Schwerbehinderung durch einstweiligen Rechtsschutz?

In Verfahren nach dem SGB IX sind Anträge auf einstweiligen Rechtsschutz nicht völlig ausgeschlossen, unterliegen allerdings besonderen gesteigerten Anforderungen an die Glaubhaftmachung eines Anordnungsgrundes. Eine besondere Härte kann nur in ganz eng begrenzten Ausnahmefällen angenommen werden, z.B. dann, wenn die Gefahr besteht, dass das verfassungsrechtlich verbürgte Existenzminimum nicht mehr gesichert werden kann.

Die Möglichkeit, Altersrente für schwerbehinderte Menschen ohne Abschläge zu beziehen, stellt keine einen Ausnahmefall begründende besondere Härte im vorstehenden Sinne dar.


Bayerisches Landessozialgericht 2. Senat
13.10.2022
L 2 SB 129/22 B ER
Juris



Leitsatz

1. In Verfahren nach dem SGB IX sind Anträge auf einstweiligen Rechtsschutz nicht völlig ausgeschlossen, unterliegen allerdings besonderen gesteigerten Anforderungen an die Glaubhaftmachung eines Anordnungsgrundes. Eine besondere Härte kann nur in ganz eng begrenzten Ausnahmefällen angenommen werden, z.B. dann, wenn die Gefahr besteht, dass das verfassungsrechtlich verbürgte Existenzminimum nicht mehr gesichert werden kann.

2. Die Möglichkeit, Altersrente für schwerbehinderte Menschen ohne Abschläge zu beziehen, stellt keine einen Ausnahmefall begründende besondere Härte im vorstehenden Sinne dar.


Gründe

Die Antragstellerin und jetzige Beschwerdeführerin (im Folgenden: Bf.) begehrt die Verpflichtung des Antragsgegners und Beschwerdegegners (im Folgenden: Bg.) zur Feststellung eines Grades der Behinderung (GdB) von 50 (statt bisher 30) nach § 152 Sozialgesetzbuch Neuntes Buch (SGB IX) im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes.

Mit bestandskräftigem Bescheid vom 28.04.2021 stellte der Bg. bei der 1958 geborenen Bf. ab 16.02.2021 einen Gesamt-GdB von 30 fest. Dieser Entscheidung lagen folgende Gesundheitsstörungen zu Grunde:

- Seelische Störung, chronisches Schmerzsyndrom, Missempfindungen im Bereich des linken Unterkiefers (Einzel-GdB: 30),

- Fingerpolyarthrose, Daumensattelgelenksarthose (Einzel-GdB: 10)

Mit am 23.03.2022 beim Bg. eingegangenem Neufeststellungsantrag beantragte die Bf. über ihre Bevollmächtigten (abermals) die Erhöhung des GdB auf wenigstens 60. Gestützt auf eine versorgungsärztliche Stellungnahme vom 31.05.2022 lehnte der Bg. diesen Antrag mit Bescheid vom 14.06.2022 wegen fehlender Änderung in den tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnissen, wie sie dem Bescheid vom 28.04.2021 zugrundgelegen hätten, ab und legte dabei nunmehr folgende Gesundheitsstörungen zu Grunde:

- Seelische Störung, chronisches Schmerzsyndrom, Missempfindungen im Bereich des linken Unterkiefers (Einzel-GdB: 30),

- Fingerpolyarthrose, Daumensattelgelenksarthose (Einzel-GdB: 10),

- Funktionsbehinderung der Wirbelsäule (Einzel-GdB: 10)

Am 22.06.2022 erhob die Bf. dagegen Widerspruch.

Den am 27.07.2022 beim Sozialgericht Landshut (SG) gestellten Antrag auf Anerkennung eines GdB von mindestens 60 im Wege des einstweiligen Rechtschutzes (erfasst unter dem Az. S 1 SB 358/22 ER) hat das SG mit Beschluss vom 18.08.2022 abgelehnt. Eine besondere Härte, die ausnahmsweise eine besondere Eilbedürftigkeit und damit einen Anordnungsgrund begründen könnte, sei in der vorliegenden Konstellation, nämlich der Möglichkeit, Altersrente für schwerbehinderte Menschen ohne Abschläge zu erhalten, nicht erkennbar. Auf die Einzelheiten der Begründung des Beschlusses vom 18.08.2022 wird Bezug genommen.

Gegen den Beschluss des SG, welcher dem Bevollmächtigten am 19.08.2022 zugestellt worden war, hat der Bevollmächtigte der Bf. mit am 25.08.2022 beim SG und am 02.09.2022 beim Bayerischen Landessozialgericht (LSG) eingegangenem Schreiben vom 25.08.2022 Beschwerde erhoben.

Die Beschwerde hat der Bevollmächtigte im Wesentlichen damit begründet, dass mit der Feststellung des SG, dass in Bezug auf die Bf. eine besondere Härte nicht erkennbar sei, kein Einverständnis bestehe. Vorliegend seien die einzelnen Gesundheitsstörungen mit den damit verbundenen Folgen und Beeinträchtigungen zu berücksichtigen. Im Rahmen des einstweiligen Rechtsschutzes werde nur die Anerkennung eines Gesamt-GdB von 50 (Anerkennung der Schwerbehinderteneigenschaft) geltend gemacht. Im Weiteren hat der Bevollmächtigte sein Vorbingen mit den gesundheitlichen Beschwerden der Bf. begründet und auf die bereits vorgelegten Atteste Bezug genommen sowie nochmals ausgeführt, dass die Bf. bei Anerkennung der Schwerbehinderteneigenschaft die Möglichkeit habe, Altersrente für schwerbehinderte Menschen ohne Abzüge zu beziehen. Aus der bereits beim SG vorgelegten Bestätigung der Deutschen Rentenversicherung (DRV) vom 17.06.2022 ergäbe sich, dass die Bf. Altersrente für langjährig Versicherte ab dem 01.10.2022 beantragt habe.

Den gegen den Bescheid vom 14.06.2022 eingelegten Widerspruch wies der Bg. nach Einholung einer weiteren versorgungsärztlichen Stellungnahme vom 05.09.2022 mit Widerspruchsbescheid vom 15.09.2022 zurück. Die zugrunde gelegten Gesundheitsstörungen wurden dabei wie folgt gefasst:

- Seelische Störung, chronisches Schmerzsyndrom, Missempfindungen im Bereich des linken Unterkiefers, Fibromyalgie (Einzel-GdB: 30),

- Funktionsbehinderung der Wirbelsäule (Einzel-GdB: 10),

- Fingerpolyarthrose, Daumensattelgelenksarthose, links operiert (Einzel-GdB: 10)

Hiergegen hat die Bf. durch ihre Bevollmächtigten am 23.09.2022 Klage zum SG erheben lassen, welche unter dem Az. S 3 SB 469/22 geführt wird. Die Bf. verfolgt in diesem Klageverfahren das Ziel, den Bg. zu verpflichten, einen Gesamt-GdB von mindestens 60 festzustellen. Medizinische Ermittlungen sind in diesem Klageverfahren bislang nicht durchgeführt worden.

Der Bevollmächtigte der Bf. beantragt:

1. Der Beschluss des Sozialgerichts des Landshut vom 18.08.2022 wird aufgehoben.

2. Der Antragsgegner wird vorläufig im Rahmen des einstweiligen Rechtsschutzes verpflichtet, bei der Antragstellerin einen GdB von 50 festzustellen.

3. Der Antragsgegner trägt die Kosten des Verfahrens.

Der Bg. beantragt,

die Beschwerde zurückzuweisen.

Er verweist insbesondere darauf, dass die mitübersandten ärztlichen Berichte im Rahmen des Widerspruchsverfahrens berücksichtigt worden seien.

Zur Ergänzung des Sachverhaltes wird im Übrigen auf die Akten des LSG (L 2 SB 129/22 B ER) und des SG (S 1 SB 358/22 ER) sowie auf die Verwaltungsakte des Bg. Bezug genommen. II.

Die Beschwerde gegen den Beschluss des SG vom 18.08.2022 erweist sich als erfolglos. Das SG hat den Erlass einer einstweiligen Anordnung, gerichtet auf die Feststellung eines GdB von 50 im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes, zu Recht abgelehnt.

Die Beschwerde der Bf. ist gemäß § 172 Abs. 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) statthaft und auch im Übrigen zulässig (§ 173 SGG). Die Beschwerde ist insbesondere nicht nach § 172 Abs. 3 Nr. 1 SGG ausgeschlossen. Dies wäre bei einer Beschwerde im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes dann der Fall, wenn in der Hauptsache die Berufung nicht zulässig wäre. Eine auf die Feststellung eines (höheren) GdB gerichtete Berufung ist aber nicht ausgeschlossen (§ 144 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGG).

Die Beschwerde ist jedoch unbegründet. Die Bf. hat weder die besonderen Anforderungen an die Glaubhaftmachung eines Anordnungsgrundes noch eines Anordnungsanspruches erfüllt. Der Senat weist die Beschwerde aus den Gründen des angefochtenen Beschlusses des SG zurück und macht sich diese vollumfänglich zu eigen (§ 142 Abs. 2 Satz 3 SGG). Lediglich ergänzend weist der Senat auf Folgendes hin:

Im Verfahren nach dem SGB IX sind Anträge auf einstweiligen Rechtsschutz nicht völlig ausgeschlossen, unterliegen allerdings besonderen gesteigerten Anforderungen an die Glaubhaftmachung eines Anordnungsgrundes. Denn grundsätzlich ist es Antragstellern/-innen nach dem SGB IX zuzumuten, den Ausgang des Hauptsacheverfahrens abzuwarten (Bayer. LSG, Beschluss vom 03.12.2020 - L 18 SB 151/20 B ER, Rn. 18, juris). Der Erlass einer einstweiligen Anordnung kommt allenfalls dann in Betracht, wenn über die bloße Beschleunigung hinaus eine besondere Härte vorliegt (Bayer. LSG, a.a.O.; Beschlüsse vom 11.05.2021 - L 2 SB 58/21 B ER; vom 21.01.2020 - L 2 SB 153/19 B ER; vom 14.06.2016 - L 15 SB 97/16 B ER, Rn. 12 juris; jeweils m.w.N.; LSG Baden-Württemberg, Beschluss vom 23.11.2012 - L 8 SB 3897/12 ER-B, Rn. 45 juris; vgl. auch LSG Sachsen-Anhalt, Beschluss vom 21.09.2015 - L 7 SB 48/14 B ER, Leitsatz Ziffer 1 und Rn. 23, zitiert nach juris). Eine solche besondere Härte kann nur in ganz eng begrenzten Ausnahmefällen angenommen werden (vgl. auch Dau in: Juris PR-SozR 1/2011), z.B. dann, wenn die Gefahr besteht, dass das verfassungsrechtlich verbürgte Existenzminimum nicht mehr gesichert werden kann (vgl. Bayer. LSG, Beschluss vom 03.12.2020; LSG Baden-Württemberg, Beschluss vom 23.11.2012; LSG Sachsen-Anhalt, Beschluss vom 21.09.2015; jeweils a.a.O.).

Unter Zugrundelegung dieser Prämissen ist festzustellen, dass vorliegend ein Anordnungsgrund (Eilbedürftigkeit) nicht glaubhaft gemacht ist, da eine besondere Härte, die es der Bf. unzumutbar machen würde, die Entscheidung in der Hauptsache abzuwarten, unter Zugrundelegung ihres Vortrags nicht gegeben ist.

Dem Senat erschließt sich bereits nicht, inwiefern die von der Bf. ins Feld geführte, von ihr ab dem 01.10.2022 beantragte Altersrente für langjährig Versicherte mit Abschlägen eine besondere Härte im vorerläuterten Sinne darstellen soll, weil die Altersrente für langjährig Versicherte nicht an die Schwerbehinderung, sondern an eine anrechenbare Versicherungszeit von 35 (und mehr) Jahren anknüpft.

Aber auch das Begehren der Bf., Altersrente für schwerbehinderte Menschen ohne Abschläge (anstelle einer Altersrente für langjährig Versicherte mit Abschlägen) zu beziehen, stellt keine einen Ausnahmefall begründende besondere Härte im vorstehend erläuterten Sinne dar. Es ist nämlich nichts erkennbar, was den Fall der Bf. von der Situation anderer Antragsteller/-innen, die auch die Feststellung der Schwerbehinderteneigenschaft anstreben, maßgeblich unterscheidet. Typischerweise haben die Betroffenen in den Verfahren auf Feststellung von Schwerbehinderung z.T. erhebliche Funktionseinschränkungen und erhoffen sich durch die Feststellungen der Schwerbehinderung Erleichterungen im (beruflichen) Alltag oder andere (wirtschaftliche) Vorteile, z.B. - wie hier - die Vermeidung von Abschlägen bei der Gewährung von Altersbezügen oder einen früheren Rentenbezug. Dies ist aber kein Grund, solche Verfahren in den einstweiligen Rechtsschutz zu verlagern, nur damit eine möglichst schnelle gerichtliche Klärung - und sei es nur vorläufig - möglich ist. Die Situation der Bf. unterscheidet sich nicht von derjenigen einer Vielzahl von Kläger/-innen, die regelmäßig den Ausgang des von ihnen betriebenen Klageverfahrens abwarten, wenn sie wegen der Versagung der begehrten Feststellung gerichtliche Hilfe in Anspruch nehmen (vgl. LSG für das Land Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 28.01.2010 - L 6 B 36/09 SB ER betreffend den Nachteilsausgleich "aG"). Allein der - andere Kläger/-innen ebenso betreffende - Umstand, dass ein Gerichtsverfahren eine gewisse Zeit in Anspruch nimmt, ist kein von vornherein unzumutbarer Nachteil (Bayer. LSG, Beschlüsse vom 11.05.2021 und vom 21.01.2020, jeweils a.a.O.; LSG für das Land Nordrhein-Westfalen, a.a.O.).

Schließlich sind auch, ohne dass es hierauf ankäme, die Voraussetzungen eines Anordnungsanspruches, zu dem die Bevollmächtigten unter Hinweis auf die Schwere der gesundheitlichen Beeinträchtigungen der Bf. erneut umfassend und redundant vortragen, nicht glaubhaft gemacht. Nachdem im Beschwerdeverfahren - worauf der Bg. zutreffend verweist - diesbezüglich keine neuen Tatsachen vorgetragen worden sind, erübrigen sich in Anbetracht der umfassenden Ausführungen des SG hierzu weitere Ausführungen.

Der Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz war daher abzulehnen.

Die Kostenentscheidung beruht auf der entsprechenden Anwendung des § 193 SGG.

Dieser Beschluss ist gemäß § 177 SGG unanfechtbar.



Versorungsmedizinische Grundsätze
in der Fassung der 5. Verordnung zur Änderung der Versorgungsmedizin-Verordnung