GdB Entstellung
1. Eine Entstellung kann eine für die Bewertung des Grades der Behinderung relevante Teilhabebeeinträchtigung darstellen.
2. Im Schwerbehindertenrecht sind die vom BSG zum Krankenversicherungsrecht entwickelten Grundsätze, wann eine Entstellung anzunehmen ist, entsprechend anzuwenden.
Der Kläger begehrt die höhere Neufeststellung des Grades der Behinderung mit mehr als 40.
Er ist 1957 geboren, hat nach dem Abitur ein Maschinenbaustudium abgeschlossen und war nach einer Tätigkeit bei der P AG seit 1993 als Berufsschullehrer tätig. Zwischenzeitlich ist er pensioniert. Er lebt von seiner Ehefrau getrennt, hat zwei volljährige Kinder und bewohnt alleine ein Eigenheim, das von ihm selbst versorgt wird (Anamnese BG N Reha-Klinik).
Am 22. April 2013 beantragte er bei dem Landratsamt K (LRA) erstmals die Feststellung des GdB.
Das LRA zog den Entlassungsbericht der BG N Reha-Klinik über die stationäre Behandlung vom 8. November bis 6. Dezember 2012 bei (Diagnosen: V. a. leichte depressive Episode, HWS-Syndrom bei Z. n. Bandscheibenvorfall, LWS-Syndrom bei Bandscheibenvorwölbung, Tinnitus aurium, V. a. psychologische Faktoren und Verhaltensfaktoren bei andernorts klassifizierten Krankheiten).
Der W gab in seinem Befundschein an, den Kläger zuletzt 2011 behandelt zu haben, nachdem dieser angegeben habe, durch ein extrem lautes Geräusch eines Schlagbohrers eine Hörminderung erlitten zu haben. Es sei eine Infusion mit 250 mg Prednisolut in absteigender Dosis durchgeführt worden, im Anschluss sei keine Wiedervorstellung erfolgt.
Nachdem H versorgungsärztlich nur Funktionseinschränkungen sah, die mit Teil-GdB von je 10 zu bewerten seien, lehnte das LRA den Antrag mit Bescheid vom 5. August 2013 ab, da kein GdB von wenigstens 20 vorliege.
Im Widerspruchsverfahren erhob das LRA den Befundschein des L. Dieser beschrieb eine mit Ängsten verbundene depressive Symptomatik. Diese verstärke sich mit erheblichen Schlafstörungen, Atemproblemen, Unruhe, Übelkeit und psychosomatischen Beschwerden, vor allem dann, wenn der Kläger seine Tätigkeit als Lehrer an der Berufsschule ausübe. Seit einigen Monaten komme ein Gefühl eines inneren Ausgelaugtseins und Niedergeschlagenheit hinzu. Die Beschwerden hätten im Laufe der Psychotherapie zwar nachgelassen, bestünden aber in etwas verminderter Form weiter fort. Der Kläger lebe allein, habe Kontakt zu seinen beiden Kindern. Insgesamt erscheine er ausreichend sozial integriert, wenn es auch immer wieder zu Phasen von Rückzug komme. Die ambulante psychotherapeutische Behandlung finde im wöchentlichen Rhythmus statt.
S führte hierzu versorgungsärztlich aus, dass nunmehr von einer stärker behindernden Störung ausgegangen werden könne, die mit einem Teil-GdB von 30 zu bewerten sei.
Mit Teilabhilfe-Bescheid vom 2. Dezember 2013 stellte das LRA dem folgend einen GdB von 30 seit dem 1. September 2012 fest.
Den Widerspruch im Übrigen wies das Regierungspräsidium Stuttgart – Landesversorgungsamt – mit Widerspruchsbescheid vom 17. Januar 2014 zurück.
Am 4. April 2019 beantragte der Kläger bei dem LRA die Neufeststellung des GdB und legte das Attest des L vor. Dieser gab an, dass der Kläger an einer depressiven Symptomatik leide, die mit wechselnd starken Ängsten verbunden sei. Wesentlich für das jetzt verstärkte Auftreten der Beschwerden sei ein hereditäres Angioödem (Haut- und Schleimhautschwellungen in unterschiedlichen Körperregionen), eine seltene Erbkrankheit. Hierdurch werde die vorbestehende rezidivierende Depression, wegen der 2018 eine stationäre psychosomatische Behandlung stattgefunden habe, verstärkt.
Das LRA zog den Entlassungsbericht der Klinik J über die in der Zeit vom 8. bis 30. März 2018 durchgeführte stationäre Rehabilitation bei. Darin wurde zum Entlassungsbefund ausgeführt, dass sich unter der stationären Behandlung die depressive Symptomatik deutlich reduziert habe, die chronische Schmerzstörung mit somatischen und psychischen Faktoren sei nahezu remittiert. Die Stimmung habe sich aufgehellt und sei stabil, der Kläger sei affektiv besser schwingungsfähig und emotional ausgeglichener gewesen. Körperlich habe ein weiterhin harmonisches Gangbild ohne sensomotorische Ausfälle bestanden, die gesamte Wirbelsäulenbeweglichkeit sei frei gewesen, der Finger-Boden-Abstand habe bei 0 cm gelegen.
Der Entlassungsbericht des Städtischen Klinikums K über die stationäre Behandlung vom 19. bis 21. Oktober 2019 beschrieb eine placebokontrollierte Provokationstestung bei geklagter zunehmender Zungen- und Rachenschwellung.
Z führte versorgungsärztlich aus, dass nur eine Tenorerweiterung empfohlen und zusätzlich eine somatoforme Schmerzstörung anerkannt werden könne. Das hereditäre Angioödem führe zu keinem Teil-GdB von wenigstens 10. Eine wesentliche oder anhaltende Verschlechterung der bekannten Behinderungen lasse sich nicht begründen.
Den Neufeststellungsantrag lehnte das LRA daraufhin mit Bescheid vom 23. Juli 2019 ab, da eine wesentliche Änderung, die eine Höherbewertung des GdB rechtfertige, nicht vorliege.
Im Widerspruchsverfahren legte der Kläger den Bericht des B, Johannes-Gutenberg-Universität M, über seine ambulante Vorstellung am 19. Juni 2018 vor. Dieser führte aus, dass bei dem Kläger ein hereditäres Angioödem bestehe, das jedoch nicht durch einen C1-Inhibitor-Mangel bedingt sei. Die genetische Untersuchung habe eine HAE-spezifische Mutation im Plasminogen-Gen ergeben. Zur Behandlung dieser seltenen Krankheit seien Antihistaminika und sicherlich auch Kortikosteroide nicht wirksam. Da es sich um ein Bradykinin-vermitteltes Angioödem handele, sei „Firazyr“ zur Behandlung akuter Schwellungen außerordentlich wirksam. Bei Atemwegsbeteiligung oder isoliertem Larynxödem sei eine klinisch-stationäre Überwachung des Klägers trotzdem erforderlich. Zu meiden seien ACE-Hemmer, da diese eine Verstärkung der Symptomatik erwarten ließen. Um Patienten mit einem Risiko dieser unberechenbaren und potentiell lebensbedrohlichen Krankheit zu identifizieren, sei eine Untersuchung von Blutsverwandten durchzuführen.
S1 führte versorgungsärztlich aus, dass zusätzlich eine psychovegetative Störung aufgenommen werde. Das hereditäre Angioödem werde mit einem Teil-GdB von 20 neu tenoriert, beides ohne Auswirkungen auf den Gesamt-GdB.
Den Widerspruch wies das Regierungspräsidium Stuttgart – Landesversorgungsamt – mit Widerspruchsbescheid vom 18. Dezember 2019 zurück. Als weitere Funktionsbeeinträchtigung liege ein hereditäres Angioödem vor, das einen Teil-GdB von 20 bedinge. Hierdurch komme es zu keiner wesentlichen Zunahme des Ausmaßes der Gesamtbeeinträchtigung, sodass sich kein höherer Gesamt-GdB ergebe. Die psychische Erkrankung sei als stärker behindernde Störung mit wesentlicher Einschränkung der Erlebnis- und Gestaltungsfähigkeit bewertet worden, eine schwere Störung, die eine höhere Einstufung erlaube, liege nicht vor.
Am 20. Januar 2020 hat der Kläger Klage beim Sozialgericht Karlsruhe (SG) erhoben, welches zur weiteren Sachaufklärung sachverständige Zeugenaussagen der behandelnden Ärzte eingeholt hat.
F hat mitgeteilt, dass eine wesentliche Verschlimmerung des Quincke-Ödems eingetreten sei. Dieses müsse ebenso höher bewertet werden wie die Hyperurikämie mit rezidivierender Gelenkschwellung.
L hat bekundet, dass der Kläger an einer depressiven Symptomatik leide, die mit wechselnd starken Ängsten verbunden sei. Wesentlich für das verstärkte Wiederauftreten sei das bestehende hereditären Angioödem. Der Kläger leide unter einer Form, die zu lebensbedrohlichen Schwellungen im Bereich der oberen Atemwege führen könne. Solche Attacken, die im Durchschnitt zweimal pro Monat aufträten, führten zu einem hohen Grad an Verunsicherung, es komme zu Panikattacken. Weiterhin bestehe ein Tinnitus, der vor in allem in depressiven Phasen eine quälende Qualität habe. Im psychischen Befund wesentlich seien immer wieder auftretende Stimmungsschwankungen, Konzentrations-, Aufmerksamkeits- wie Schlafstörungen, aggressive Durchbrüche mit selbstverletzenden Aktionen, die in labilen Phasen nur schwer zu kontrollieren seien. Der versorgungsärztlichen Einschätzung sei nicht zu folgen, der GdB müsse höher eingeschätzt werden.
K1 hat beschrieben, dass es im Verlauf der Behandlung bei dem Kläger zu einer Schmerzzunahme sowohl lumbal als auch zu einer zunehmenden Bewegungseinschränkung der HWS sowie des Schultergelenks rechts gekommen sei. Das chronische Schmerzsyndrom sei mit einem GdB von 30 zu bewerten, ebenso die Depression und die Veränderungen der Wirbelsäule. Sowohl der psychovegetative Gesamtbefund als auch das Ausmaß der chronifizierten Schmerzsymptomatik mit dem Stadium II nach Gerbershagen hätten eine richtungsgebende Verschlimmerung erfahren. Ergänzend hat er den Befundbericht über die MRT der HWS und BWS vom 14. Juli 2018 (K2) und der MRT der LWS vom 19. Dezember 2017 (K3) sowie den Befundbericht des D über die ambulante Untersuchung vom 25. Juli 2018 (kein sicherer Hinweis für ein Karpaltunnelsyndrom links) vorgelegt.
Der Beklagte ist der Klage entgegengetreten und hat die versorgungsärztliche Stellungnahme des H vorgelegt. Dieser hat ausgeführt, dass sich der orthopädische GdB-Vorschlag von 30 für die Funktionsbehinderung der Wirbelsäule im obersten Bereich des Ermessenspielraums befinde, da die dokumentierten objektivierbaren Funktionsbehinderungen allenfalls gering bis mittelgradig erschienen. Nach Aktenlage sei eine Einstufung des hereditären Angioödems nur schwer vorzunehmen. Diese könne am ehesten nach den VG, Teil B, Nr. 17.2 erfolgen, wonach für das chronisch-rezidivierende Quincke-Ödem bei häufiger auftretenden Schüben und schwer vermeidbaren Noxen ein GdB von 20 bis 30 angegeben werde. Die Häufigkeit werde beim Kläger im psychotherapeutischen Bericht mit circa zweimal pro Monat beschrieben. Der Hausarzt beschreibe ein Auftreten zum Teil zweimal wöchentlich, teilweise mit der Notwendigkeit einer Kliniküberwachung. Die Berichte über die stationären Krankenhausaufenthalte seien beizuziehen, da von Interesse sei, wie oft stationäre Überwachungsmaßnahmen notwendig gewesen seien, sich der jeweilige klinische Befund dargestellt habe und welche therapeutischen Maßnahmen notwendig geworden seien.
Das Klinikum K hat auf Anfrage des SG mitgeteilt, dass keine weiteren Behandlungsberichte übersandt werden könnten, da der Kläger seit Februar 2019 nicht mehr behandelt worden sei.
Mit Urteil aufgrund mündlicher Verhandlung vom 13. April 2021, in der der Kläger persönlich angehört worden ist (vgl. Protokoll vom gleichen Tag), hat das SG den Bescheid vom 23. Juli 2019 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 18. Dezember 2019 abgeändert und den Beklagten verpflichtet, einen GdB von 40 seit dem 4. April 2019 festzustellen. Im Übrigen hat es die Klage abgewiesen. Im Funktionssystem „Gehirn einschließlich Psyche“ leide der Kläger unter einer rezidivierenden depressiven Störung mittelgradiger Episode und einer chronischen Schmerzstörung. Außerdem sei auch der Tinnitus diesem Funktionssystem zuzuordnen. Der Kläger sei in seiner Erlebnis- und Gestaltungsfähigkeit erheblich eingeschränkt, zeige ein inadäquates Stressverhalten. Wie sich aus dem Entlassungsbericht der Rehaklinik F1 vom 13. April 2018 ergebe, sei der Kläger zunächst seiner Tätigkeit als Lehrer nachgegangen, zwischenzeitlich sei er pensioniert. Das Verhältnis zu seinen beiden Kindern und seiner ehemaligen Ehefrau sei gut gewesen, seit der Scheidung sei er auch mehrere partnerschaftliche Beziehungen eingegangen. Ein sozialer Rückzug sei nicht erkennbar, der sich aus dem Bericht ergebende psychische Befund sei weitestgehend unauffällig. Am Ende der stationären Behandlung habe sich die depressive Symptomatik deutlich reduziert, die chronische Schmerzstörung sei nahezu remittiert gewesen. Der Kläger habe angegeben, seit seiner Pensionierung mit der Situation besser zurecht zu kommen. Es finde derzeit keine Psychotherapie statt und der Kläger nehme keine psychopharmazeutische Medikation ein. Ein höherer Teil-GdB als 30 sei daher nicht gerechtfertigt.
Im Funktionssystem „Haut“ betrage der Teil-GdB ebenfalls 30, nachdem der Kläger unter einem hereditären Angioödem Typ III leide. Diese Erkrankung werde durch die VG nicht ausdrücklich geregelt und müsse daher mit Hilfe einer analogen Anwendung bewertet werden. Die Beschwerden träten wiederkehrend auf und seien von unterschiedlich langen beschwerdefreien Intervallen unterbrochen. Ein Angioödem entwickele sich meist innerhalb einiger Stunden und klinge dann im Verlauf von zwei bis fünf Tagen wieder ab. Es gleiche daher in seinen Einschränkungen dem Quincke-Ödem. Bei dem Kläger trete die Erkrankung vermehrt seit 2019 in Erscheinung. Die Anfälle fänden in unregelmäßigen Abständen statt, nach den Angaben in der mündlichen Verhandlung seien diese nicht mit einer akuten Luftnot verbunden. Ein Krankenhaus habe der Kläger zuletzt 2019 aufgesucht, im Bedarfsfall spritze er sich das Enzym „Firazyr“, das gut anschlage. Von einem schweren, über Jahre sich hinziehenden Verlauf könne daher nicht ausgegangen werden. Unter Berücksichtigung des zuletzt als gut beschriebenen Allgemeinzustandes, der fehlenden Begleiterscheinungen und der guten Wirksamkeit des Medikaments im Bedarfsfall auf der einen Seite und der Tatsache, dass die im Gesicht auftretenden Ödeme für den Kläger eine entstellende Wirkung aufwiesen, auf der anderen Seite, sei zwar von häufiger auftretenden Schüben auszugehen, die jedoch gut und schnell behandelbar seien, sodass der Teil-GdB nicht mit mehr als 30 zu bewerten sei.
Der Teil-GdB im Funktionssystem „Rumpf“ betrage 20. Die Beweglichkeit der HWS sei zwar eingeschränkt, neurologisch bestünden aber keine Paresen. Eine Bewegungseinschränkung der LWS sei nicht objektiviert.
Aus den Teil-GdB von 30, 30 und 20 sei ein Gesamt-GdB von 40 zu bilden, wobei berücksichtigt werden müsse, dass der Teil-GdB für das Funktionssystem „Gehirn einschließlich Psyche“ bereits großzügig bemessen sei. Weitere zu bewertende Funktionseinschränkungen bestünden nicht.
Am 14. Mai 2021 hat der Kläger Berufung beim Landessozialgericht Baden-Württemberg (LSG) eingelegt. Schon ausgehend von dem Rechtsstandpunkt des SG zu den Teil-GdB habe dieses zu einem Gesamt-GdB von 50 gelangen müssen, da Überschneidungen nicht bestünden. Im Übrigen sei für das Angioödem ein Teil-GdB von 40 bis 50 anzusetzen, da ein langjähriges und medikamentös praktisch nicht beherrschbares Leiden bestehe.
Der Kläger beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Karlsruhe vom 13. April 2021 abzuändern und den Beklagten zu verpflichten, unter weiterer Abänderung des Bescheides vom 23. Juli 2019 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 18. Dezember 2019 sowie unter teilweiser weiterer Rücknahme des Bescheides vom 2. Dezember 2013 einen Grad der Behinderung von 60 seit dem 4. April 2019 festzustellen.
Der Beklagte beantragt,
die Berufung des Klägers zurückzuweisen.
Er verweist auf die angefochtene Entscheidung. Die Entscheidung des SG sei im Ergebnis vertretbar, allerdings müsse berücksichtigt werden, dass sich die psychische Erkrankung – nicht zuletzt durch die Pensionierung – eher gebessert habe und fraglich sei, ob ein Teil-GdB von 30 noch voll ausgefüllt sei. Der Kläger habe insbesondere angegeben, dass die Psychotherapie derzeit ruhe.
Auf Antrag des Klägers nach § 109 Sozialgerichtsgesetz (SGG) hat der Senat das Sachverständigengutachten des B, Universitäts-Haut-Klinik M, aufgrund ambulanter Untersuchung vom 16. November 2021 erhoben. Dieser hat zum Krankheitsbild des hereditären Angioödem ausgeführt, dass die klinischen Symptome aus unregelmäßig wiederkehrenden Hautschwellungen sowie potentiell lebensbedrohlichen Zungenschwellungen bestünden, also Zungenschwellungen, deren Verlauf unvorhersehbar sei und von denen jede einzelne zu einem Verschluss der oberen Luftwege mit nachfolgender Erstickung führen könne.
Die Hautschwellungen träten bei dem Kläger im Gesicht, vorwiegend als Lippenschwellungen und am Hals, auf. Das Ausmaß reiche von monströser bis entstellender bis zu milder Ausprägung. Die Hautschwellungen dauerten im Durchschnitt jeweils 2 Tage. Sie seien immer von einem Spannungsgefühl begleitet, außerdem seien sie in der Regel 12 Stunden mäßig bis erheblich schmerzhaft, bedingt durch den rasch entstehenden Flüssigkeitsdruck im Gewebe. Die Hälfte der Lippenschwellungen beginne tagsüber, die andere Hälfte nachts. Die meisten Schwellungen entstünden spontan, ohne erkennbare Ursache, ein anderer Teil werde durch psychische Belastungen ausgelöst. Eine medikamentöse Behandlung verursache hohe Kosten und sei vom Kläger bislang nicht durchgeführt worden, da die Schwellungen nicht lebensbedrohlich seien und sich von selbst zurückbildeten.
Zungenschwellungen seien in den letzten sechs Monaten zehnmal aufgetreten, sodass mit einer Häufigkeit von etwa 20 Mal pro Jahr in Zukunft zu rechnen sei. Die Dauer betrage bis zu 36 Stunden, die häufigsten hätten nachts begonnen, sodass er mit Zungenschwellungen aufgewacht sei. Ein Teil der Schwellungen sei einseitig, sie seien schmerzhaft und mit einem Spannungsgefühl verbunden. In etwa 10 Fällen sei es zu einer Atemnot gekommen, einem Zeichen für einen fortgeschrittenen partiellen Verschluss der oberen Luftwege und akuter Erstickungsgefahr. Die Atemnot habe etwa 20 Minuten gedauert. Die meisten Zungenschwellungen seien ohne erkennbaren Auslöser entstanden, ein Teil auch in der Folge von psychischem Stress. Während der Schwellung könne die Zunge den gesamten Mundraum ausfüllen, dabei sei die Sprache von kloßig bis unverständlich verändert. Eine notfallmäßige Krankenhausbehandlung sei einmal stationär und dreimal ambulant erfolgt, viermal habe er vor dem Krankenhaus umgedreht, da sich die Schwellungen zurückgebildet hätten.
Wegen der Erstickungsgefahr sei der Kläger stark belastet, das Aufwachen in der Nacht durch eine Zungenschwellung erzeuge Ängstlichkeit und Angst, da er nicht wisse, ob sich eine lebensbedrohliche Situation entwickeln könne.
Die Angaben des Klägers zu der Krankheitssymptomatik seien absolut glaubwürdig und stimmten mit den Kriterien der Krankheit überein, ebenso die Häufigkeit der verschiedenen Attacken zueinander und die Abläufe der Attacken. Durch die Gesamtheit der Einzelattacken und deren Folgen in der symptomfreien Intervallzeit sei der Kläger physisch und psychisch erheblich eingeschränkt. Der Kläger lebe ständig mit der Angst vor einer neuen Schwellungsattacke. Die teilweise monströsen und schmerzhaften Schwellungen der Lippen führten zu Einschränkungen bei der Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft. Die physischen Symptome seien entstellend, sodass Kontakte gemieden würden. Die Beeinträchtigungen durch die klinischen Symptome seien zwar auf die jeweilige Schwellung beschränkt, diese aber unvorhersehbar. Hinzu komme die Ängstlichkeit, dass die nächste Schwellung „unpassend“ auftrete. Ungleich größer seien die Beeinträchtigungen durch die Zungenschwellungen.
Die Einschätzung des GdB habe zum einen anhand der Vorgaben für das Quincke-Ödem zu erfolgen, welches bei einen schweren chronischen, sich über Jahre hinziehenden Verlauf mit einem GdB von 40 bis 50 zu bewerten sei. Weiter könne eine systemische Beteiligung, wie vorliegend durch die Zungenschwellungen, mit oder ohne Beteiligung der Atemwege zusätzlich berücksichtigt werden. Für die Zungenschwellungen selbst gebe es keine Bewertungsvorgabe, diese könnten aber entsprechend den Bauchfellverwachsungen mit häufiger rezidivierenden Ileuserscheinungen bewertet werden. Die daneben bestehe psychische Beeinträchtigung sei mit einem GdB von 20 zu bewerten. Der Kläger lebe mit der ständigen Sorge vor einer Kehlkopfzuschwellung mit Erstickungsrisiko. Der Gesamt-GdB sei auf 60 einzuschätzen.
Unter der Bezeichnung „Angioödem“ oder „Quincke-Ödem“ würden verschiedene erworbene oder ererbte Krankheiten zusammengefasst, die sich in vielem unterschieden, auch in den klinischen Symptomen. In vielen Fällen seien Angioödeme mit einer Urtikaria verbunden, die hereditären Angioödem-Formen seien jedoch in Symptomatik und Verlauf andersartig, schwerer und durch das Auftreten von ausschließlich tiefen Schwellungen der Haut und auch vor allem innerer Organe gekennzeichnet. Die Krankheit des Klägers gehöre zu den erheblichen Formen, sei extrem selten und erst 2018 beschrieben sowie hinsichtlich der klinischen Symptome charakterisiert worden. Insofern habe sie in den Vorberichten nicht in ihren Eigenschaften dokumentiert und adäquat bewertet werden können.
Der Beklagte ist dem Sachverständigengutachten unter Vorlage der versorgungsärztlichen Stellungnahme des H entgegengetreten. Dieser hat ausgeführt, dass davon auszugehen sei, dass sich die Häufigkeit der angegebenen Zungenschwellungen auf den Zeitraum seit Beginn der Erkrankung beziehe. Die Bewertung der Gesichtsschwellungen könne nach den VG, Teil B, Nr. 17.2 erfolgen. Hier werde bei häufig auftretenden Schüben bei schwer vermeidbaren Noxen ein GdB von 20 bis 30 vorgeschlagen. Ein schwerer chronischer Verlauf liege nicht vor, da bisher keine Behandlung der Lippenschwellungen notwendig geworden sei. Zusätzlich seien die Zungenschwellungen, die im Einzelfall zu Atemnot führen könnten, zu bewerten. Aufgrund der Atemnot könne eine Analogie zur Einstufung des Bronchialasthmas nach den VG, Teil B, Nr. 8.5 gezogen werden. Da insgesamt seit Erkrankungsbeginn nur viermal eine Notfallbehandlung wegen Atemnot notwendig gewesen sei, sei von seltenen Anfällen (GdB 0 bis 20) auszugehen. Insgesamt sei bei nicht behandlungsbedürftigen Lippenschwellungen sowie Zungenschwellungen, die nur selten eine Notfallbehandlung erforderten, ein Teil-GdB von 30 anzunehmen. Die seelische Störung sei in einem gesonderten Tenor bewertet worden. Somit müsse sich, anders als im Gutachten des B angenommen, der Teil-GdB für das hereditäre Angioödem durch die psychische Belastung nicht weiter erhöhen. Andernfalls wären bei der Gesamt-GdB-Bildung Überschneidungen zu beachten. Zusammenfassend werde der Gesamt-GdB von 40 weiter für zutreffend erachtet.
Der Berichterstatter hat mit Verfügung vom 12. Mai 2022 darauf hingewiesen, dass nach vorläufiger Prüfung die rechtlichen Ausführungen des H zur Bildung der Teil- und des Gesamt-GdB so nicht überzeugen dürften.
Der Beklagte hat unter Vorlage einer weiteren versorgungsärztlichen Stellungnahme des H ein Anerkenntnis auf Feststellung eines GdB von 50 seit dem 4. April 2019 abgegeben.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung des Senats ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.
Hinsichtlich des weiteren Sach- und Streitstandes wird auf die Verwaltungs- und Gerichtsakte Bezug genommen.
Die form- und fristgerecht (§ 151 SGG) eingelegte Berufung, über die der Senat im Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung entscheidet (§ 124 Abs. 2 SGG), ist statthaft (§§ 143, 144 SGG), auch im Übrigen zulässig und begründet.
Streitgegenstand des Berufungsverfahrens ist das Urteil des SG vom 13. April 2021, soweit damit die kombinierte Anfechtungs- und Verpflichtungsklage (§ 54 Abs. 1 SGG) auf Feststellung eines höheren GdB unter Abänderung des Bescheides vom 23. Juli 2019 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides (§ 95 SGG) vom 18. Dezember 2019 sowie – sinngemäß – unter teilweiser Rücknahme des Bescheides vom 2. Dezember 2013 abgewiesen worden ist. Nachdem der Beklagte ein Anerkenntnis auf Feststellung eines GdB von 50 abgegeben hat, das vom Kläger nicht angenommen wurde, steht bindend fest, dass der GdB mit mindestens 50 festzustellen ist. Maßgebender Zeitpunkt für die Beurteilung der Sach- und Rechtslage ist bei dieser Klageart grundsätzlich der Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung in den Tatsacheninstanzen (vgl. Bundessozialgericht [BSG], Urteil vom 2. September 2009 – B 6 KA 34/08 –, juris, Rz. 26; Keller in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, Kommentar zum SGG, 13. Aufl. 2020, § 54 Rz. 34).
Die Begründetheit der Berufung folgt aus der weiteren Begründetheit der Klage. Der Bescheid vom 23. Juli 2019 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 18. Dezember 2019 ist in weiterem Umfang rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten (§ 54 Abs. 2 SGG), als es das SG bereits angenommen hat. Er kann nach Überzeugung des Senats – über das Anerkenntnis des Beklagten hinaus – die höhere Neufeststellung des GdB mit 60 beanspruchen, wie ihn auch der nach § 109 SGG gehörte Sachverständige gesehen hat.
Rechtsgrundlage des angefochtenen Bescheides ist § 48 Abs. 1 Satz 1 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X). Danach ist, soweit in den tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnissen, die bei Erlass eines Verwaltungsaktes mit Dauerwirkung vorgelegen haben, eine wesentliche Änderung eintritt, der Verwaltungsakt mit Wirkung für die Zukunft aufzuheben. Gemäß § 48 Abs. 1 Satz 2 SGB X soll der Verwaltungsakt mit Wirkung vom Zeitpunkt der Änderung der Verhältnisse aufgehoben werden, soweit die Änderung zugunsten der Betroffenen erfolgt (§ 48 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 SGB X). Dabei liegt eine wesentliche Änderung vor, soweit der Verwaltungsakt nach den nunmehr eingetretenen tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnissen nicht mehr so erlassen werden dürfte, wie er ergangen war. Die Änderung muss sich nach dem zugrundeliegenden materiellen Recht auf den Regelungsgehalt des Verwaltungsaktes auswirken. Das ist bei einer tatsächlichen Änderung nur dann der Fall, wenn diese so erheblich ist, dass sie rechtlich zu einer anderen Bewertung führt. Von einer wesentlichen Änderung im Gesundheitszustand ist auszugehen, wenn diese einen um wenigstens 10 veränderten Gesamt-GdB rechtfertigt (vgl. BSG, Urteil vom 11. November 2004 – B 9 SB 1/03 R –, juris, Rz. 12). Im Falle einer solchen Änderung ist der Verwaltungsakt – teilweise – aufzuheben und durch die zutreffende Bewertung zu ersetzen (vgl. BSG, Urteil vom 22. Oktober 1986 – 9a RVs 55/85 –, juris, Rz. 11 m. w. N.). Die Feststellung einer wesentlichen Änderung setzt einen Vergleich der Sach- und Rechtslage bei Erlass des – teilweise – aufzuhebenden Verwaltungsaktes und zum Zeitpunkt der Überprüfung voraus (vgl. BSG, Urteil vom 2. Dezember 2010 – B 9 V 2/10 R –, SozR 4-3100 § 35 Nr. 5, Rz. 38 m. w. N.).
Diese Voraussetzungen sind vorliegend erfüllt, wie schon durch die rechtskräftige (vgl. oben) Verpflichtung zur Feststellung eines höheren GdB durch das SG sowie das (Teil-)Anerkenntnis des Beklagten feststeht. Gegenüber dem maßgebenden Vergleichsbescheid vom 2. Dezember 2013 ist eine wesentliche Änderung eingetreten, die zu einer Höherbewertung des GdB führt. Dies ergibt sich bereits aus den versorgungsärztlichen Stellungnahmen im Verwaltungsverfahren. Nachdem Z zusätzlich eine somatoforme Schmerzstörung angenommen wie S1 zum einen weiter eine psychovegetative Störung und zum anderen einen Teil-GdB von 20 für das Angioödem gesehen hat, überzeugt es nicht, wenn davon ausgegangen worden ist, dass sich die Gesamtbeeinträchtigung nicht erhöht haben soll, insbesondere nachdem unterschiedliche Funktionssysteme betroffen sind.
Der Anspruch richtet sich nach § 152 Abs. 1 und 3 Sozialgesetzbuch Neuntes Buch (SGB IX) in der aktuellen, seit 1. Januar 2018 geltenden Fassung durch Art. 1 und 26 Abs. 1 des Gesetzes zur Stärkung der Teilhabe und Selbstbestimmung von Menschen mit Behinderungen (Bundesteilhabegesetz – BTHG) vom 23. Dezember 2016 (BGBl I S. 3234). Danach stellen auf Antrag des Menschen mit Behinderung die für die Durchführung des Bundesversorgungsgesetzes (BVG) zuständigen Behörden das Vorliegen einer Behinderung und den GdB zum Zeitpunkt der Antragstellung fest (§ 152 Abs. 1 Satz 1 SGB IX). Auf Antrag kann festgestellt werden, dass ein GdB bereits zu einem früheren Zeitpunkt vorgelegen hat (§ 152 Abs. 1 Satz 2 SGB IX). Menschen mit Behinderungen sind nach § 2 Abs. 1 Menschen, die körperliche, seelische, geistige oder Sinnesbeeinträchtigungen haben, die sie in Wechselwirkung mit einstellungs- und umweltbedingten Barrieren an der gleichberechtigten Teilhabe an der Gesellschaft mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate hindern können (Satz 1). Eine Beeinträchtigung nach Satz 1 liegt vor, wenn der Körper- und Gesundheitszustand von dem für das Lebensalter typischen Zustand abweicht (Satz 2). Menschen sind im Sinne des Teils 3 des SGB IX schwerbehindert, wenn bei ihnen ein GdB von wenigstens 50 vorliegt und sie ihren Wohnsitz, ihren gewöhnlichen Aufenthalt oder ihre Beschäftigung auf einem Arbeitsplatz im Sinne des § 156 SGB IX rechtmäßig im Geltungsbereich dieses Gesetzbuches haben. Die Auswirkungen der Behinderung auf die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft werden als GdB nach Zehnergraden abgestuft festgestellt (§ 152 Abs. 1 Satz 5 SGB IX). Das Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) wird ermächtigt, durch Rechtsverordnung mit Zustimmung des Bundesrates die Grundsätze aufzustellen, die für die Bewertung des GdB maßgebend sind, die nach Bundesrecht im Schwerbehindertenausweis einzutragen sind (§ 153 Abs. 2 SGB IX). Nachdem noch keine Verordnung nach § 153 Abs. 2 SGB IX erlassen ist, gelten die Maßstäbe des § 30 Abs. 1 BVG und der aufgrund des § 30 Abs. 16 BVG erlassenen Rechtsverordnungen, somit die am 1. Januar 2009 in Kraft getretene Verordnung zur Durchführung des § 1 Abs. 1 und 3, des § 30 Abs. 1 und des § 35 Abs. 1 BVG (Versorgungsmedizin-Verordnung – VersMedV) vom 10. Dezember 2008 (BGBl I S. 2412), entsprechend (§ 241 Abs. 5 SGB IX). Die zugleich in Kraft getretene, auf der Grundlage des aktuellen Standes der medizinischen Wissenschaft unter Anwendung der Grundsätze der evidenzbasierten Medizin erstellte und fortentwickelte Anlage „Versorgungsmedizinische Grundsätze“ (VG) zu § 2 VersMedV ist an die Stelle der bis zum 31. Dezember 2008 heranzuziehenden „Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im Sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertenrecht“ (AHP) getreten. In den VG wird der medizinische Kenntnisstand für die Beurteilung von Behinderungen wiedergegeben (vgl. BSG, Urteil vom 1. September 1999 – B 9 V 25/98 R –, SozR 3-3100 § 30 Nr. 22). Hierdurch wird eine für den Menschen mit Behinderung nachvollziehbare, dem medizinischen Kenntnisstand entsprechende Festsetzung des GdB ermöglicht.
Allgemein gilt, dass der GdB auf alle Gesundheitsstörungen, unabhängig ihrer Ursache, final bezogen ist. Der GdB ist ein Maß für die körperlichen, geistigen, seelischen und sozialen Auswirkungen einer Funktionsbeeinträchtigung aufgrund eines Gesundheitsschadens. Ein GdB setzt stets eine Regelwidrigkeit gegenüber dem für das Lebensalter typischen Zustand voraus. Dies ist insbesondere bei Kindern und älteren Menschen zu beachten. Physiologische Veränderungen im Alter sind bei der Beurteilung des GdB nicht zu berücksichtigen. Als solche Veränderungen sind die körperlichen und psychischen Leistungseinschränkungen anzusehen, die sich im Alter regelhaft entwickeln, also für das Alter nach ihrer Art und ihrem Umfang typisch sind. Demgegenüber sind pathologische Veränderungen, also Gesundheitsstörungen, die nicht regelmäßig und nicht nur im Alter beobachtet werden können, bei der Beurteilung des GdB auch dann zu berücksichtigen, wenn sie erstmalig im höheren Alter auftreten oder als „Alterskrankheiten“ (etwa „Altersdiabetes“ oder „Altersstar“) bezeichnet werden (VG, Teil A, Nr. 2 c). Erfasst werden die Auswirkungen in allen Lebensbereichen und nicht nur die Einschränkungen im allgemeinen Erwerbsleben. Da der GdB seiner Natur nach nur annähernd bestimmt werden kann, sind beim GdB nur Zehnerwerte anzugeben. Dabei sollen im Allgemeinen Funktionssysteme zusammenfassend beurteilt werden (VG, Teil A, Nr. 2 e). Liegen mehrere Beeinträchtigungen der Teilhabe am Leben in der Gesellschaft vor, so wird nach § 152 Abs. 3 SGB IX der GdB nach den Auswirkungen der Beeinträchtigungen in ihrer Gesamtheit unter Berücksichtigung ihrer wechselseitigen Beziehungen festgestellt. Bei mehreren Funktionsbeeinträchtigungen sind zwar zunächst Teil-GdB anzugeben; bei der Ermittlung des Gesamt-GdB durch alle Funktionsbeeinträchtigungen dürfen jedoch die einzelnen Werte nicht addiert werden. Auch andere Rechenmethoden sind für die Bildung eines Gesamt-GdB ungeeignet. Bei der Beurteilung des Gesamt-GdB ist in der Regel von der Funktionsbeeinträchtigung auszugehen, die den höchsten Teil-GdB bedingt und dann im Hinblick auf alle weiteren Funktionsbeeinträchtigungen zu prüfen, ob und inwieweit hierdurch das Ausmaß der Behinderung größer wird, ob also wegen der weiteren Funktionsbeeinträchtigungen dem ersten GdB 10 oder 20 oder mehr Punkte hinzuzufügen sind, um der Behinderung insgesamt gerecht zu werden. Die Beziehungen der Funktionsbeeinträchtigungen zueinander können unterschiedlich sein. Die Auswirkungen der einzelnen Funktionsbeeinträchtigungen können voneinander unabhängig sein und damit ganz verschiedene Bereiche im Ablauf des täglichen Lebens betreffen. Eine Funktionsbeeinträchtigung kann sich auf eine andere besonders nachteilig auswirken, vor allem dann, wenn Funktionsbeeinträchtigungen paarige Gliedmaßen oder Organe betreffen. Funktionsbeeinträchtigungen können sich überschneiden. Eine hinzutretende Gesundheitsstörung muss die Auswirkung einer Funktionsbeeinträchtigung aber nicht zwingend verstärken. Von Ausnahmefällen abgesehen, führen leichte Gesundheitsstörungen, die nur einen GdB von 10 bedingen, nicht zu einer Zunahme des Ausmaßes der Gesamtbeeinträchtigung. Dies gilt auch dann, wenn mehrere derartige leichte Gesundheitsstörungen nebeneinander bestehen. Auch bei leichten Funktionsbeeinträchtigungen mit einem GdB von 20 ist es vielfach nicht gerechtfertigt, auf eine wesentliche Zunahme des Ausmaßes der Behinderung zu schließen.
Der Gesamt-GdB ist nicht nach starren Beweisregeln, sondern aufgrund richterlicher Erfahrung, gegebenenfalls unter Hinzuziehung von Sachverständigengutachten, in freier richterlicher Beweiswürdigung festzulegen (vgl. BSG, Urteil vom 11. November 2004 – B 9 SB 1/03 R –, juris, Rz. 17 m. w. N.). Dabei ist zu berücksichtigen, dass die auf der ersten Prüfungsstufe zu ermittelnden nicht nur vorübergehenden Gesundheitsstörungen und die sich daraus abzuleitenden Teilhabebeeinträchtigungen ausschließlich auf der Grundlage ärztlichen Fachwissens festzustellen sind. Bei den auf zweiter und dritter Stufe festzustellenden Teil- und Gesamt-GdB sind über die medizinisch zu beurteilenden Verhältnisse hinaus weitere Umstände auf gesamtgesellschaftlichem Gebiet zu berücksichtigen (vgl. BSG, Beschluss vom 9. Dezember 2010 – B 9 SB 35/10 B –, juris, Rz. 5).
Eine rechtsverbindliche Entscheidung nach § 152 Abs. 1 Satz 1 SGB IX umfasst nur die Feststellung einer unbenannten Behinderung und des Gesamt-GdB. Die dieser Feststellung im Einzelfall zugrundeliegenden Gesundheitsstörungen, die daraus folgenden Funktionsbeeinträchtigungen und ihre Auswirkungen dienen lediglich der Begründung des Verwaltungsaktes und werden nicht bindend festgestellt (vgl. BSGE 82, 176 [177 f.]). Der Teil-GdB ist somit keiner eigenen Feststellung zugänglich. Er erscheint nicht im Verfügungssatz des Verwaltungsaktes und ist nicht isoliert anfechtbar. Es ist somit auch nicht entscheidungserheblich, ob von Seiten des Beklagten oder der Vorinstanz Teil-GdB-Werte in anderer Höhe als im Berufungsverfahren vergeben worden sind, wenn der Gesamt-GdB hierdurch nicht beeinflusst wird.
In Anwendung dieser durch den Gesetz- und Verordnungsgeber vorgegebenen Grundsätze sowie unter Beachtung der höchstrichterlichen Rechtsprechung ist der erkennende Senats in Auswertung der medizinischen Unterlagen zu dem Ergebnis gelangt, dass der Gesamt-GdB ab dem Zeitpunkt des Verschlechterungsantrages 60 beträgt.
Die vorwiegenden Funktionseinschränkungen des Klägers bestehen nunmehr im Funktionssystem „Haut“, welches mit einem Teil-GdB von 50 zu bewerten ist.
Nach den VG, Teil B, Nr. 17.2 ist eine chronische rezidivierende Urtikaria/Quincke-Ödem selten, bis zu zweimal im Jahr auftretend, mit leicht vermeidbaren Noxen oder Allergenen mit einem GdB von 0 bis 10, bei häufiger auftretenden Schüben bei schwer vermeidbaren Noxen oder Allergenen mit einem GdB von 20 bis 30 sowie bei einem schweren chronischen, sich über Jahre hinzuziehenden Verlauf mit einem GdB von 40 bis 50 zu bewerten. Eine systemische Beteiligung z. B. des Gastrointestinaltraktes oder des Kreislaufs ist ggf. zusätzlich zu berücksichtigen.
Bei dem Kläger ist im Juni 2018 ein Angioödem, ein dem Quincke-Ödem vergleichbares Krankheitsbild, diagnostisch gesichert worden, welches durch Schwellungen der Lippen und der Zunge klinisch manifest wird, wobei die Schwellung der Zunge mit akuter Atemnot, die potentiell lebensbedrohlich ist, einhergehen kann, wie B erläuternd dargelegt hat. Die Zungenschwellungen treten im Durchschnitt zweimal monatlich auf, wie der Senat der sachverständigen Zeugenauskunft des L entnimmt und was durch den Sachverständigen B, der von circa 20 Anfällen pro Jahr ausgeht, in etwa dem gleichen Umfang erhoben worden ist.
Zu den Haut- bzw. Lippenschwellungen hat der Sachverständige ausgeführt, dass diese im Ausmaß von milden bis monströser und entstellender Ausprägung bestehen, im Durchschnitt zwei Tage anhalten und mit einem schmerzhaften Spannungsgefühl einhergehen. Der Kläger hat dies im Übrigen bereits durch Fotos im erstinstanzlichen Verfahren belegt. Nachdem vorwiegend die Lippen betroffen sind und die Schwellungen damit deutlich äußerlich sichtbar in Erscheinung treten, ist für den Senat nachvollziehbar, wenn der Sachverständige eine entstellende Wirkung der Schwellungen sieht und daraus Einschränkungen an der Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft ableitet. Dies korrespondiert mit der Rechtsprechung des BSG, wonach für eine Entstellung nicht jede körperliche Abnormität genügt, sondern es sich objektiv um eine erhebliche Auffälligkeit handeln muss, die naheliegende Reaktionen der Mitmenschen wie Neugier und Betroffenheit hervorruft und damit zugleich erwarten lässt, dass der Betroffene ständig viele Blicke auf sich zieht, zum Objekt besonderer Beachtung wird und sich deshalb aus dem Leben in der Gemeinschaft zurückzieht und zu vereinsamen droht, sodass letztlich die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft gefährdet ist. Dabei kommt es nicht auf die subjektive oder persönliche Einschätzung an, sondern es ist ein objektiver Maßstab anzulegen (vgl. BSG, Urteil vom 10. März 2022 – B 1 KR 3/21 R – juris, Rz. 16). Damit einhergehend hat der Kläger einen sozialen Rückzug beschrieben, da die Schwellungen unvermittelt auftreten können.
Daneben ist vom Kläger schlüssig beschrieben worden, dass ihn Schwellungen der Lippen insbesondere beim Essen und Trinken beeinträchtigen, was erst Recht bei Schwellungen der Zunge nachvollziehbar ist.
Nachdem der GdB das Maß für die körperlichen, geistigen, seelischen und sozialen Auswirkungen einer Funktionsbeeinträchtigung aufgrund eines Gesundheitsschadens ist (vgl. VG, Teil A, Nr. 2a), überzeugt es nicht, wenn versorgungsärztlich allein aus der Nichtinanspruchnahme stationärer Krankenhausbehandlung darauf geschlossen wird, dass kein schwerer chronischer Verlauf der Erkrankung vorliege. Dabei wird nicht berücksichtigt, dass der Kläger notfallmäßig einmal stationär und dreimal ambulant im Krankenhaus behandelt wurde, wie der Sachverständige B dargelegt hat. Daneben besteht die bisherige medikamentöse Behandlung in subkutanen Injektionen von Icatibant, einem Bradykinin-Rezeptorblocker, oder mit intravenösen Kortison-Infusionen. Außerdem hat der Kläger mit einer Zungenschwellung viermal vor dem Krankenhaus gewartet ohne es zu betreten, da es zu einer Rückbildung der Zungenschwellung kam.
Vor diesem Hintergrund rechtfertigt der stark progrediente Verlauf aus Sicht des Senats, von einem schweren chronischen Ausmaß der Erkrankung auszugehen. Dieser ist aufgrund der entstellenden Wirkung der Lippenschwellungen einerseits und der lebensbedrohlichen Zungenschwellungen andererseits am oberen Ende des Bewertungsrahmens einzuschätzen. Dabei sind die Zungenschwellungen bei der Begründung der Schwere des Verlaufs bereits berücksichtigt und nicht als systemische Auswirkungen noch zusätzlich zu bewerten.
Zu keiner anderen Beurteilung gelangt der Senat indessen, wenn den versorgungsärztlichen Ausführungen des H gefolgt wird. Dieser hat sich dem Ansatz des B angeschlossen, dass die Lippen- und Zungenschwellungen getrennt zu bewerten sind, sieht aber lediglich häufiger auftretende Schübe im Sinne der VG, Teil B, Nr. 17.2. Im Hinblick auf das beschriebene Ausmaß der Lippenschwellungen muss indessen auch bei dieser Sichtweise eine Ausschöpfung des Bewertungsrahmens erfolgen.
Daneben schätzt H die Zungenschwellungen analog zum Bronchialasthma ein. Nach den VG, Teil B, Nr. 8.5 führt ein Bronchialasthma ohne dauernde Einschränkung der Lungenfunktion bei einer Hyperreagibilität mit seltenen (saisonalen) und/oder leichten Anfällen zu einem GdB von 0 bis 20, eine Hyperreagibilität mit häufigen (mehrmals pro Monat auftretenden) und/oder schweren Anfällen zu einem GdB von 30 bis 40 und eine Hyperreagibilität mit Serien schwerer Anfälle zu einem Gdb von 50. Eine dauernde Einschränkung der Lungenfunktion ist zusätzlich zu berücksichtigen.
Ausgehend von der beschriebenen Häufigkeit und dem Ausmaß der auftretenden Zungenschwellungen (vgl. oben) lässt sich eine Einordnung als bloße „seltene/saisonale“ Anfälle nicht begründen, vielmehr muss von einem mehrmals monatlichen Auftreten ausgegangen werden. Schwere Anfälle werden dabei von den VG nicht vorausgesetzt, sondern diese werden alternativ (und/oder) genannt. Dementsprechend wäre der Bewertungsrahmen von 30 bis 40 eröffnet, was es rechtfertigt, den Teil-GdB von 30 im Funktionssystem „Haut“ aufgrund des Vergleichs der Zungenschwellungen mit dem Funktionssystem „Atmung“ ebenfalls auf 50 zu erhöhen.
Jedenfalls wäre aber, dem Ansatz von B folgend, nach den Vorgaben der VG, Teil B, Nr. 17.2 eine Erhöhung wegen der systemischen Beteiligung anzunehmen, was den Teil-GdB von 50 ebenfalls rechtfertigt.
Im Funktionssystem „Gehirn einschließlich Psyche“ ist ein Teil-GdB von 20 begründet, ein solcher von 30 wird entgegen der vorangegangenen versorgungsärztlichen Einschätzung nicht mehr erreicht.
Nach den VG, Teil B, Nr. 3.7 begründen Neurosen, Persönlichkeitsstörungen, Folgen psychischer Traumen in Form leichterer psychovegetativer oder psychischer Störungen einen GdB von 0 bis 20, stärkere Störungen mit wesentlicher Einschränkung der Erlebnis- und Gestaltungsfähigkeit (z. B. ausgeprägtere depressive, hypochondrische, asthenische oder phobische Störungen, Entwicklungen mit Krankheitswert, somatoforme Störungen) einen GdB von 30 bis 40, schwere Störungen (z. B. schwere Zwangskrankheit) mit mittelgradigen sozialen Anpassungsschwierigkeiten einen GdB von 50 bis 70 und mit schweren sozialen Anpassungsschwierigkeiten einen GdB von 80 bis 100. Die funktionellen Auswirkungen einer psychischen Erkrankung, insbesondere wenn es sich um eine affektive oder neurotische Störung nach F30.- oder F40.- ICD-10 GM handelt, manifestieren sich dabei im psychisch-emotionalen, körperlich-funktionellen und sozial-kommunikativen Bereich (vgl. Philipp, Vorschlag zur diagnoseunabhängigen Ermittlung der MdE bei unfallbedingten psychischen bzw. psychosomatischen Störungen, MedSach 6/2015, S. 255 ff.). Diese drei Leidensebenen hat auch das Bundessozialgericht in seiner Rechtsprechung angesprochen (vgl. BSG, Beschluss vom 10. Juli 2017 – B 9 V 12/17 B –, juris, Rz. 2). Dabei ist für die GdB-Bewertung, da diese die Einbußen in der Teilhabe am Leben in der (allgemeinen) Gesellschaft abbilden soll, vor allem die sozial-kommunikative Ebene maßgeblich (vgl. Senatsurteil vom 12. Januar 2017 – L 6 VH 2746/15 –, juris, Rz. 61). Bei dieser Beurteilung ist auch der Leidensdruck zu würdigen, dem sich der behinderte Mensch ausgesetzt sieht, denn eine „wesentliche Einschränkung der Erlebnis- und Gestaltungsfähigkeit“ meint schon begrifflich eher Einschränkungen in der inneren Gefühlswelt, während Störungen im Umgang mit anderen Menschen eher unter den Begriff der „sozialen Anpassungsschwierigkeiten“ fallen, der ebenfalls in den VG genannt ist. Die Stärke des empfundenen Leidensdrucks äußert sich nach ständiger Rechtsprechung des Senats auch und maßgeblich in der Behandlung, die der Betroffene in Anspruch nimmt, um das Leiden zu heilen oder seine Auswirkungen zu lindern. Hiernach kann bei fehlender ärztlicher oder der gleichgestellten (§§ 27 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, 28 Abs. 3 Fünftes Buch Sozialgesetzbuch – Krankenversicherung) psychotherapeutischen Behandlung durch – bei gesetzlich Versicherten zugelassene – Psychologische Psychotherapeuten in der Regel nicht davon ausgegangen werden, dass ein diagnostiziertes seelisches Leiden über eine leichtere psychische Störung hinausgeht und bereits eine stärker behindernde Störung im Sinne der GdB-Bewertungsgrundsätze darstellt (vgl. Senatsurteil vom 22. Februar 2018 – L 6 SB 4718/16 –, juris, Rz. 42; vgl. auch LSG Baden- Württemberg, Urteil vom 17. Dezember – L 8 SB 1549/10 –, juris, Rz. 31).
Nach diesen Maßstäben ist ergibt sich aus der Aktenlage, dass L zunächst eine mit Ängsten verbundene depressive Symptomatik beschrieben hat, die zu erheblichen Schlafstörungen, Atemproblemen und Unruhe, vor allem im Zusammenhang mit der beruflichen Tätigkeit führte. Während der stationären Rehabilitation im März 2018 konnte die depressive Symptomatik indessen therapeutisch deutlich gebessert werden und das chronische Schmerzsyndrom wird als remittiert beschrieben. Die Entlassung erfolgte in schwingungsfähigem und emotional ausgeglichen Zustand, was für eine Besserung des Gesundheitszustandes spricht.
Dies ändert aber nichts daran, dass L für den Senat überzeugend dargelegt hat, dass die rezidivierenden Depressionen sich durch die im Zusammenhang mit dem Angioödem, welches B erstmals anlässlich der ambulanten Untersuchung am 19. Juni 2018 und damit zeitlich nach der Rehabilitation diagnostiziert hat, zusätzlich aufgetretenen Angstzustände vor Atemnot wieder verstärkt haben. Weiterhin hat er einen Tinnitus beschrieben, der vor allem in depressiven Phasen eine quälende Qualität hat, mit immer wieder auftretenden Stimmungsschwankungen, Konzentrations- und Aufmerksamkeitsstörungen wie aggressiven Durchbrüchen mit selbstverletzenden Aktionen, die in labilen Phasen nur schwer zu kontrollieren sind. Daneben hat Z versorgungsärztlich zuvor bereits eine chronische Schmerzstörung ausgehend von der Wirbelsäule gesehen, die von dem K ebenfalls beschrieben worden ist.
Auch wenn durch die Pensionierung die berufliche Belastung des Klägers weggefallen ist und derzeit keine medikamentöse Therapie erfolgt, ist immer noch eine leichtere psychische Störung objektiviert, die an der oberen Grenze des Bewertungsrahmens mit 20 zu bewerten ist.
Im Funktionssystem „Rumpf“ lässt sich ein Teil-GdB hingegen nicht begründen.
Nach den VG, Teil B, Nr. 18.1 wird der GdB für angeborene und erworbene Schäden an den Haltungs- und Bewegungsorganen entscheidend bestimmt durch die Auswirkungen der Funktionsbeeinträchtigungen (Bewegungsbehinderung und Minderbelastbarkeit) sowie die Mitbeteiligung anderer Organsysteme. Die üblicherweise auftretenden Beschwerden sind dabei mitberücksichtigt. Außergewöhnliche Schmerzen sind gegebenenfalls zusätzlich zu werten (vgl. VG, Teil A, Nr. 2 j). Schmerzhafte Bewegungseinschränkungen der Gelenke können schwerwiegender als eine Versteifung sein. Bei Haltungsschäden und/oder degenerativen Veränderungen an Gliedmaßengelenken und an der Wirbelsäule (z. B. Arthrose, Osteochondrose) sind auch Gelenkschwellungen, muskuläre Verspannungen, Kontrakturen oder Atrophien zu berücksichtigen. Mit bildgebenden Verfahren festgestellte Veränderungen (z. B. degenerativer Art) allein rechtfertigen noch nicht die Annahme eines GdB. Ebenso kann die Tatsache, dass eine Operation an einer Gliedmaße oder an der Wirbelsäule (z. B. Meniskusoperation, Bandscheibenoperation, Synovialektomie) durchgeführt wurde, für sich allein nicht die Annahme eines GdB begründen. Bei den entzündlich-rheumatischen Krankheiten sind unter Beachtung der Krankheitsentwicklung neben der strukturellen und funktionellen Einbuße die Aktivität mit ihren Auswirkungen auf den Allgemeinzustand und die Beteiligung weiterer Organe zu berücksichtigen.
Nach den VG, Teil B, Nr. 18.9 ergibt sich der GdB bei angeborenen und erworbenen Wirbelsäulenschäden (einschließlich Bandscheibenschäden, Scheuermann-Krankheit, Spondylolisthesis, Spinalkanalstenose und dem so genannten „Postdiskotomiesyndrom“) primär aus dem Ausmaß der Bewegungseinschränkung, der Wirbelsäulenverformung und -instabilität sowie aus der Anzahl der betroffenen Wirbelsäulenabschnitte. Der Begriff Instabilität beinhaltet die abnorme Beweglichkeit zweier Wirbel gegeneinander unter physiologischer Belastung und die daraus resultierenden Weichteilveränderungen und Schmerzen. So genannte „Wirbelsäulensyndrome“ (wie Schulter-Arm-Syndrom, Lumbalsyndrom, Ischialgie sowie andere Nerven- und Muskelreizerscheinungen) können bei Instabilität und bei Einengungen des Spinalkanals oder der Zwischenwirbellöcher auftreten. Für die Bewertung von chronisch-rezidivierenden Bandscheibensyndromen sind aussagekräftige anamnestische Daten und klinische Untersuchungsbefunde über einen ausreichend langen Zeitraum von besonderer Bedeutung. Im beschwerdefreien Intervall können die objektiven Untersuchungsbefunde nur gering ausgeprägt sein.
Wirbelsäulenschäden ohne Bewegungseinschränkung oder Instabilität haben einen GdB von 0 zur Folge. Gehen diese mit geringen funktionellen Auswirkungen (Verformung, rezidivierende oder anhaltende Bewegungseinschränkung oder Instabilität geringen Grades, seltene und kurz-dauernd auftretende leichte Wirbelsäulensyndrome) einher, ist ein GdB von 10 gerechtfertigt. Ein GdB von 20 ist bei mittelgradigen funktionellen Auswirkungen in einem Wirbelsäulenabschnitt (Verformung, häufig rezidivierende oder anhaltende Bewegungseinschränkung oder Instabilität mittleren Grades, häufig rezidivierende und über Tage andauernde Wirbelsäulensyndrome) vorgesehen. Liegen schwere funktionelle Auswirkungen in einem Wirbelsäulenabschnitt vor (Verformung, häufig rezidivierende oder anhaltende Bewegungseinschränkung oder Instabilität schweren Grades, häufig rezidivierende und Wochen andauernde ausgeprägte Wirbelsäulensyndrome) ist ein Teil-GdB von 30 angemessen. Ein GdB-Rahmen von 30 bis 40 ist bei mittelgradigen bis schweren funktionellen Auswirkungen in zwei Wirbelsäulenabschnitten vorgesehen. Besonders schwere Auswirkungen (etwa Versteifung großer Teile der Wirbelsäule; anhaltende Ruhigstellung durch Rumpforthese, die drei Wirbelsäulenabschnitte umfasst [z. B. Milwaukee-Korsett]; schwere Skoliose [ab ca. 70° nach Cobb]) eröffnen einen GdB-Rahmen von 50 bis 70. Schließlich ist bei schwerster Belastungsinsuffizienz bis zur Geh- und Stehunfähigkeit ein GdB-Rahmen zwischen 80 und 100 vorgesehen. Anhaltende Funktionsstörungen infolge Wurzelkompression mit motorischen Ausfallerscheinungen - oder auch die intermittierenden Störungen bei der Spinalkanalstenose - sowie Auswirkungen auf die inneren Organe (etwa Atemfunktionsstörungen) sind zusätzlich zu berücksichtigen. Bei außergewöhnlichen Schmerzsyndromen kann auch ohne nachweisbare neurologische Ausfallerscheinungen (z. B. Postdiskotomiesyndrom) ein GdB über 30 in Betracht kommen.
Nach diesen Maßstäben sind wenigstens mittelgradige Funktionseinschränkungen in einem Wirbelsäulenabschnitt nicht objektiviert, sondern lediglich geringe, wie H versorgungsärztlich letztlich dargelegt hat. Soweit K1 in seiner sachverständigen Zeugenauskunft auf ein chronisches Schmerzsyndrom hinweist, ist dies bei der Bewertung im Funktionssystem „Gehirn einschließlich Psyche“ bereits berücksichtigt worden. Dabei kann nicht außer Acht gelassen werden, dass die Klinik J 2018 bei seinerzeit bereits beklagten erheblichen Schmerzen im Bereich des Rückens einen Finger-Boden-Abstand von 0 cm sowie eine freie Beweglichkeit der HWS und der Rumpfrotation schon im Aufnahmebefund beschrieben hat, mithin keine Bewegungseinschränkung objektivieren konnte. Eine solche beschreibt K1 in seiner sachverständigen Zeugenauskunft ebenfalls nicht hinreichend. Soweit er die HWS-Rotation als auf 55-0-50° limitiert angibt, folgen hieraus noch keine mittelgradigen Funktionseinschränkungen. Neurologische Ausfallerscheinungen hat der Orthopäde nämlich gerade verneint, auch wenn die radiologische Aufnahmen Einengungen der Neuroforamia an der HWS gezeigt haben. An der LWS ist radiologisch hingegen eine hinreichende Weite der Spinalkanäle beschrieben worden, Bandscheibenvorfälle wurden jeweils ausgeschlossen. Die vom Kläger angegebene Schmerzsymptomatik allein begründet einen Teil-GdB, entgegen der Auffassung des K1, nicht.
Ebenso lassen sich dessen Ausführungen keine Anhaltspunkte für einen Teil-GdB im Funktionssystem „Arme“ entnehmen. Eine nach den VG, Teil B, Nr. 18.13 mit einem Teil-GdB von wenigstens 10 zu bewertende nur bis 120° mögliche Armhebung mit entsprechender Einschränkung der Dreh- und Spreizfähigkeit der Schulter ist von ihm in keiner Weise beschrieben worden, vielmehr ist eine solche bis 150° dokumentiert. Aus Schmerzangaben allein lässt sich auch hier kein Teil-GdB begründen.
Aus den Teil-GdB von 50 im Funktionssystem „Haut“ und 20 im Funktionssystem „Gehirn einschließlich Psyche“ ist ein Gesamt-GdB von 60 zu bilden, nachdem die Einschränkungen im Funktionssystem „Haut“ die Einschränkungen im Funktionssystem „Gehirn einschließlich Psyche“ eher verstärken, wie L dargelegt haben, jedenfalls aber, entgegen der Darlegungen des H, keine Überschneidungen gegeben sind. Es handelt sich auch nicht lediglich um leichtere Störungen, die eine Erhöhung des Gesamt-GdB nicht rechtfertigen (vgl. VG, Teil A, Nr. 3 d ee).
Auf die Berufung des Klägers war daher das Urteil des Sozialgerichts Karlsruhe abzuändern und der Beklagte zur Feststellung eines Gdb von 60 seit dem 4. April 2019 zu verpflichten. Einer Zurückweisung der Berufung im Übrigen bedurfte es nicht, da der Kläger im Berufungsverfahren nur noch einen GdB von 60 beantragt und mit diesem Begehren obsiegt hat.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.
Gründe, die Revision zuzulassen, sind nicht gegeben, da die Voraussetzungen des § 160 Abs. 2 SGG nicht vorliegen.