regelmäßig festzustellenden GdB von mindestens 50 rechtfertigte, kann nicht abschließend beurteilt werden. Der letzte einschlägige ärztliche Bericht betrifft eine tagesklinische psychiatrische Behandlung im Sommer 2007, die der Kläger auf Drängen seines Arbeitgebers in Anspruch genommen hatte, weil er am Arbeitsplatz des Öfteren eingeschlafen war. Das spricht jedenfalls nicht für eine nur gering ausgeprägte Tagesschläfrigkeit. Allerdings hat sich infolge der Behandlung zumindest eine subjektive Verbesserung der Leistungsfähigkeit sowie eine Zunahme der Kompetenz im Umgang mit Müdigkeitsphasen eingestellt. Welches Ausmaß die Beeinträchtigungen durch die Tagesschläfrigkeit danach gehabt haben, ist unklar, jedoch auch nicht weiter zu ermitteln, weil – wie bereits ausgeführt – ggf. eine wesentliche Änderung eingetreten und der festgestellte GdB deswegen zu erhöhen wäre. Keinesfalls kam jedoch auch zum damaligen Zeitpunkt nach den Vorgaben der AHP ein GdB von nur 30 in Betracht, denn ein solcher war nicht vorgesehen.

Eine wesentliche rechtliche Änderung ist mit dem Erlass der Versorgungsmedizin-Verordnung nicht eingetreten. Zwar ist bei der nunmehr in Teil B Ziffer 3.2. VMG zu findenden Vorgabe zur Narkolepsie der zweite Satz, wie er noch in den AHP stand, weggefallen. Jedoch verbleibt es dabei, dass im Übrigen der GdB von 50 bis 80 „im Allgemeinen“ festzustellen ist. Ausnahmen sind daher weiterhin möglich. Allerdings müssten diese auf einer wesentlichen Abweichung vom Regelfall beruhen.

Unzulässig ist in dem Zusammenhang jedenfalls, auf Bewertungsmaßstäbe abzustellen, die ganz offenkundig die Vorgaben der Versorgungsmedizinischen Grundsätze wie auch zuvor der AHP missachten. Diese stellen ein auf langjährigen Erfahrungen der Versorgungsverwaltung und den Erkenntnissen der medizinischen Wissenschaft beruhendes Beurteilungsgefüge dar, das der gleichmäßigen Rechtsanwendung dienen soll, woraus sich bereits vor dem Inkrafttreten der VersMedV als materiellem Gesetz auch die normähnliche Wirkung der AHP ergab (ständige Rechtsprechung, vgl. BSG, Urteil vom 24. April 2008, Az. B 9/9a SB 10/06 R, m. w. N.). Begutachtungsliteratur kann ergänzend hilfreich sein, wenn es darum geht, einen vorgegebenen Rahmen (hier: 50 – 80) auszufüllen. Nicht statthaft ist demgegenüber, abweichend von den als antizipierte Sachverständigengutachten geltenden AHP/VMG (vgl. etwa BSG, Urteil vom 16. Dezember 2014, Az. B 9 SB 2/13 R) einfach eigene Bewertungssysteme an deren Stelle zu setzen (es sei denn, diese verstoßen gegen höherrangiges Recht, vgl. etwa zu der Bewertung des Diabetes mellitus BSG, Urteile vom 24. April 2008, Az. B 9/9a SB 10/06 R, und vom 2. Dezember 2010, Az. B 9 SB 3/09 R, wofür hier jedoch nichts ersichtlich ist).

Die von dem Beklagten zur Begründung seiner Ansicht in Bezug genommene Tabelle in J. Fritze/F. Mehrhoff (Hrsg.), Die ärztliche Begutachtung, 7. Auflage 2008, Seite 237, nach der der GdB bei persistierender leichter Beeinträchtigung der Wachheit mit fakultativen Symptomen mit unter 40, bei persistierender mittelgradiger Beeinträchtigung der Wachheit bei mindestens täglichem Einschlafen, Kataplexien und anderen fakultativen Syndromen mit unter 50 und bei trotz effektiver Therapie persistierender schwergradiger Beeinträchtigung der Wachheit und Kataplexien mit über 50 zu bewerten sein soll, wird durch nichts begründet, widerspricht den Vorgaben der Versorgungsmedizinischen Grundsätze und der AHP und setzt sich mit diesen nicht einmal auseinander. Im Gegensatz (jedenfalls) zu den Versorgungsmedizinischen Grundsätzen fehlt es ihr an jeglicher demokratischer Legitimation. Bereits deshalb ist sie nicht geeignet, die rechtlichen Vorgaben außer Kraft zu setzen. Nichts anderes gilt für den Kommentar von Wendler/Schillings, Versorgungsmedizinische Grundsätze, 5. Auflage, Seite 117/118, auf den offenbar auch der Widerspruchsbescheid Bezug genommen hat. Soweit dort ausgeführt wird, dass trotz der eigenständigen Regelung zur Narkolepsie bei Zweifelsfragen eine „entsprechende Analogie“ zur Bewertung epileptischer Anfälle gebildet werden solle, wird auch dies in keiner Weise begründet. Bis hin zu den AHP 1983 war zur Bewertung narkoleptischer Anfälle tatsächlich auf epileptische Anfälle verwiesen worden. Allerdings wurde dies mit der 1996 erschienenen Neufassung gerade geändert. An dieser Änderung wurde sodann in den folgenden nunmehr fast drei Jahrzehnten festgehalten. Weswegen dennoch auf einen sozialmedizinisch offenbar weit überholten Kenntnisstand zurückgegriffen werden sollte, erschließt sich nicht ansatzweise. Eine Vergleichbarkeit dürfte allenfalls bezüglich des Symptoms der Kataplexien bestehen, soweit diese mit einem vollständigen Tonusverlust der gesamten Skelettmuskulatur einhergehen. Häufig tritt jedoch auch nur ein Zucken der Gesichtsmuskulatur, verbunden mit Dysarthrie auf; weitere Ausprägungen reichen von mimischer Erschlaffung, Heruntersacken des Unterkiefers über Bewegungsunfähigkeit der Arme und Beine bis eben hin zum vollständigen Tonusverlust. Demgegenüber treten bei der Narkolepsie insbesondere infolge der ausgeprägten Tagesschläfrigkeit mit z. T. mehrfach täglichen Tagschlafepisoden unterschiedlicher Dauer von Sekunden bis Stunden, automatischem Verhalten, Störung des Nachtschlafs, Schlaflähmungen und hypnagogen Halluzinationen (vgl. zu den Symptomen G. Mayer/H. Schultz, Begutachtung der Narkolepsie, MedSach 1999, S. 92-96) zusätzliche Einschränkungen auf, die eine gegenüber der Epilepsie eigenständige Bewertung erforderlich machen.

Soweit der Beklagte darauf verweist, dass nach den allgemeinen Vorschriften der VMG ein Vergleich mit Gesundheitsschäden vorzunehmen sei, zu denen in der Tabelle feste GdS-Werte angegeben sind, ist darauf hinzuweisen, dass die ausdrückliche diesbezügliche Regelung zunächst nur die Bildung des Gesamt-GdB betrifft, vgl. Teil A Ziffer 3.b) VMG. Auch bei der Bewertung von Einzel-GdB ist dieser Vergleich aber im Einzelfall durchaus anzustellen. Das setzt jedoch voraus, dass für die konkrete zu beurteilende Einschränkung nicht bereits Vorgaben existieren. Wenn demgegenüber – früher durch den Sachverständigenbeirat, heute durch den Verordnungsgeber – eine ausdrückliche Bewertung einer bestimmten Behinderung in dem Besonderen Teil vorgenommen wird, ist damit das Verhältnis zu den sonstigen dort angegebenen Behinderungen festgelegt. Darüber haben sich die Anwender dieser Grundsätze – soweit diese nicht gegen höherrangiges Recht verstoßen – nicht hinwegzusetzen. Die AHP wie auch die VMG als antizipierte Sachverständigengutachten sollen gerade ausschließen, dass in jedem Einzelfall eine gesonderte Einstufung innerhalb eines Rahmens von 0 bis 100 erfolgen muss. Sie dienen dazu, eine dem allgemeinen Gleichheitssatz entsprechende einheitliche Rechtsanwendung zu gewährleisten (vgl. BSG, Urteil vom 24. April 2008, Az. B 9/9a SB 10/06 R). Dem würde es widersprechen, ihre Vorgaben in jedem Einzelfall in Zweifel zu ziehen und ein eigenes Beurteilungsgefüge hinsichtlich der Vergleichbarkeit der Einschränkungen zu bilden.

Unabhängig davon kann die Kammer auch nicht erkennen, dass bei einem Vergleich mit der Bewertung epileptischer Anfälle der mit Bescheid vom 21. Januar 2008 festgestellte GdB von 30 gerechtfertigt wäre, denn dieser wäre dort nach drei Jahren Anfallsfreiheit bei weiterer Notwendigkeit antikonvulsiver Behandlung festzustellen. Eine unmittelbare Beeinträchtigung liegt dann ggf. in den Nebenwirkungen der Medikamente, durch Anfälle aber gerade nicht mehr vor. Der Zustand bei dem Kläger, der durch Müdigkeit und Schlafattacken an jedem einzelnen Tag, häufig vielfach, beeinträchtigt ist, geht darüber jedenfalls hinaus.

Somit ist von dem „im Allgemeinen“ anzuwendenden Rahmen für den GdB von 50 bis 80 auszugehen. Gründe für eine Abweichung davon, die in Anlehnung an die früheren AHP weiterhin z. B. bei gering ausgeprägter Tagesschläfrigkeit in Kombination mit seltenen Schlaflähmungen und hypnagogen Halluzinationen gesehen werden könnten, sind nach dem Ergebnis der eingehenden Befragung des Klägers sowie der Einvernahme der Zeugen in dem Erörterungstermin vom 11. Juni 2015 nicht erkennbar. Zur Überzeugung der Kammer steht danach fest, dass der Kläger täglich an Einschlafattacken leidet, wobei die Häufigkeit zwischen einem und zehnmal am Tag schwankt. Dabei kommt es sowohl vor, dass er „nur“ in einen Halbschlaf verfällt und begonnene Bewegungen automatisch weiterführt, z. B. beim Einkaufen den Einkaufswagen weiterschiebt oder beim Spazierengehen weiterläuft oder beim Spiel mit den Kindern ein Auto weiter hin und her schiebt, ohne jedoch seine Umgebung noch bewusst wahrzunehmen. Gerade dieser Halbschlaf kann in der Öffentlichkeit, z. B. in der Nähe von Straßen oder auch beim Einkaufen, zu besonderen Gefährdungssituationen der eigenen Gesundheit und/oder fremden Eigentums führen. Andererseits schläft der Kläger auch tatsächlich ein und muss dann geweckt werden oder schreckt wieder hoch, was sowohl im Berufs- als auch im Privatleben auftritt. Die Einschlafattacken beschränken sich dabei nicht auf monotone, langweilige oder passive Situationen, was gerade im beruflichen Bereich ohnehin bereits eine enorme Belastung darstellt, sondern treten sogar in Gesellschaft und bei größeren Feiern mit der damit verbundenen Geräuschkulisse auf und sogar mitten im (körperlichen) Arbeitsprozess, wenn dieser eintönig wird, wie der Zeuge Dietrich am Beispiel des Festhaltens eines Besens im Rahmen von Tapezierarbeiten beschrieben hat. Von einer nur gering ausgeprägten Tagesschläfrigkeit kann angesichts dessen keine Rede sein.

Dass der Kläger in Einzelfällen noch seinen Führerschein nutzt und kurze Strecken fährt, steht dem nicht entgegen. Zwar ist tatsächlich fraglich, ob er fahrtauglich ist. Dass die Fahrerlaubnisbehörde ihm die Fahrerlaubnis nicht entzogen hat, kann jedoch schlicht auf deren Unkenntnis der Gegebenheiten beruhen. Zum anderen ist sich der Kläger offensichtlich sehr bewusst, dass er mit seinem Verhalten sich und andere gefährdet. Er beschränkt es bereits aktuell nach eigenen Angaben und sollte das Autofahren nach Ansicht der Kammer vollständig einstellen. Dass er sich nicht entsprechend seinen im Übrigen anschaulich geschilderten Beeinträchtigungen verhält, ändert aber nichts an dem Umstand, dass diese vorliegen und nicht als geringfügig eingeschätzt werden können. Eine Ausnahme von dem Regelfall, in dem ein GdB von mindestens 50 vorgesehen ist, ist deshalb nicht zu erkennen.

Andererseits hat zuletzt wieder das Evangelische Krankenhaus G.-W. am 1. August 2014 eine Narkolepsie „ohne Kataplexie“, also ein wesentliches weiteres Symptom der Erkrankung (vgl. dazu Mayer/Schultz a. a. O.) diagnostiziert. In dem Bericht vom 22. August 2014 wird weiterhin erklärt, dass hypnagoge Halluzinationen oder Schlaflähmungen nicht vorkommen. Hier hat der Kläger im Rahmen des Erörterungstermins zwar Symptome geschildert, die möglicherweise als solche eingeordnet werden könnten. Das konnte er jedoch selbst so nicht mit Sicherheit sagen. Er hat diese Symptome auch nur auf Nachfrage geäußert. Offensichtlich beeinträchtigen sie ihn jedenfalls nicht wesentlich. Daher erachtet es die Kammer als ausreichend, den mindestens vorgesehenen GdB festzustellen. Weitere Ermittlungen waren angesichts dessen nicht erforderlich.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Abs. 1 SGG und folgt dem Ergebnis der Hauptsache. Mit der Feststellung des „mindestens“ begehrten GdB hat der Kläger sein Klageziel vollständig erreicht. Teilweise unterlegen wäre er nur, wenn noch eine Beschwer verbliebe. Nachdem der Kläger aber erhalten hat, was er „mindestens“ begehrte, ist er gerade nicht beschwert und kann deshalb z. B. auch kein Rechtsmittel einlegen (vgl. etwa BSG, Urteil vom 9. August 1995, Az. 9 RVs 7/94; Bayerisches LSG, Urteil vom 25. März 1999, Az. L 15 SB 47/97; zur ähnlichen Konstellation bei einer zivilrechtlichen Schmerzensgeldklage BGH, Urteil vom 2. Februar 1999, Az. VI ZR 25/98; alle nach Juris). Ohne teilweises Unterliegen ist er auch nicht an den Kosten zu beteiligen.

Darauf, dass dem Beklagten die nunmehr aufgeklärten konkreten Symptome der Erkrankung im Verwaltungs- und Widerspruchsverfahren nicht bekannt gewesen seien, könnte er sich ebenfalls nicht berufen. Soweit er sich in den angegriffenen Bescheiden auf den fehlenden Nachweis zusätzlicher Symptome (neben der Tagesschläfrigkeit) bzw. eingetretener Änderungen bezieht, beruht dies auf einer unzureichenden Erfüllung seiner Amtsermittlungspflichten. Insbesondere durfte der Beklagten nicht einfach darauf abstellen, dass der behandelnde Nervenfacharzt keine aktuellen Befunde vorlegen konnte. Es ist ohne weiteres plausibel, wenn der Kläger im Erörterungstermin erklärt hat, den Facharzt nicht weiter aufgesucht zu haben, weil die Diagnose feststand, weiter auch feststand, dass sich eine wesentliche Änderung dort nicht erreichen lässt, sondern dass er „lediglich“ die bekannten Medikamente einnehmen muss. Um diese zu erhalten genügte jedoch – nach erstmaliger Verordnung nach dem Umzug durch den Facharzt – die Vorstellung bei der Hausärztin. Der Beklagte kann die ihm obliegenden Amtsermittlungen nicht auf die Schultern der Versichertengemeinschaft der gesetzlichen Krankenversicherung abwälzen und von den Betroffenen verlangen, dass sie zu deren Lasten Fachärzte aufsuchen, obwohl dies zur Diagnostik und Behandlung ihrer Erkrankung nicht erforderlich ist. Wenn nach der Befragung der behandelnden Ärzte einerseits und den Angaben des Betroffenen andererseits Fragen offen bleiben, ist der Beklagte verpflichtet, diese durch Einholung eigener Gutachten bzw. Beauftragung auch behandelnder Ärzte mit einer Untersuchung zum Zwecke der Befunderhebung – die dann entsprechend höher zu vergüten ist als ein reiner Befundbericht – aufzuklären.



Versorungsmedizinische Grundsätze
in der Fassung der 5. Verordnung zur Änderung der Versorgungsmedizin-Verordnung