Ein GdB von 50 wegen eines Diabetes mellitus erfordert nicht nur mindestens vier Insulininjektionen pro Tag und ein selbstständiges Anpassen der Insulindosis. Zusätzlich müssen gravierende Beeinträchtigungen in der Lebensführung vorliegen.

Solche gravierenden Beeinträchtigungen sind nicht schon deshalb zu bejahen, weil die krankheitsbedingten Einschränkungen und die Insulintherapie für einen im Schichtdienst auf auswärtigen Baustellen tätigen Straßen- und Tiefbaufacharbeiter mit größeren Schwierigkeiten verbunden sind als für einen Diabetiker, der einer Bürotätigkeit nachgeht. Ebenso wenig führt es zu einer Erhöhung des GdB, dass der Betroffene die stabile Einstellung des Diabetes mellitus neben der exakten Medikation durch ein verantwortungsbewusstes Ernährungsverhalten und eine gesundheitsorientierte Lebensweise erreicht.


Landessozialgericht Sachsen-Anhalt 7. Senat
30.01.2019
L 7 SB 41/17
Juris



Tatbestand

Der Kläger begehrt die Feststellung eines höheren Grades der Behinderung (GdB).

Der 1962 geborene Kläger arbeitet als Straßen- und Tiefbaufacharbeiter. Er beantragte am 6. August 2014 beim Beklagten die (erstmalige) Feststellung von Behinderungen. Als festzustellende Gesundheitsstörung gab er einen Diabetes mellitus Typ I an. Im Nachgang dazu reichte er das Protokoll seiner Blutzuckermessungen aus der Zeit vom 11. Mai bis zum 18. August 2014 ein.

Der Beklagte holte einen Befundschein des behandelnden Facharztes für Allgemeinmedizin/Diabetologie Dr. B. ein. Dieser teilte mit, der Kläger leide unter einem Diabetes mellitus Typ I und müsse vier bis zehn Blutzucker-Messungen pro Tag durchführen. Regulär seien fünf Insulininjektionen pro Tag erforderlich, außerdem ggf. ein Korrektur-Bolus bzw. eine Anpassung. Dem Befundschein beigefügt war u.a. die Kopie einer Befundmitteilung vom 29. April 2014. Dort waren als Diagnosen neben einem Diabetes mellitus Typ I ohne Komplikationen u.a. eine arterielle Hypertonie (Bluthochdruck), ein Glaukom (Grüner Star) beidseitig und ein Kniebinnenschaden beidseitig angegeben. Zur Anamnese führte Dr. B. aus: "Kommt zurecht. Hatte auch mal Hypos-Symptome. Einmal hatte er auch 2,9 mmol/l gemessen. Immer Selbsthilfe möglich. Keine Beschwerden. Gewicht 2 kg zugenommen." Zum Befund teilte er u.a. mit, dass die Blutzucker-Stoffwechsellage "derzeit akzeptabel" sei, "aber noch verbessert werden könnte". Die Blutzuckerwerte seien – in Abhängigkeit vom Tagesablauf und der Nahrungsaufnahme – sehr schwankend.

Nach Einholung einer versorgungsmedizinischen Stellungnahme stellte der Beklagte mit Bescheid vom 24. September 2014 beim Kläger für die Zeit ab 6. August 2014 einen GdB von 40 wegen des Diabetes mellitus fest.

Seinen dagegen gerichteten Widerspruch begründete der Kläger damit, dass er mindestens fünf Insulininjektionen pro Tag vornehmen müsse, wobei er die Dosis in Abhängigkeit vom aktuellen Blutzucker, der folgenden Mahlzeit und der körperlichen Belastung selbständig variiere. Die Ergebnisse der Blutzuckermessungen und die Insulindosen würden stets dokumentiert.

Mit Widerspruchsbescheid vom 5. Dezember 2014 wies der Beklagten den Widerspruch als unbegründet zurück. Der vom Kläger begehrte GdB von 50 setze neben einer Insulintherapie mit täglich mindestens vier Insulininjektionen, wobei die Insulindosis in Abhängigkeit vom aktuellen Blutzucker, der folgenden Mahlzeit und der körperlichen Belastung variiert werden müsse, auch erhebliche Einschnitte in der Lebensführung voraus. Solche seien nicht belegt und bei der vorliegenden Stoffwechsellage auch nicht zu erwarten. Der vom Kläger beschriebene Therapieaufwand sei krankheitsimmanent und in der GdB-Bewertung bereits regelhaft mit berücksichtigt.

Dagegen hat der Kläger am 5. Januar 2015 Klage zum Sozialgericht (SG) H. erhobenen. Er hat die Feststellung eines GdB von wenigstens 50 begehrt und insbesondere geltend gemacht, dass er aufgrund seiner beruflichen Tätigkeit als Straßen- und Tiefbaufacharbeiter durch den Diabetes besonders in seiner Lebensführung beeinträchtigt sei. Er müsse durchschnittlich mindestens fünfmal pro Tag Insulin spritzen und stets sein Blutzuckermessgerät und Insulin mit sich führen. Das Insulin solle bei einer Temperatur von 2 bis 8 Grad Celsius aufbewahrt werden. Dies erweise sich für ihn als besonders schwierig, weil er vorwiegend auf auswärtigen Baustellen eingesetzt sei. Bei der Gestaltung seiner Arbeitspausen sei er gegenüber seinen Kollegen benachteiligt. Diese verpflegten sich am Imbissstand, während er seine Pausen aufgrund mangelnder Waschgelegenheit und fehlender Mess- und Spritzmöglichkeiten im Baucontainer verbringe und dort kleinere Mahlzeiten zu sich nehme. In der Freizeit müsse er auf Reisen sicherstellen, dass im Hotel oder in der Pension ein Kühlschrank vorhanden sei, in dem er das Insulin aufbewahren und auf den er jederzeit zugreifen könne. Als weitere Beeinträchtigungen seien ein Glaukom und ein beidseitiger Kniebinnenschaden zu berücksichtigen.

Der Kläger hat ein Attest von Dr. B. vom 5. August 2015 vorgelegt. Dieser führte aus, der Kläger müsse mindestens fünfmal täglich Insulin spritzen; an manchen Tagen seien auch bis zu sieben Injektionen nötig. Aufgrund schwankender Werte mit rezidivierenden Hypoglykämien (Unterzuckerungen) bei zusätzlich vorliegender Hypoglykämie-Wahrnehmungsstörung seien bis zu zehn Blutzuckermessungen am Tag nötig; im Durchschnitt seien es sechs bis sieben Messungen pro Tag. Als Diagnose hat Dr. B. neben den bereits in der Befundmitteilung vom 29. April 2014 genannten u.a. Diabetische Polyneuropathie angegeben.

Auf die gerichtliche Anforderung eines Befundberichts hat Dr. B. zudem Kopien von Befundmitteilungen vom 25. August 2014, 19. Dezember 2014, 4. März 2015, 10. Juli 2015 und 24. Oktober 2015 übersandt. Der HbA1c-Wert des Klägers lag danach am 18. August 2014 bei 7,7 %, am 9. Dezember 2014 bei 7,9 %, am 16. Februar 2015 bei 6,8 %, am 9. Juni 2015 bei 7,5 % und am 15. Oktober 2015 bei 7,4 %. Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf den Inhalt der Befundmitteilungen verwiesen.

Weiter hat das SG Befundberichte der Fachärztin für Augenheilkunde Dr. R. (vom 27. Mai 2016) sowie des Orthopäden M. (vom 29. Mai 2016) eingeholt. Dr. R. hat als Diagnosen insbesondere Presbyopie (Alterssichtigkeit), Astigmatismus (Hornhautverkrümmung) und Hyperopie (Weitsichtigkeit) mitgeteilt; den Visus mit Korrektur hat sie beidseitig mit 1,0 angegeben; die Befunde seien stabil.

Der Orthopäde M. hat u.a. folgende Diagnosen angegeben: Epicondylitis humeri radialis ("Tennisellenbogen") links, Frozen shoulder (schmerzhafte Schultersteife) links, Impingementsyndrom (Funktionsbeeinträchtigung der Gelenkbeweglichkeit) der Schulter beidseitig und primäre Gnoarthrose (Arthrose des Kniegelenks) beidseitig. Der Bandapparat der Kniegelenke sei bei der Untersuchung am 26. Januar 2010 stabil gewesen; es habe kein Schubladenphänomen vorgelegen; die Bewegungsmaße nach der Neutral-Null-Methode hätten 0/0/130° betragen. Der linke Ellenbogen sei bei der Untersuchung am 27. August 2015 frei beweglich gewesen. Zu den Schultern hat der Orthopäde folgende Bewegungsmaße angegeben: linke Schulter (Anteversion/Retroversion) 120/0/40° (2. Mai 2013) bzw. 130/0/40° (7. April 2016); rechte Schulter: 140/0/40° (7. April 2016). Beigefügt waren radiologische Befunde (u.a. Röntgen beider Schultergelenke). Auch insoweit wird wegen der weiteren Einzelheiten auf den Befundbericht samt Anlagen verwiesen.

Für den versorgungsärztlichen Dienst des Beklagten hat sich die ärztliche Gutachterin Dr. W. unter dem 2. Dezember 2015 und dem 5. August 2016 zu den Befundunterlagen geäußert: Diese dokumentierten einen unauffälligen Verlauf des Diabetes mellitus mit den typischen, krankheitsimmanenten Schwankungen. Nach den Blutzuckertagebüchern aus der Zeit vom 11. Mai bis 17. August 2014 hätten die Werte mit den üblichen Schwankungen überwiegend im normnahen Bereich gelegen. Zu keiner Zeit seien bedrohliche Über- oder Unterzuckerungen aufgetreten. Gravierende Einschnitte in den Tagesablauf ließen sich daraus nicht ableiten. Der Verlauf korreliere mit den Befundberichten des Dr. B ... Es sei nicht zu erkennen, dass trotz eines hohen Therapieaufwands keine zufriedenstellende Stoffwechselsituation erreichbar wäre. Die vom Orthopäden M. berichteten wechselnden Gelenkbeschwerden rechtfertigten keinen GdB. Bei voller Sehschärfe sei auch keine Sehbehinderung festzustellen.

Mit Urteil vom 16. Januar 2017 hat das SG die Klage abgewiesen. Zur Begründung hat es ausgeführt, dass die Feststellung eines GdB von 50 wegen des Diabetes mellitus u.a. voraussetze, dass der Betroffene durch die Auswirkungen des Diabetes mellitus erheblich in der Lebensführung beeinträchtigt sei. Dies lasse sich beim Kläger nicht feststellen. Er gehe einer geregelten Arbeit im Straßen- und Tiefbau mit zeitweiser Schicht- und Montagetätigkeit nach. Es träten allenfalls leichte Unterzuckerungen auf, die der Kläger in Selbsthilfe behebe, ohne dass eine Fremdintervention durch Arbeitskollegen oder einen Arzt erforderlich werde. Soweit der Kläger von gewissen Einschränkungen im Rahmen seiner täglichen Arbeit und von Urlaubsreisen berichte, seien diese hinzunehmen. Arbeitsunfähigkeitszeiten aufgrund der Stoffwechselerkrankung seien nicht vorgetragen worden. Der Kläger habe sich mit seiner Krankheit arrangiert und gelernt, mit ihr zu leben. Dass er meine, er sei aufgrund seiner Baustellentätigkeit stärker in seinem Behandlungsregime gefangen als jemand, der einer Bürotätigkeit nachgehe, sei unbeachtlich. Im Funktionsbereich "Haltungs- und Bewegungsorgane, rheumatische Krankheiten" seien keine Beeinträchtigungen mit GdB-Relevanz zu erkennen. Insoweit reiche der Befundbericht des behandelnden Orthopäden M. als Grundlage der Entscheidungsfindung aus; die Einholung eines orthopädischen Gutachtens sei nicht erforderlich gewesen.

Gegen das ihm am 8. März 2017 zugestellte Urteil hat der Kläger am 5. April 2017 Berufung zum Landessozialgericht (LSG) eingelegt. Er macht geltend, dass er entgegen der Ansicht des SG in der Teilhabe an einem Leben in der Gemeinschaft eingeschränkt sei. Allein die Tatsache, dass er gelernt habe, mit seiner Krankheit zu leben, rechtfertige nicht, ihn schlechter zu stellen als Menschen, die sich weniger um ihre Gesundheit kümmerten. Außerdem müsse in größerem Maße berücksichtigt werden, dass er auf Baustellen tätig und deshalb stärker beeinträchtigt sei als jemand, der einer Bürotätigkeit nachgehe.

Der Kläger beantragt,

unter Abänderung des Urteils des SG H. mit dem gerichtlichen Aktenzeichen: S 19 SB 8/15 vom 16. Januar 2017 den Bescheid des Beklagten vom 24. September 2014 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 5. Dezember 2014 abzuändern und den Beklagten zu verpflichten, bei ihm einen GdB um 50 ab 6. August 2014 festzustellen.

Der Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Er vertritt die Auffassung, dass nach der Befundlage beim Kläger nicht ersichtlich sei, dass die Stoffwechselführung einer besonders hohen Aufmerksamkeit und eines erheblichen Aufwands im täglichen Ablauf bedürfte und daraus resultierend ausgeprägte Beeinträchtigungen bei der Teilhabe und in der Lebensführung bestünden. Die beruflichen Belastungen des Klägers könnten nach dem Schwerbehindertenrecht nicht berücksichtigt werden. Auch die Einhaltung der Regeln einer gesunden Lebensweise stelle keine Behinderung dar.

Der Senat hat am 23. Januar 2018 einen Erörterungstermin durchgeführt, in dem der Kläger persönlich angehört worden ist. Er hat ausgeführt, seine Situation sei im Wesentlichen unverändert. Er sei weiterhin auf Baustellen tätig. Dabei sei nicht immer im Voraus abzuschätzen, ob er körperlich leichte oder schwere Tätigkeiten ausüben müsse; dadurch komme es zu Hypoglykämien. Die HbA1c-Werte seien so wie in den vergangenen Jahren, zuletzt auch mal bei 7,8 oder 7,9 %. Beim Essen habe er weiterhin Einschränkungen. Er könne nicht spontan mal ein Stück Torte oder Eis essen. Auch könne er z.B. nicht auf den Weihnachtsmarkt gehen und einen Glühwein trinken; dort gebe es keine Möglichkeit, vorher Insulin zu spritzen. Das gleiche Problem habe er auf Urlaubsreisen. Er müsse dann immer darauf achten, dass er für das Insulin einen Kühlschrank im Zimmer habe. Wenn er Zwischenmahlzeiten einnehmen wolle, müsse er entsprechend spritzen. Arbeitsunfähig sei er wegen des Diabetes nur für die Dauer von sechs Wochen während der Einstellungsphase gewesen. Es habe auch keine Krankenhausaufenthalte wegen Hypoglykämien gegeben. Wenn er während der Arbeitszeit Hypoglykämien habe, esse er Traubenzucker oder trinke zuckerhaltige Getränke und nehme sich eine Auszeit von ca. 20 Minuten, bevor er weiterarbeite. Sein Arbeitgeber toleriere dies noch. Er dürfe weiterhin einen Pkw fahren und tue dies auch; allerdings müsse er vor Fahrtantritt den Blutzucker messen und habe zu diesem Zweck auch schon Fahrten unterbrochen.

Im Erörterungstermin haben die Beteiligten übereinstimmend ihr Einverständnis mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung erklärt.

Der Senat hat die Prozessakte des SG und die Verwaltungsakte des Beklagten beigezogen.


Entscheidungsgründe

1. Der Senat kann gemäß § 153 Abs. 1 in Verbindung mit § 124 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) ohne mündliche Verhandlung durch Urteil entscheiden, weil die Beteiligten sich damit einverstanden erklärt haben.

2. Die Berufung ist zurückzuweisen. Sie ist zwar statthaft (§ 143 SGG) und auch im Übrigen zulässig; insbesondere ist sie form- und fristgerecht erhoben worden (§ 151 SGG). Sie ist jedoch nicht begründet. Das SG hat die kombinierte Anfechtungs- und Verpflichtungsklage (§ 54 Abs. 1, § 56 SGG) zu Recht als unbegründet abgewiesen.

Der Kläger hat keinen Anspruch auf Feststellung eines höheren GdB als 40. Maßgeblich für die bei der Beurteilung der Sach- und Rechtslage ist insoweit der Zeitpunkt der Entscheidung durch den Senat.

Rechtsgrundlage für den vom Kläger erhobenen Anspruch auf Feststellung eines GdB ist seit 1. Januar 2018 § 152 Abs. 1 und 3 des Neunten Buchs des Sozialgesetzbuchs – Rehabilitation und Teilhabe (SGB IX), zuvor § 69 Abs. 1 und 3 SGB IX in der jeweils geltenden Fassung. Nach § 152 Abs. 1 Satz 1 SGB IX (zuvor § 69 Abs. 1 Satz 1 SGB IX a.F.) stellen die für die Durchführung des Bundesversorgungsgesetzes (BVG) zuständigen Behörden auf Antrag des behinderten Menschen das Vorliegen einer Behinderung und den GdB fest.

Diese Regelung knüpft materiell-rechtlich an den in § 2 Abs. 1 Satz 1 SGB IX bestimmten Begriff der Behinderung an. Nach der seit dem 1. Januar 2018 anzuwendenden Fassung des § 2 Abs. 1 Satz 1 und 2 SGB IX sind Menschen mit Behinderungen solche, die körperliche, seelische, geistige oder Sinnesbeeinträchtigungen haben, die sie in Wechselwirkung mit einstellungs- und umweltbedingten Barrieren an der gleichberechtigten Teilhabe an der Gesellschaft mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate hindern können. Eine Beeinträchtigung liegt vor, wenn der Körper- und Gesundheitszustand von dem für das Lebensalter typischen Zustand abweicht. Nach der bis 31. Dezember 2017 gültigen Fassung dieser Vorschrift sind Menschen behindert, wenn ihre körperliche Funktion, geistige Fähigkeit oder seelische Gesundheit mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate von dem für das Lebensalter typischen Zustand abweichen und daher ihre Teilhabe am Leben in der Gesellschaft beeinträchtigt ist.

Nach § 152 Abs. 1 Satz 5 SGB IX (zuvor § 69 Abs. 1 Satz 4 bzw. Satz 5 SGB IX a.F.) sind die Auswirkungen auf die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft als GdB nach Zehnergraden abgestuft festzustellen. Wenn mehrere Beeinträchtigungen der Teilhabe am Leben in der Gesellschaft vorliegen, wird nach § 152 Abs. 3 Satz 1 SGB IX (zuvor § 69 Abs. 3 Satz 1 SGB IX a.F.) der GdB nach den Auswirkungen der Beeinträchtigungen in ihrer Gesamtheit unter Berücksichtigung ihrer wechselseitigen Beziehungen festgestellt.

Die für diese Feststellung maßgeblichen Grundsätze ergeben sich aus der Versorgungsmedizin-Verordnung (VersMedV). Deren Anlage "Versorgungsmedizinische Grundsätze" (VMG) ist nach § 2 VersMedV Bestandteil der Verordnung und deshalb der Beurteilung der erheblichen medizinischen Sachverhalte mit der rechtlichen Verbindlichkeit einer Rechtsverordnung zugrunde zu legen.

Bei der hier streitigen Bemessung des GdB ist die Tabelle zum Grad der Schädigungsfolgen (GdS) der VMG (Teil B) anzuwenden. Nach den allgemeinen Hinweisen zu der Tabelle (Teil B Nr. 1 a) sind die dort genannten GdS-Sätze Anhaltswerte. In jedem Einzelfall sind alle die Teilhabe beeinträchtigenden Störungen auf körperlichem, geistigem und seelischem Gebiet zu berücksichtigen und in der Regel innerhalb der in Teil A Nr. 2 e VMG genannten Funktionssysteme (Gehirn einschließlich Psyche; Augen; Ohren; Atmung; Herz-Kreislauf; Verdauung; Harnorgane; Geschlechtsapparat; Haut; Blut einschließlich blutbildendes Gewebe und Immunsystem; innere Sekretion und Stoffwechsel; Arme; Beine; Rumpf) zusammenfassend zu beurteilen. Die Beurteilungsspannen tragen den Besonderheiten des Einzelfalles Rechnung (Teil B Nr. 1 a VMG).

Nach diesem Maßstab ist beim Kläger für die Zeit seit Antragstellung ein GdB von 40 festzustellen. Dabei stützt sich der Senat auf die vom Kläger vorgelegten Unterlagen einschließlich des Blutzuckerprotokolls, die vom Beklagten und vom SG eingeholten Befundberichte nebst Anlagen, die versorgungsärztlichen Stellungnahmen und die Angaben des Klägers.

a. Das zentrale Leiden des Klägers betrifft das Funktionssystem "Innere Sekretion und Stoffwechsel" und wird durch den insulinpflichtigen Diabetes mellitus Typ I geprägt. Insoweit ist ein Einzel-GdB von 40 festzustellen. Nach Teil B Nr. 15.1 VMG in der Fassung der Zweiten Verordnung zur Änderung der VersMedV vom 14. Juli 2010 (BGBl. I S. 928) gilt seit dem 22. Juli 2010:

"Die an Diabetes erkrankten Menschen, deren Therapie eine Hypoglykämie auslösen kann, die mindestens einmal täglich eine dokumentierte Überprüfung des Blutzuckers selbst durchführen müssen und durch weitere Einschnitte in der Lebensführung beeinträchtigt sind, erleiden je nach Ausmaß des Therapieaufwands und der Güte der Stoffwechseleinstellung eine stärkere Teilhabebeeinträchtigung. Der GdS beträgt 30 bis 40.

Die an Diabetes erkrankten Menschen, die eine Insulintherapie mit täglich mindestens vier Insulininjektionen durchführen, wobei die Insulindosis in Abhängigkeit vom aktuellen Blutzucker, der folgenden Mahlzeit und der körperlichen Belastung selbständig variiert werden muss, und durch erhebliche Einschnitte gravierend in der Lebensführung beeinträchtigt sind, erleiden auf Grund dieses Therapieaufwands eine ausgeprägte Teilhabebeeinträchtigung. Die Blutzuckerselbstmessungen und Insulindosen (beziehungsweise Insulingaben über die Insulinpumpe) müssen dokumentiert sein. Der GdS beträgt 50.

Außergewöhnlich schwer regulierbare Stoffwechsellagen können jeweils höhere GdS-Werte bedingen."

Das Bundessozialgericht (BSG) hat mit Urteil vom 2. Dezember 2010 (B 9 SB 3/09 R, juris) diese Neufassung der VMG für rechtmäßig erklärt (vgl. BSG, a.a.O., Rn. 26). Sie verstoßen danach insbesondere nicht gegen die gesetzliche Vorgabe, wonach für die Feststellung des GdB die Auswirkungen auf die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft maßgeblich sind. Insoweit entspricht Teil B Nr. 15.1 VMG nach dieser Entscheidung den bereits vor Inkrafttreten der Änderungsverordnung vom BSG entwickelten Vorgaben. Dazu hat das BSG unter Hinweis auf sein Urteil vom 24. April 2008 (B 9/9a SB 10/06, juris) für die Bewertung des Einzel-GdB eines insulineingestellten Diabetes mellitus neben der Einstellungsqualität insbesondere den jeweiligen Therapieaufwand hervorgehoben, soweit sich dieser auf die Teilhabe des behinderten Menschen am Leben in der Gesellschaft nachteilig auswirkt. Hierbei ist der GdB eher niedrig anzusetzen, wenn bei geringem Therapieaufwand eine ausgeglichene Stoffwechsellage erreicht werden kann. Bei einem beeinträchtigenden, wachsenden Therapieaufwand und/oder abnehmendem Therapieerfolg (instabilere Stoffwechsellage) wird der GdB entsprechend höher zu bewerten sein. Dabei sind – im Vergleich zu anderen Behinderungen – die Auswirkungen auf die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft zu prüfen (vgl. BSG, Urteil vom 2. Dezember 2010, a.a.O., Rn. 33). Bei therapiebedingten Einschränkungen in der Lebensführung können z.B. die Planung des Tagesablaufs, die Gestaltung der Freizeit, die Zubereitung der Mahlzeiten, die Berufsausübung und die Mobilität beachtet werden (vgl. Begründung zur Verordnungsänderung, BR-Drucksache 285/10 S. 3 zu Nr. 2).

Durch die Neufassung der VMG zum Diabetes mellitus erfordert die Feststellung eines GdB von 50 nicht nur mindestens vier Insulininjektionen pro Tag und ein selbständiges Anpassen der Insulindosis. Zusätzlich muss es – sei es bedingt durch den konkreten Therapieaufwand, die jeweilige Stoffwechselqualität oder wegen sonstiger Auswirkungen der Erkrankung (z.B. Folgeerkrankungen) – zu einer krankheitsbedingten erheblichen Beeinträchtigung in der Lebensführung kommen (vgl. BSG, Urteil vom 25. Oktober 2012, B 9 SB 2/12 R, juris). Die Formulierung in Teil B Nr. 15.1 VMG "und durch erhebliche Einschnitte gravierend in der Lebensführung beeinträchtigt sind" ist daher nicht nur therapiebezogen gemeint, sondern dahingehend zu verstehen, dass neben dem eigentlichen Therapieaufwand durch die notwendigen Insulininjektionen und die selbständige Dosisanpassung eine zusätzliche Wertung notwendig ist, um die Schwerbehinderung zu rechtfertigen. Der am insulinpflichtigen Diabetes mellitus Erkrankte muss daher wegen des reinen Therapieaufwandes und/oder der durch die Erkrankung eingetretenen weiteren Begleitfolgen generell gravierende Einschritte in der Lebensführung erleiden. Dass zusätzlich ein gravierender Einschnitt in die Lebensführung festgestellt werden muss, ergibt sich aus den vorhergehenden Formulierungen der VMG für einen GdB von 30 bis 40. Hiernach sind für die Bewertung der Teilhabeeinschränkung der konkrete Therapieaufwand und die jeweilige Stoffwechselqualität von wertungserheblicher Bedeutung. Diese beiden Kriterien müssen entsprechend auch bei der höheren Bewertungsstufe eines GdB von 50 noch bedeutsam sein. Für die besondere Bedeutung der Stoffwechsellage spricht auch, dass nach den VMG außergewöhnlich schwer regulierbare Stoffwechsellagen allein bereits eine Erhöhung des GdB rechtfertigen können.

Ein GdB von 50 setzt damit mindestens vier Insulininjektionen pro Tag, ein selbständiges Anpassen der Insulindosis und durch erhebliche Einschnitte gravierende Beeinträchtigungen in der Lebensführung voraus. Diese Anforderungen für einen GdB von 50 erreicht der Kläger unter Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalls während des gesamten streitbefangenen Zeitraums nicht. Dabei hat der Senat unter Berücksichtigung der Rechtsprechung des BSG (Urteil vom 16. Dezember 2014, B 9 SB 2/13 R, juris) eine Gesamtbetrachtung aller Lebensbereiche angestellt. Der Senat folgt insoweit der Einschätzung der Versorgungsärzte des Beklagten, die in medizinischer Hinsicht in Einklang mit den Angaben des behandelnden Diabetologen des Klägers stehen.

Zwar führt der Kläger nach seinen von Dr. B. bestätigten Angaben pro Tag vier bis zehn Blutzuckermessungen und mindestens fünf Insulininjektionen bei selbständiger Dosisanpassung durch. Damit erreicht er die für einen GdB von 50 notwendige Therapieintensität. Allerdings fehlt es nach Würdigung sämtlicher Teilbereiche der Lebensführung, auf die sich krankheits- und therapiebedingte Einschränkungen auswirken können, an erheblichen Einschnitten, die den Kläger so gravierend beeinträchtigen, dass die Feststellung der Schwerbehinderteneigenschaft gerechtfertigt wäre.

In der Planung des Tagesablaufs, der Zubereitung der Mahlzeiten, der Gestaltung der Freizeit und in der Mobilität ist der Kläger zwar durch seine Stoffwechselerkrankung und deren Therapie beeinträchtigt, jedoch nicht gravierend im Sinne von Teil B Nr. 15.1 VMG. Der Umstand, dass die Insulindosis auf die Mahlzeiten und die körperliche Belastung abgestimmt werden muss, ist typischer Teil der Therapie und nicht als zusätzlicher Einschnitt zu berücksichtigen. Zwischenmahlzeiten sind nicht ausgeschlossen, sondern unter Beachtung eines Mehraufwandes möglich. Die insoweit vom Kläger beschriebenen Einschränkungen ("nicht mal spontan ein Stück Torte essen") sind eine typische Konsequenz seiner Erkrankung und unterscheiden ihn nicht von anderen an Diabetes mellitus Erkrankten. Der Kläger ist auch mobil. Er kann und darf unter Einhaltung von Vorsichtsmaßnahmen einen Pkw führen. Urlaubsreisen sind ebenfalls möglich. Dass er bei der Reisplanung nach eigenen Angaben darauf achten muss, dass es eine Möglichkeit gibt, sein Insulin zu kühlen, bedeutet zwar einen planerischen Mehraufwand und eine Einschränkung, stellt aber keine nachhaltige Beeinträchtigung der Teilhabe am Leben in der Gesellschaft dar.

Auch die Einschränkungen des Klägers im Bereich der Berufsausübung sind nach ihrer Art und ihrem Umfang nicht derart ausgeprägt, dass hieraus bei der gebotenen Gesamtbetrachtung eine gravierende Beeinträchtigung im Sinne der VMG resultieren würde. Der Kläger kann weiterhin seiner Tätigkeit als Straßen- und Tiefbaufacharbeiter nachgehen. Eine krankheitsbedingte Aufgabe der Tätigkeit oder eine Veränderung des Arbeitsbereichs war nicht notwendig. Abgesehen von der Einstellungsphase gab es auch keine durch die Diabetes-Erkrankung bedingten Arbeitsunfähigkeitszeiten. Dem Kläger gelingt es vielmehr, trotz der erheblichen Belastungen, die sich insbesondere aus den nicht immer genau vorhersehbaren körperlichen Anstrengungen und dem Einsatz auf auswärtigen Baustellen ergeben, seinen beruflichen Anforderungen gerecht zu werden. Dass dies für ihn schwieriger und aufwendiger ist als für andere Diabetiker, die z.B. einer Bürotätigkeit an einem festen Arbeitsort nachgehen, ändert nichts an dieser Feststellung. So ist der Kläger etwa in der Lage, bei Schichtarbeit die Insulingabe entsprechend anzupassen. Dr. B. hat dazu in seiner Befundmitteilung vom 24. Oktober 2015 ausgeführt: "Wenn er zur Spätschicht geht, dann spritzt er nun immer ab mittags weniger Einheiten. Das soll er weiter so machen – passt gut." Auch verursacht die sachgerechte Lagerung des Insulins während eines auswärtigen Einsatzes zwar einen planerischen und organisatorischen Aufwand, stellt aber keine gravierende Beeinträchtigung dar. Dies gilt auch für die Einschränkung bei der Pausengestaltung. Wenn es beim Kläger während der Arbeitszeit einmal zu einer Hypoglykämie kommt, hat er die – von seinem Arbeitgeber tolerierte – Möglichkeit, eine Pause zu machen und Traubenzucker oder zuckerhaltige Getränke zu sich zu nehmen.

Der Kläger wird über den einschränkenden Therapieaufwand hinaus nicht zusätzlich durch eine schlechte Einstellungsqualität in seiner Leistungsfähigkeit und damit in seiner Teilhabefähigkeit am Leben erheblich beeinträchtigt. Schwere Hypoglykämien und solche, die Fremdhilfe erfordern, sind nicht aufgetreten. Eine äußert schwer regulierbare Stoffwechsellage ist nicht festzustellen. Der HbA1c-Wert bewegt sich mit den bei Diabetikern üblichen Schwankungen überwiegend im normnahen Bereich. Diese auf den Blutzuckerprotokollen des Klägers beruhende Feststellung der Versorgungsärztin Dr. W. wird durch die Befundmitteilungen des behandelnden Diabetologen Dr. B. gestützt, der HbA1c-Werte um 7,5 % mitgeteilt hat. Dr. B. hat z.B. unter dem 4. März 2015 von einem trotz gelegentlicher leichter Hypoglykämien "gut eingestellten Typ 1-Diabetes" berichtet. Die mit dem Diabetes mellitus üblicherweise einhergehenden Blutzuckerschwankungen und die damit verbundenen Symptome sind Teil der Erkrankung und damit auch bei der Höhe des GdB nach den VMG bereits berücksichtigt. Es kann auch nicht GdB-erhöhend wirken, dass der Kläger die im Wesentlichen stabile Einstellung des Diabetes mellitus neben der exakten Medikation durch ein verantwortungsbewusstes Ernährungsverhalten und eine gesundheitsorientierte Lebensweise erreicht. Eine besondere Teilhabeeinschränkung ist damit nicht verbunden.

Schließlich liegen keine Anhaltspunkte dafür vor, dass mit der in den Befundmitteilungen des Dr. B. erwähnten Polyneuropathie GdB-relevante sensible oder motorische Beeinträchtigungen im Sinne von Teil B Nr. 3.11 VMG einhergehen würden. Andere Folgeerkrankungen des Diabetes mellitus sind nach den Befundunterlagen nicht ersichtlich.

b. In anderen Funktionssystemen liegen keine GdB-relevanten Beeinträchtigungen vor.

Dies gilt zunächst für das Funktionssystem "Arme": Bewegungseinschränkungen des Schultergelenks (einschließlich Schultergürtel) rechtfertigen nach Teil B Nr. 18.13 VMG einen Einzel-GdB von 10, wenn bei entsprechender Einschränkung der Dreh- und Spreizfähigkeit eine Armhebung nur bis zu 120° möglich ist. Nach den Befunden des behandelnden Orthopäden konnte der Kläger den linken Arm aber zuletzt bis 130°, den rechten Arm bis zu 140° heben.

Auch die Kniegelenke (Funktionssystem "Beine") weisen keine nach Teil B Nr. 18.14 VMG GdB-relevanten Funktionsbeeinträchtigungen auf. Im Befundbericht des Orthopäden M. wird der Bandapparat als stabil beschrieben. Bewegungseinschränkungen, die einen GdB rechtfertigen würden, liegen nicht vor.

Für das Funktionssystem "Augen" ist ebenfalls kein Einzel-GdB festzustellen. Für die Beurteilung von Störungen des Sehvermögens ist nach Teil B Nr. 4 VMG in erster Linie die korrigierte Sehschärfe maßgebend. Insoweit ergibt sich aus dem Befundbericht der Augenärztin Dr. R. aber ein uneingeschränkter Visus von 1,0.

Auch für das Funktionssystem Herz-Kreislauf ist kein Einzel-GdB festzustellen. In den Befundmitteilungen des Dr. B. wird zwar eine arterielle Hypertonie als Diagnose angeführt. Insoweit sind allerdings keinerlei Leistungsbeeinträchtigungen oder Organbeteiligungen geltend gemacht oder zu erkennen. Doch selbst wenn man insoweit gemäß Teil B Nr. 9.3 VMG einen Einzel-GdB von 10 ansetzen wollte, würde sich dies im Ergebnis nicht auswirken. Denn bei der Bildung eines Gesamt-GdB nach § 152 Abs. 3 Satz 1 SGB IX führen zusätzliche leichte Gesundheitsstörungen, die nur einen GdB von 10 bedingen, grundsätzlich nicht zu einer Zunahme des Ausmaßes der Gesamtbeeinträchtigung (Teil A Nr. 3 d ee VMG).

3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Abs. 1 SGG.

4. Gründe für eine Zulassung der Revision (§ 160 Abs. 2 SGG) liegen nicht vor.



Versorungsmedizinische Grundsätze
in der Fassung der 5. Verordnung zur Änderung der Versorgungsmedizin-Verordnung