Blindheit Landesblindengeldgesetz

Blindheit im Sinne des Teil A Nr. 6 a) bis c) VMG ist beschränkt auf Störungen des Sehapparates. Gnostische - neuropsychologische - Störungen des visuellen Erkennens führen dagegen nicht zur Blindheit. Damit wird der Ordnung der Versorgungsmedizinischen Grundsätze nach Organ- und Funktionseinheiten unter medizinischen Gesichtspunkten gefolgt

Aufgrund einer anderen Aufgabenstellung und Zielsetzung braucht der Begriff der Blindheit im Schwerbehindertenrecht nicht zwangsläufig deckungsgleich zu sein mit dem der Blindheit in einigen Landesblindengeldgesetzen oder bei der Blindenhilfe nach § 72 Abs. 1 und 5 SGB XII.


Landessozialgericht Mecklenburg-Vorpommern 3. Senat
08.09.2022
L 3 SB 44/16
Juris



Tatbestand

Die Beteiligten streiten noch um die Zuerkennung des Merkzeichens Bl (Blindheit).

Bei der am 12. Juni 2012 geborenen Klägerin stellte der Beklagte auf den Erstfeststellungsantrag vom 25. September 2012 mit Bescheid vom 11. Oktober 2012 einen Grad der Behinderung (GdB) von 100 sowie die Merkzeichen G, B und H fest und erkannte die Behinderung "Hirnschädigung, Anfallsleiden und psychomotorische Entwicklungsverzögerung" an. Der Beklagte stützte sich insoweit auf ärztliche Berichte der Kinder- und Jugendklinik der Universitätsmedizin B-Stadt vom 13. und 19. September 2012 mit den Diagnosen Aicardi-Syndrom mit Balken-Agenesie, symptomatische Epilepsie, Hydrocephalus internus, Mikrozephalie, Opticushypoplasie und chorioretinale Lacunae rechts. Die Universitätsmedizin B-Stadt hat darin u.a. ausgeführt, eine craniale MRT-Untersuchung habe eine Balkenagenesie, Hydrocephalus internus ohne Anhalt für erhöhten Hirndruck sowie eine auffällige Asymmetrie des Crus cerebelli zugunsten links ergeben.

Für die Klägerin machten ihre Eltern mit Neufeststellungsantrag vom 10. Juni 2013 auch die Zuerkennung der Merkzeichen aG (außergewöhnliche Gehbehinderung), RF und Bl oder HS für die Zeit ab Dezember 2012 geltend und legten einen Arztbrief der Augen- und Poliklinik der Universitätsmedizin B-Stadt vom 3. Dezember 2012 vor. Darin werden die ophtalmologischen Diagnosen peripapillare Atrophien/Lacunae bei Aicardi-Syndrom des rechten Auges sowie Verdacht auf Opticushypoplasie beider Augen mitgeteilt. Es bestehe weiterhin keine Fixationsaufnahme oder Folgebewegungen. Zum Teil seien unkoordinierte Augenbewegungen zu beobachten. Die Pupillenreaktion sei beidseits auslösbar gewesen, habe jedoch beidseits verlangsamt gewirkt. Ein Blitz-VEP sei binokular auslösbar. Die vorderen Augenabschnitte hätten sich beidseits regelrecht dargestellt.

Nach dem von dem Beklagten beigezogenen Befundbericht des Facharztes für Augenheilkunde Dr. O. vom 14. Juni 2013 über die Untersuchung am 3. Juni 2013 liege bei der Klägerin seit Geburt bei beiden Augen eine Opticushypoplasie und Opticusathrophie ohne Fixation bzw. ohne Reaktion des Kindes auf Licht vor, wobei die Pupille rechts und links auf Licht reagiere.

Mit Bescheid vom 8. August 2013 stellte der Beklagte unter Abänderung des Bescheides vom 11. Oktober 2012 zusätzlich die Merkzeichen RF und HS für die Zeit ab 1. Dezember 2012 unter Anerkennung einer hochgradigen Sehbehinderung als weitere Behinderung fest und lehnte die Feststellung der Merkzeichen aG und Bl ab.

Mit dem hiergegen am 20. August 2013 für die Klägerin eingelegten Widerspruch führten ihre Eltern zur Begründung aus, dass die Klägerin nach Auskunft des Augenarztes Dr. O. blind sei. Dies sei auch von der Universitäts-Augenklinik B-Stadt bestätigt worden. Es sei keine Fixation möglich und daher auch kein Sehen. Dies könne auch nicht durch Gläser korrigiert werden. Ergänzend wurde Bezug genommen auf einen beigefügten Arztbrief der Augen- und Poliklinik der Universitätsmedizin B-Stadt vom 11. Juni 2013 mit unveränderten Befundangaben.

Mit Widerspruchsbescheid vom 7. Oktober 2013 wies der Beklagte den Widerspruch zurück.

Hiergegen hat die von ihren Eltern vertretene Klägerin am 5. November 2013 bei dem Sozialgericht Rostock Klage erhoben und die Zuerkennung der Merkzeichen aG und Bl geltend gemacht. Zur Begründung ist u.a. ausgeführt worden, dass die Voraussetzungen für die Zuerkennung des Merkzeichens Bl vorliegen würden. Die Klägerin sei blind, da sie nicht fixieren könne. Allein der Umstand, dass bei der Untersuchung in der Augenklinik der Universität B-Stadt am 3. Dezember 2012 ein Blitz-VEP auslösbar gewesen sei, schließe eine Blindheit nicht aus. Zwar lasse sich mit hoher Wahrscheinlichkeit Blindheit annehmen, wenn ein Blitz-VEP definitiv negativ ausfalle. Dies lasse aber den Umkehrschluss nicht zu, eine Blindheit abzulehnen, weil er noch auslösbar sei. Eine faktische Blindheit könne nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) auch auf zerebralen Schäden beruhen, und zwar für sich allein oder im Zusammenwirken mit Beeinträchtigungen des Sehorgans. Die Klägerin leide gerade unter diesen schweren Hirnschädigungen.

Der Beklagte hat seine Entscheidung verteidigt.

Das Sozialgericht hat zunächst Befundberichte der behandelnden Ärzte eingeholt.

Der Facharzt für Augenheilkunde Dr. O. hat mit Befundbericht vom 9. Mai 2014 seine Feststellungen über die einmalige Untersuchung der Klägerin am 3. Juni 2013 wiederholt. Die Klägerin sei blind, da sie keine Fixation aufgenommen habe. Eine weitere Verlaufskontrolle zur Prüfung des Sehvermögens sei dem Entwicklungsstand des Kindes entsprechend weiter notwendig.

Die Fachärztin für Kinderheilkunde DM P. hat am 12. Mai 2014 die Diagnosen motorische und geistige Behinderung, hochgradige Sehschwäche, hypotone Muskulatur und Krampfneigung mitgeteilt. Die Klägerin könne sich nicht allein drehen, nicht sitzen und stehen, sie spreche nicht, fixiere nicht und könne nicht allein essen.

Die Augen- und Poliklinik der Universitätsmedizin B-Stadt hat mit Befundbericht vom 23. Mai 2014 erneut über die zuletzt am 11. Juni 2013 erfolgten Untersuchungen berichtet. Zur Einschätzung des Vorliegens von Blindheit wäre die Erhebung einer quantitativen Sehschärfe sowie eine Gesichtsfelduntersuchung notwendig. Dies sei aber altersbedingt noch nicht möglich, weshalb eine endgültige Beurteilung nicht erfolgen könne. Die Klägerin habe keine Fixationsaufnahme oder Zuwendung zum Licht und Gegenständen gezeigt, sodass bei vorhandener Pupillenreaktion maximal eine Wahrnehmung von Hell/Dunkel bestehen dürfte. Daher sei das Vorliegen von Blindheit wahrscheinlich.

Hierauf hat der Beklagte auf die versorgungsärztliche Stellungnahme der Versorgungsärztin Dr. R. vom 18. Februar 2015 Bezug genommen, wonach die vorgelegten medizinischen Befunde nicht ausreichten, um die gesetzlich geforderten Voraussetzungen für die geltend gemachten Merkzeichen zu bestätigen.

Das Sozialgericht hat sodann ein Gutachten des Augenarztes Dr. F. vom 21. August 2015 eingeholt. Darin hat der Gutachter folgende Diagnosen gestellt:

· rechtes Auge fokale, fleckförmige Netzhaut-Aderhaut-Atrophie (sog. Lakunen) ohne funktionelle Bedeutung

· beidseits Unterentwicklung (Hypoplasie) des Sehnervs unklaren Ausmaßes und fraglicher funktioneller Relevanz

· schwere Hirnmissbildung mit Balkenagenesie, Hydrocephalus internus und Asymmetrie des Kleinhirns.

Als Untersuchungsbefund hat Dr. F. zur Sehschärfe mitgeteilt: beidseitige Wahrnehmung von Licht und Abwehr bei grellem Licht, Sehvermögen ansonsten nicht messbar, weil das Kind sichtbare Objekte nicht wahrnehme und jedenfalls darauf nicht reagiere. Gesichtsfeld und Farbsehen seien nicht messbar. Willkür- und Folgebewegungen sowie binokulares Sehvermögen nicht prüfbar. Mäßige, aber ca. seitengleiche Reaktion der Pupillen bei direkter und indirekter Beleuchtung. Beim Blitz-VEP sei die P 100-Latenz für die Reizung des linken Auges mit 146 ms deutlich verzögert. Bei der Reizung des rechten Auges bestehe eine Latenz von 123 ms. Zur Beruhigung des Kindes vor der Untersuchung habe der Vater gesungen. Danach sei die Ableitung möglich gewesen.

Dr. F. hat weiter ausgeführt, dass, während die umschriebene chorioretinale Atrophie des rechten Auges sicher und die klinisch imponierende Unterentwicklung der Sehnerven möglicherweise ohne funktionelle Konsequenzen sei, würden die durch Kernspintomographie dargestellten, möglicherweise auf mikroanatomischer Ebene aber noch viel umfassenderen Missbildungen des Gehirns die klinisch relevanten Funktionseinschränkungen zu bedingen scheinen. Dies seien schwerste motorische Retardierung mit Unfähigkeit zu sitzen, stehen, gehen oder laufen, schwerste geistige Retardierung mit weitgehender Unfähigkeit zu kommunizieren und schwerste Sehbehinderung mit Unfähigkeit zu visueller Kontaktaufnahme. Im Vergleich zu den vorliegenden Befunden aus 2012 und 2013 habe eine wesentliche Weiterentwicklung der motorischen und visuellen Fähigkeiten nicht stattgefunden. Das Sehvermögen sei im vorliegenden Fall nicht befriedigend zu messen, weil es einerseits mangels Kommunikationsfähigkeit nicht erfragt und mitgeteilt werden könne, andererseits aber offenbar ohnehin unterhalb der Nachweisgrenze liege. Obwohl im vorliegenden Fall keine anderweitigen Reize die Aufmerksamkeit des Kindes beansprucht hätten, habe es sich, wie bereits bei den Voruntersuchungen, außer auf grelles Licht gegenüber jeglichen visuellen Reizen als vollkommen indifferent gezeigt. Es sei keine Blickwendung, keine Fixation, kein Zwinkern, keine Abwehr und insgesamt keinerlei Reaktion erfolgt. Vor dem Hintergrund dieser totalen Reaktionslosigkeit seien auch die bei nonverbalen Patienten gebräuchlichen Untersuchungsmethoden Preferential Looking und Muster-VEP zur Messung eines etwaigen Sehvermögens nicht zu verwenden, weil auch diese wenigstens einer motorischen Reaktion auf dargebotene visuelle Reize bedürften. Da laut Auskunft der Eltern ihr Kind durch Ansprache und Berührung aber zu - wenngleich schwachen - Reaktionen zu bewegen sei, könne die fehlende visuelle Ansprechbarkeit nicht ausschließlich dem allgemeinen Hirnleistungsdefizit angelastet werden, sondern erscheine als ein umschriebenes sensomotorisches Phänomen. Das Vorhandensein der Pupillenreflexe wie auch der Nachweis eines positiven Blitz-VEP widerspreche dem nicht, weil das Fehlen dieser Reaktionen zwar mit Blindheit kompatibel sei, ihr Vorhandensein jedoch nicht gleichbedeutend mit Sehvermögen. Eine visuelle Agnosie oder sonstige gnostische Störungen als Ursache einer als vermindert erscheinenden Sehschärfe würden ausscheiden, weil diese vermeintlichen Sehstörungen nur im Kontext funktionierender verbaler Kommunikation darzustellen seien. Insgesamt bestehe mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit seit Geburt Blindheit, aus welcher ein GdB von 100 und der Anspruch auf Zuerkennung des Merkzeichens Bl resultiere. Da keinerlei Anzeichen dafür bestünden, dass die vorhandene Sehschärfe mindestens 0,02 betrage, sei das Merkzeichen Bl zuzuerkennen. Zusammenfassend hat der Gutachter ausgeführt, dass, auch wenn eine Messung der Sehschärfe aus verschiedenen Gründen nicht möglich sei, aus dem Verhalten des Kindes und seiner praktisch vollständigen Nichtreaktion auf optische Stimuli der Schluss gezogen werden müsse, dass eine massive Beeinträchtigung des Sehvermögens bestehe und die Augen außer zur Unterscheidung zwischen Hell und Dunkel nicht imstande seien, weitere visuelle Informationen zu erlangen. Dieser Zustand bedeute Blindheit. Zur besseren Einschätzung der geistigen motorischen Fähigkeiten bzw. Defizite solle ein Kinderneurologe oder ein neurologisch versierter Pädiater konsultiert werden.

Hierauf hat der Beklagte Bezug genommen auf eine Stellungnahme des Versorgungsarztes R. vom 14. September 2015, dass der Einschätzung des Gutachters nicht zu folgen sei, da die Ausführungen nicht den gutachterlichen Anforderungen nach Teil A Nr. 6 der Versorgungsmedizinischen Grundsätze (VMG) und den hier zu ergänzenden Beschlüssen des Beirates der versorgungsärztlich tätigen leitenden Ärzte und der Bundeswehr am BMAS entsprechen würden. Soweit nach den älteren Befunden ersichtlich, sei aus neurologischer Sicht der Zustand des Kindes vergleichbar mit einem apallischen Syndrom, sodass entsprechend auch eine gleiche Beweisführung der Blindheit zu fordern sei.

Zur weiteren Sachverhaltsaufklärung hat das Sozialgericht zudem ein neurologisches Gutachten des Facharztes für Neurologie und Psychiatrie Dr. R. vom 17. Mai 2016 eingeholt. Der Gutachter hat als Diagnose das Aicardi-Syndrom mitgeteilt. Der Versuch einer Lichtreaktion ergebe eine Pupillenverengung, die direkt und indirekt vorzuliegen scheine, was aufgrund der permanenten Kopfbewegung und Augenbewegungen allerdings nicht sicher zu beurteilen sei. Konvergenzreaktion und Gesichtsfeld seien bekanntermaßen nicht prüfbar. Die Klägerin kommuniziere vordergründig nicht mit ihrer Umwelt. Es bestehe eine schwerste geistige und motorische Behinderung. Die Klägerin könne sich möglicherweise aktiv auf den Bauch drehen, aber nicht zurückbewegen. Eine weitere Fortbewegung sei ihr nicht möglich. Sie könne nicht krabbeln, frei sitzen oder stehen. Die Kopfkontrolle sei nicht gegeben. Eine Blickfixation oder eine Reaktion auf eine plötzliche, bedrohliche visuelle Reizexposition seien nicht aufgetreten. Es sei aber der Eindruck einer Aufmerksamkeit und einer gewissen Zuwendung bei Ansprache entstanden. Nach den Mitteilungen der Eltern werde durchaus von einer Wahrnehmung der Klägerin ausgegangen. Eine Wahrnehmung von Hautreizen, von Geschmacksreizen und das Hören erscheine unzweifelhaft. Dabei sei auch von einer subjektiven Bewertung der Reize im Sinne von "angenehm" und "unangenehm" auszugehen. Für eine visuelle Wahrnehmung, z.B. in Form einer Fixation oder in Form eines Erschreckens, würden sich keine Anhaltspunkte ergeben. Eine Fixation wäre aufgrund der langsam kreisenden Kopfbewegung gut erkennbar gewesen. Nach den Berichten der Eltern sei es keinesfalls so, dass ein seelenloser oder in sich gefangener Zustand der Klägerin vorliege. Für die aufgeführten Qualitäten Schmecken, Fühlen und Hören sei eine bewusste Wahrnehmung möglich, die für die Eltern auch zu erkennbaren Reaktionen führe. Daher sei eine Reizverarbeitung auf höherer Ebene bei der Klägerin vorhanden, auch wenn die Ausdrucksmöglichkeiten aufgrund der schwer beeinträchtigten motorischen Möglichkeiten vordergründig kaum vorhanden seien.

Damit handele es sich nicht um einen mit dem Apallischen Syndrom vergleichbaren Zustand. Beim Apallischen Syndrom bestehe eine vollständige Entkopplung von Reizaufnahme und kortikaler Bewusstwerdung. Bei der Klägerin liege ein solcher Zustand zweifelsfrei nicht vor. Vielmehr sei bei der Sinnesperzeption eine Dissoziation in der Reizverarbeitung festzustellen, die offenbar die visuelle Wahrnehmung ganz ausgeprägt betreffe. Die Klägerin könne sich wohlfühlen, zum Beispiel durch Gesang, sie entwickle Abneigung gegen laute Geräusche und sie unterscheide zwischen angenehmen und unangenehmen Klängen und sie habe Lieblingsspeisen. Auf visuelle Stimuli komme es dagegen zu keiner Reaktion. Diese Auffälligkeit habe die Eltern zu einer augenärztlichen Vorstellung veranlasst.

Das Merkzeichen aG sei der Klägerin zuzuerkennen.

Dem Gutachten von Dr. F. hat Dr. R. uneingeschränkt zugestimmt. Das alte Konzept "Erkennen" (Sehapparat) und "Benennen" (zerebrale Reizverarbeitung) entspreche nicht mehr dem neuesten Forschungsstand. Bei generalisierten Hirnschäden wie durch Sauerstoffmangel, Unterzuckerung, Stoffwechseldefekt oder - wie bei der Klägerin - durch einen genetischen Defekt sei das Gehirn potenziell in allen Bereichen betroffen, wodurch sich die Schädigung auch beidseitig auf ein räumlich so ausgedehntes funktionelles System auswirken könne. Aufgrund der generalisierten Hirnschädigung würden in diesen Fällen aber meist die kognitiven Voraussetzungen fehlen, um das "Erkennen und Benennen" messen bzw. objektivieren zu können. Die Schwerstbehinderung der Klägerin wirke sich hinsichtlich der Reizwahrnehmung offenbar am stärksten auf die visuelle Wahrnehmung aus, während für die Modalitäten Hören, Schmecken und Fühlen eindeutig eine Bewusstheit bestehe, die zwingend an die Wahrnehmung in der Hirnrinde gebunden sei. Sowohl die Universitäts-Augenklinik B-Stadt als auch Dr. F. würden zu dem Schluss kommen, dass eine Blindheit wahrscheinlich sei bzw. aufgrund des Verhaltens faktisch von Blindheit auszugehen sei. Die Dissoziation von visuellen gegenüber auditiven, gustatorischen und somatosensiblen Wahrnehmungen unterstütze diese Feststellung. Es könne dabei nicht gesagt werden, ob die Störung im "Erkennen", im "Benennen" oder in beidem liege. Aufgrund der Hirnschädigung erscheine es nicht unwahrscheinlich, dass die Störung auf die Hirnfehlbildung mit Balkenagenesie, Mikrozephalus und Hydrozephalus beruhe. Im naturwissenschaftlichen Sinne beweisbar seien diese Feststellungen nicht. Die berichteten Unterschiede in der Reaktion auf visuelle versus gustatorische, somatosensible und auditive Reize ließen aber keine andere vernünftige Deutung zu, als dass im Rahmen der schweren Hirnschädigung in Übereinstimmung mit den augenärztlichen Ausführungen eine Blindheit vorliege.

Hierauf hat der Beklagte mit Teilanerkenntnis vom 11. August 2016 bei der Klägerin ab 25. September 2012 das Merkzeichen aG festgestellt. In Hinblick auf das Merkzeichen Bl hat der Beklagte Bezug genommen auf die versorgungsärztliche Stellungnahme von Dr. Brenner vom 28. Juli 2016. Danach sei den Gutachten von Dr. R. und Dr. F. insoweit nicht zu folgen. Da bei der Klägerin der Pupillenreflex auf beiden Seiten positiv sei und auch das Blitz-VEP abgeleitet werden könne, sei eine komplette Störung der Sehbahn auszuschließen. Dass die Klägerin nach den Mitteilungen der Eltern Haut- und Geschmacksreize sowie akustische Reize wahrnehmen könne, habe Dr. R. unter den Untersuchungsbedingungen nicht bestätigen können. Dessen Aussage, die bewusste Wahrnehmung basaler Qualitäten wie Schmecken, Fühlen und Hören stelle - trotz ihrer eingeschränkten Bandbreite - eine höhere kortikale Leistung dar, sodass eine Reizverarbeitung auf höherer Ebene vorhanden sei, auch wenn die Ausdrucksmöglichkeiten aufgrund der schwer beeinträchtigten motorischen Möglichkeiten vordergründig kaum vorhanden seien, gelte auch für visuelle Reize, auf die zwar im Moment eine Reaktion des gesamten Muskelapparates des Körpers nicht zu sehen sei, von denen aber man nicht wisse, ob die Klägerin im Seelischen von visuellen Reizen profitiere. Dies sei völlig offen. Somit sei eine Blindheit im Sinne der VMG im Gegensatz zu beiden Gutachtern nicht bewiesen. Denn die bloße Möglichkeit einer Blindheit reiche nicht aus, um das begehrte Merkzeichen Bl zu begründen.

Die Klägerin hat nach Annahme des Teilanerkenntnisses beantragt,

den Beklagten unter Aufhebung des Bescheides vom 8. August 2013 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 7. Oktober 2013 in der Fassung des Teilanerkenntnisses vom 11. August 2016 zu verpflichten, die gesundheitlichen Voraussetzungen für das Merkzeichen Bl festzustellen.

Der Beklagte hat beantragt,

die Klage abzuweisen.

Er hat seine Entscheidung weiter verteidigt.

Mit Urteil vom 10. Oktober 2016 hat das Sozialgericht den Bescheid des Beklagten vom 8. August 2013 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 7. Oktober 2013 in der Fassung des Teilanerkenntnisses vom 11. August 2016 teilweise aufgehoben und den Beklagten verpflichtet, das Merkzeichen Bl seit Antragstellung zuzuerkennen.

Zur Begründung hat es ausgeführt, blind sei grundsätzlich der behinderte Mensch, dem das Augenlicht vollständig fehle. Als blind sei auch der behinderte Mensch anzusehen, dessen Sehschärfe auf keinem Auge und auch nicht bei beidäugiger Prüfung mehr als 1/50 betrage oder wenn andere Störungen des Sehvermögens von einem solchen Schweregrad vorlägen, dass sie dieser Beeinträchtigung der Sehschärfe gleich zu achten seien.

Die Klägerin leide an dem sogenannten Aicardi-Syndrom, was nach dem Gutachten von Dr. R. eine schwere bzw. schwerste cerebrale Störung darstelle. Aufgrund dieser schweren genetischen Erkrankung seien sowohl die motorischen als auch die geistigen Fähigkeiten der Klägerin erheblich eingeschränkt. Auch sei die Sehfähigkeit in dem Maße eingeschränkt, dass die Klägerin faktisch blind sei. Unter Zugrundelegung der Entscheidung des Bundessozialgerichts vom 11. August 2015 - B 9 Bl 1/14 R - müsse von einer Blindheit der Klägerin ausgegangen werden, sodass ein Anspruch auf Feststellung der gesundheitlichen Voraussetzungen des Merkzeichens Bl gegeben sei. Mit der vorgenannten Entscheidung habe das Bundessozialgericht zum einen die Differenzierung zwischen dem Erkennen und dem Benennen im Bereich des auch hier maßgeblichen Begriffs der Blindheit und zum anderen in der Konsequenz die Notwendigkeit einer spezifischen Störung des Sehvermögens im Vergleich zu den sonstigen Sinneswahrnehmungen bei cerebral schwerstgeschädigten Menschen mit Behinderungen aufgegeben. Danach lasse es der allgemeine Gleichheitssatz nicht zu, bei schwer cerebral geschädigten Menschen zu verlangen, dass die zur Blindheit führenden Beeinträchtigungen ihres Sehvermögens stärker als die Beeinträchtigung ihrer sonstigen Sinneswahrnehmungen ausgeprägt seien.

Wenn der Beklagte die Auffassung vertrete, eine Blindheit der Klägerin lasse sich nicht belegen, weil eine Blitz-VEP-Untersuchung möglich gewesen sei, dies gegen eine Blindheit spreche, was auch nicht durch andere Untersuchungsverfahren widerlegt sei, verkenne der Beklagte die Reichweite der Rechtsprechungsänderung. Danach sei weder ein morphologisches Korrelat für die faktische Blindheit noch ein Nachweis einer spezifischen Beeinträchtigung des Sehvermögens bei schwerster cerebraler Schädigung erforderlich. Der Begriff der Blindheit erfasse nach der geänderten Rechtsprechung über die Beeinträchtigung des Sehvermögens durch einen Defekt der Augen, eine Sehnervschädigung und Störung der Hirnrinde (Erkennen) hinaus auch jene Fälle, bei denen der Betroffene möglicherweise ein intaktes Sehvermögen habe, die Sehnervsignale jedoch im Gehirn nicht einordnen könne (sog. Nichtbenennenkönnen), also faktisch blind sei (vgl. auch SG Aachen, Urteil vom 18. März 2016 - S 18 SB 110/14 -). Es sei insofern ausreichend, dass, wie es auch das Bundessozialgericht betone, rein final betrachtet ein unterhalb der Blindheitsschwelle liegendes Sehvermögen (optische Reizaufnahme und deren Weiterverarbeitung im Bewusstsein) objektiviert werde.

Danach sei von der Blindheit der Klägerin auszugehen. Bereits aus den eingeholten Befundberichten ergebe sich, dass eine Fixation der Klägerin nicht möglich sei. Die Klägerin nehme weder mit den Augen die Fixation auf, noch finde eine Zuwendung zu Licht bzw. Gegenständen statt. Dieses Ergebnis werde durch das Gutachten von Dr. F. bestätigt, wonach eine schwerste Sehbehinderung mit der Unfähigkeit zur visuellen Kontaktaufnahme bei der Klägerin bestehe. Die Klägerin habe sich außer auf grelles Licht gegenüber jeglichen visuellen Reizen als vollkommen indifferent gezeigt. Es finde bei der Klägerin weder eine Blickwendung, noch eine Fixation, ein Zwinkern oder eine Abwehr statt. Insgesamt erfolge diesbezüglich keinerlei Reaktion. Auch Dr. F. bestätige, dass das Vorhandensein der Pupillenreflexe wie auch der Nachweis eines positiven Blitz-VEP dem nicht widerspreche, weil das Fehlen dieser Reaktionen zwar mit Blindheit kompatibel, jedoch ihr Vorhandensein nicht gleichbedeutend mit einem Sehvermögen sei. Genau dies berücksichtige das Bundessozialgericht in der vorgenannten Entscheidung gerade in Bezug auf schwerst cerebral geschädigte Menschen. Zudem bestätige Dr. R. in seinem neurologischen Gutachten die Ausführungen von Dr. F.. Auch er stelle dar, dass eine visuelle Wahrnehmung durch die Klägerin nicht erfolge. Diese finde weder in Fixation noch in Form eines Erschreckens statt.

Zwar komme es nach der neuen Rechtsprechung letztlich nicht mehr darauf an, jedoch teile auch Dr. R. mit, dass eine Reizverarbeitung der Klägerin auf anderer Ebene durchaus möglich sei, auch wenn diese kaum wahrnehmbar erscheine. Die Klägerin reagiere auf Geräusche und auch auf Geschmacksreize. Der Gutachter verneine gerade das Vorliegen eines apallischen Syndroms. Es könne daher, wie von dem Beklagten angenommen, nicht davon ausgegangen werden, dass eine vollständige Entkopplung von der Reizaufnahme und der kortikalen Bewusstwerdung bestehe. So teile Dr. R. z.B. mit, dass die Untersuchung mittels Blitz-VEP nach Beruhigung des Kindes aufgrund des Gesangs des Vaters möglich gewesen sei. Damit stehe bereits fest, dass die Klägerin akustische Signale wahrnehme. Dies habe letztlich auch in der mündlichen Verhandlung, bei welcher auch die Klägerin persönlich anwesend gewesen sei, vom Gericht wahrgenommen werden können.

Gegen das ihm am 28. Oktober 2016 zugestellte Urteil hat der Beklagte am 14. November 2016 Berufung eingelegt und zur Begründung ausgeführt, das Urteil des Bundessozialgerichts vom 11. August 2015 - B 9 BL 1/14 R -, auf das das Sozialgericht seine Entscheidung stütze, wie auch das nachfolgende Urteil des Bundessozialgerichts vom 14. Juni 2018 - B 9 BL 1/17 R - lege den Begriff der Blindheit nach Art. 1 Abs. 2 Satz 2 Nr. 2 Bayerisches Blindengeldgesetz aus. Danach könne es bei zerebral geschädigten Menschen dahingestellt bleiben, auf welcher konkreten Ursache die Blindheit im Einzelfall beruhe, ob sie durch eine Schädigung des optischen Sehapparates, eine Hirnschädigung oder eine Kombination denkbarer Ursachen verursacht werde, weil die Ursache vielfach medizinisch nicht nachvollzogen werden könne und ein sachlicher Grund für die genaue Lokalisierung nicht nachweisbar sei. Entscheidend für den Anspruch auf Blindengeld sei allein, ob es insgesamt an der Möglichkeit zur Sinneswahrnehmung Sehen (optische Reizaufnahme und deren weitere Verarbeitung im Bewusstsein des Menschen) fehle, sodass der behinderte Mensch blind sei. Diese erweiterte Auslegung des Begriffs der Blindheit für Blindengeld nach dem Bayerischen Blindengeldgesetz könne nicht auf den Blindheitsbegriff für die Zuerkennung des Merkzeichens Bl nach Teil A Nr. 6 VMG übertragen werden. Nach dessen Nr. 6 c sei ein behinderter Mensch mit einer visuellen Agnosie oder anderen gnostischen Störungen nicht blind. Diesen Ausschluss enthalte das Bayerische Blindengeldgesetz jedoch nicht. Ferner sei zu beachten, dass der morphologische Befund an Auge, Sehnerv, Sehbahnen oder Sehrinde die Blindheit erklären müsse. Eine nachweisbare Schädigung dieser Strukturen könne bei der Klägerin nicht erbracht werden. Die nachgewiesenen morphologischen Befunde Balkenagenesie, Mikrozephalie und Hydrozephalus würden für den Nachweis einer Blindheit nicht ausreichen. Für die Intaktheit des optischen Systems und des Sehnervs sprächen die direkte und indirekte Lichtreaktion der Pupillen und bezüglich der weiterleitenden Hirnstrukturen und der Sehrinde die positive Reizantwort auf das Blitz-VEP.

Der Beklagte beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Rostock vom 10. Oktober 2016 aufzuheben und die Klage, soweit sie auf die Zuerkennung des Merkzeichens Bl gerichtet ist, abzuweisen.

Die Klägerin beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Zur Begründung wird auf die angefochtene Entscheidung und die vorgenannte Entscheidung des Bundessozialgerichts vom 11. August 2015 Bezug genommen.

Der Senat hat Beweis erhoben durch Einholung eines neuropädiatrischen Gutachtens des Oberarztes Neuropädiatrie Dr. U. vom 20. Dezember 2021. Als Untersuchungsbefund wird u.a. mitgeteilt: keinerlei Fixation, weder auf dicht vorgehaltene Gegenstände noch auf direkte augennahe Beleuchtung, bemerke jedoch grelles Licht (Reaktion in Form eines kurzzeitigen Blinzelns). Bei der komplex mehrfach behinderten Klägerin bestehe eine vollständige Pflege- und Hilfsbedürftigkeit. Reproduzierbare Reaktionen und damit Zugänge über Sinnesqualitäten fänden sich bis auf den visuellen Bereich in den anderen Sinnen in unterschiedlicher Ausprägung. Die Reaktion auf gleißendes Licht müsse als Reaktion auf einen Schmerzreiz angesehen werden. Das abwehrende Verhalten werde hierbei nicht über die Sinneseindrücke, sondern über die schmerzverarbeitenden Hirnzentren ausgelöst.

Das Blitz-VEP sei mit niedrigen Amplituden und hohen Latenzen um 150 ms vorrangig oxipital median mäßig reproduzierbar ableitbar, sodass von einer zumindest teilweise intakten Sehbahn mit postsynaptischen Potenzialen der genikulokortikalen Bahnen auszugehen sei.

Bei dem für eine sichere Beurteilung der primären Sehrinde und der kortikokortikalen Bahnen notwendige Musterumkehr-VEP sei in keiner der Ableitungen ein Nachweis von Reizantworten im für VEP möglichen Zeitbereich unter 200 ms erfolgt, wobei eine eingeschränkte Aussagefähigkeit durch fehlendes Fixationvermögen bestehe. Damit erscheine eine zumindest hochgradige Beeinträchtigung der Funktion der Sehrinde hochwahrscheinlich.

Wenn ein Mensch seine Umgebung mit einer Sehschärfe von 0,02 bzw. 1/50 wahrnehme, müsse er sie zumindest in minimaler Form erfassen. Diese Wahrnehmung sei bei der Klägerin in keiner Weise auch nur angedeutet zu erkennen. Damit sei klinisch davon auszugehen, dass eine Blindheit im Sinne von Teil A Nr. 6 a VMG bestehe. Eine Blindheit im Sinne von Teil A Nr. 6 b VMG könne nicht überprüft werden, da durch die Entwicklungsstörung keine Gesichtsfeldbestimmung möglich sei. Ein Ausfall der Sehrindenfunktion könne auch bei positiven Blitz-VEP nicht ausgeschlossen werden, da diese teilweise auch durch genikulokortikale Nervenfasern generiert werden könnten. Die für die Hirnrinde spezifischeren Muster-VEP seien bei der Klägerin nicht messbar, jedoch durch fehlende Fixation allerdings auch nur eingeschränkt zu bewerten gewesen. Die Befundkonstellation spreche für eine wahrscheinliche Blindheit auch im Sinne von Teil A Nr. 6 c VMG, weise diese aber nicht mit letzter Sicherheit nach. Es bestehe Übereinstimmung mit Dr. O. und Dr. F., die beide ebenfalls mit einer offensichtlich geringeren Sehschärfe als 0,02 bzw. 1/50 entsprechend Teil A Nr. 6 a VMG argumentieren würden. Die neurophysiologischen Befunde ließen aber auch die Argumentation einer Blindheit im Sinne von Teil A Nr. 6 c VMG zu, wobei hier eine Beweiskette nicht sicher aufgestellt werden könne.

Hierauf hat der Beklagte Bezug genommen auf die versorgungsärztliche Stellungnahme von Dr. P. vom 7. Februar 2022. Danach habe der Gutachter festgestellt, dass keine Fixation der Augen auf vorgehaltene Gegenstände und augennahe Beleuchtung, jedoch auf grelles Licht bestehe. Es lasse sich nur eine geringfügige Pupillenreaktion und Abwehrreaktionen nur auf gleißendes Licht feststellen. Das Blitz-VEP deute auf zumindest teilweise intakte Sehbahnen. Das Muster-VEP sei bei fehlender Fixation wenig aussagekräftig. Die Befundkonstellation spreche aus Sicht des Gutachters für eine wahrscheinliche Rindenblindheit. Ein Nachweis mit letzter Sicherheit und Aufstellung einer sicheren Beweiskette seien jedoch bei der inzwischen fast zehnjährigen Klägerin nicht möglich. Nach Teil A Nr. 6 VMG müsse jedoch ein vollständiger Ausfall der Sehrinde nachgewiesen sein. Dieser Nachweis gelinge dem Gutachter nicht.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird Bezug genommen auf die Gerichtsakte und den von dem Beklagten beigezogenen Verwaltungsvorgang, deren Inhalt Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen ist.


Entscheidungsgründe

Die zulässige Berufung des Beklagten ist begründet, da die Klage, soweit sie noch auf die Zuerkennung des Merkzeichens Bl gerichtet ist, unbegründet ist. Denn die Klägerin hat keinen Anspruch auf Feststellung der gesundheitlichen Voraussetzungen für das Merkzeichen Bl.

Nach dem erstinstanzlichen Teilanerkenntnis des Beklagten auf Zuerkennung des Merkzeichens aG ist nur noch streitig, ob die Klägerin unter Abänderung des Bescheides vom 8. August 2013 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 7. Oktober 2013 in der Fassung des Teilanerkenntnisses vom 11. August 2016 einen Anspruch auf Zuerkennung des Merkzeichens Bl für die Zeit seit Dezember 2012 hat.

Rechtsgrundlage für die geltend gemachte Zuerkennung des Merkzeichens Bl ist § 69 Abs. 1 und 4 SGB IX in der bis zum 31. Dezember 2017 geltenden Fassung bzw. § 152 Abs. 1 und 4 SGB IX in der seit 1. Januar 2018 gültigen Fassung. Danach werden auf Antrag des behinderten Menschen das Vorliegen einer Behinderung und der GdB abgestuft nach Zehnergraden sowie weitere gesundheitliche Merkmale als Voraussetzung für die Inanspruchnahme von Nachteilsausgleichen von den für die Durchführung des Bundesversorgungsgesetzes (BVG) zuständigen Behörden – vorliegend dem Beklagten – festgestellt. Hierbei sind die in der Anlage zu § 2 Versorgungsmedizin-Verordnung (VersMedV) festgelegten Versorgungsmedizinischen Grundsätze (VMG) heranzuziehen (§ 69 Abs. 1 S. 5 SGB IX aF, ab 15. Januar 2015 § 159 Abs. 7 SGB IX aF und ab 1. Januar 2018 § 241 Abs. 5 SGB IX nF jeweils i.V.m. § 30 Abs. 16 BVG).

Zu diesen Merkmalen gehören diejenigen für den Nachteilsausgleich Blindheit nach Teil A Nr. 6 VMG, für die in dem Schwerbehindertenausweis das Merkzeichen Bl einzutragen ist (§ 3 Abs. 1 Nr. 3 SchwbAwV i.V.m. § 70 Abs. 2 SGB IX bzw. seit 1. Januar 2018 § 153 Abs. 2 SGB IX). Diese Feststellung zieht insbesondere die Gewährung von Blindengeld nach den Landesblindengeldgesetzen nach sich, hier also nach dem Landesblindengeldgesetz Mecklenburg-Vorpommern (§ 1 Abs. 5 LBlGG M-V), wenn die Blindheit oder die Sehstörung durch einen Feststellungsbescheid nach § 69 Abs. 1 Satz 1 SGB IX (bzw. jetzt § 152 Abs. 1 Satz 1 SGB IX) nachgewiesen ist.

Nach Teil A Nr. 6 a) VMG ist blind ein behinderter Mensch, dem das Augenlicht vollständig fehlt. Als blind ist auch ein behinderter Mensch anzusehen, dessen Sehschärfe auf keinem Auge und auch nicht beidäugig mehr als 0,02 (1/50) beträgt oder wenn andere Störungen des Sehvermögens von einem solchen Schweregrad vorliegen, dass sie dieser Beeinträchtigung der Sehschärfe gleichzustellen sind. Eine gleichzusetzende Sehbehinderung liegt nach den Richtlinien der Deutschen Ophthalmologischen Gesellschaft (DOG) vor bei bestimmten Einengungen des Gesichtsfeldes, großen Skotomen sowie homonymen, bitemporalen und binasalen Hemianopsien (Teil A Nr. 6 b) VMG). Blind ist schließlich auch ein behinderter Mensch mit einem nachgewiesenen vollständigen Ausfall der Sehrinde (Rindenblindheit), nicht aber mit einer visuellen Agnosie oder anderen gnostischen Störungen (Teil A Nr. 6 c) VMG).Bei der Beurteilung von Störungen des Sehvermögens ist nach Teil B Nr. 4 VMG darauf zu achten, dass der morphologische Befund die Sehstörungen erklärt.

Blindheit im Sinne des Teil A Nr. 6 a) bis c) VMG ist danach beschränkt auf Störungen des Sehapparates. Gnostische - neuropsychologische - Störungen des visuellen Erkennens führen dagegen nicht zur Blindheit. Damit wird der Ordnung der VMG nach Organ- und Funktionseinheiten unter medizinischen Gesichtspunkten gefolgt (vgl. BSG, Urteil vom 24. Oktober 2019 – B 9 SB 1/18 R –, juris).

Soweit die Klägerseite und das Sozialgericht sich auf das Urteil des Bundessozialgerichts vom 11. August 2015 – B 9 BL 1/14 R – beziehen und die Auffassung vertreten, das Bundessozialgericht habe darin die Notwendigkeit des Vorliegens einer spezifischen Sehstörung und somit des morphologischen Korrelats für eine faktische Blindheit bei einer Hirnschädigung aufgegeben, trifft diese Einschätzung nicht zu. Aufgrund einer anderen Aufgabenstellung und Zielsetzung braucht der Begriff der Blindheit im Schwerbehindertenrecht nicht zwangsläufig deckungsgleich zu sein mit dem der Blindheit in einigen Landesblindengeldgesetzen oder bei der Blindenhilfe nach § 72 Abs. 1 und 5 SGB XII (vgl. BSG, Urteil vom 24. Oktober 2019 – B 9 SB 1/18 R –, juris, Rn. 27). Zudem betraf die vorgenannte Entscheidung des Bundessozialgerichts vom 11. August 2015 allein die Auslegung des Bayerischen Blindengesetzes, das nicht die einschränkende Regelung von Teil A Nr. 6. c) VMG enthält, wonach Blindheit bei Ausfall der Sehrinde nur bei Nachweis eines vollständigen Ausfalls vorliegt und bei einer visuellen Agnosie oder anderen gnostischen Störungen ausscheidet. Im Gegensatz zum Bayerischen Blindengeldgesetz stimmt § 1 Abs. 3 Nr. 3 Landesblindengeldgesetz Mecklenburg-Vorpommern (LBIGG M-V) im Übrigen mit Teil A Nr. 6. c) VMG über ein, sodass danach wie in einigen anderen Landesblindengeldgesetzen gnostische Störungen dezidiert ausgeschlossen sind (vgl. BSG, Urteil vom 24. Oktober 2019 – B 9 SB 1/18 R –, juris, Rn. 15).

Unter Berücksichtigung dieser Vorgaben ist der Senat nach Ausschöpfung aller Ermittlungsmöglichkeiten zur vollen Überzeugung gelangt, dass bei der Klägerin die gesundheitlichen Voraussetzungen für die Zuerkennung des Merkzeichens Bl nach Teil A Nr. 6 a) – c) VMG nicht nachgewiesen sind. Insoweit stützt sich der Senat auf die von den Gutachtern Dr. F., Dr. R. und Dr. U. ermittelten Befunde mit Ausnahme ihrer daraus abgeleiteten Schlussfolgerung, das Vorliegen der Voraussetzungen für das Merkzeichen Bl zu bejahen, sowie auf die übrigen Befundunterlagen.

Die Klägerin ist nicht blind im Sinne von Teil A Nr. 6 a) VMG. Sie gehört auch nicht zum Personenkreis mit einer dieser Sehbeeinträchtigung gleichzusetzenden Sehbeeinträchtigung nach Teil A Nr. 6 b) VMG. Denn nach den Feststellungen des augenärztlichen Gutachtens von Dr. F. und den weiteren augenärztlichen Befundunterlagen ergaben sich bei der Untersuchung der Klägerin am rechten Auge eine fokale, fleckförmige Netzhaut-Aderhaut-Atrophie (sogenannte Lakunen) ohne funktionelle Bedeutung und bei beiden Augen eine Unterentwicklung (Hypoplasie) des Sehnervs unklaren Ausmaßes, die möglicherweise ohne funktionelle Konsequenz ist. Pupillenreflexe sind beidseitig vorhanden. Die Klägerin zeigt beidseitige Wahrnehmung von Licht und Abwehr ausschließlich bei grellem Licht. Gegenüber jeglichen sonstigen visuellen Reizen erfolgt hingegen insgesamt keinerlei Reaktion wie z. B. Blickwendung, Fixation, Zwinkern oder Abwehr. Das Sehvermögen ist nicht messbar, weil die Klägerin sichtbare Objekte nicht wahrnimmt und jedenfalls darauf nicht reagiert. Gesichtsfeld und Farbsehen sind nicht messbar. Willkür- und Folgebewegungen sowie binokulares Sehvermögen sind ebenfalls nicht prüfbar. Dies deckt sich mit den von Dr. U. erhobenen Befunden, der im Rahmen seiner kinderpädiatrischen Begutachtung mit Hilfe einer Blitz-VEP-Untersuchung eine zumindest teilweise intakte Sehbahn feststellte. Auch Dr. F. kam bei einer Blitz-VEP-Untersuchung zu einem vergleichbaren Ergebnis. Nach diesen Befunden besteht in Übereinstimmung mit den versorgungsärztlichen Feststellungen von Dr. R., Dr. Brenner und Dr. P. kein morphologisches Korrelat für eine Störung des Sehapparats im Sinne von Teil A Nr. 6 a) und b) VMG. Zusammenfassend kann nach den Feststellungen von Dr. F. und Dr. U. bei der Klägerin bei fehlender Reaktion auf visuelle Reize und fehlender Kommunikationsfähigkeit weder eine Sehschärfe noch die Gesichtsfeldfunktion überprüft werden (vgl. auch BSG, Urteil vom 24. Oktober 2019 – B 9 SB 1/18 R –, juris, Rn. 28 - 30).

Schließlich sind bei der Klägerin auch nicht die Voraussetzungen nach Teil A Nr. 6 c) VMG nachgewiesen. Dr. U. hat in seinem Gutachten insoweit gut nachvollziehbar und überzeugend ausgeführt, dass für eine sichere Beurteilung der Funktion der Sehrinde Musterumkehr-VEP notwendig sind. Diese von ihm durchgeführte Untersuchung ergab, dass bei der Klägerin Musterumkehr-VEP nicht messbar sind. Jedoch ist das Untersuchungsergebnis wegen fehlender Fixation nur eingeschränkt aussagekräftig. Demzufolge ist ein vollständiger Ausfall der Sehrinde im Sinne von Teil A Nr. 6 c VMG wahrscheinlich, jedoch nicht mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nachgewiesen. Diese Feststellung von Dr. U. kann auch auf die Ausführungen von Dr. R. gestützt werden. Dieser gibt an, dass die Schwerstbehinderung der Klägerin sich im Hinblick auf die Reizwahrnehmung offenbar am stärksten auf die visuelle Wahrnehmung im Gegensatz zur Reaktion auf gustatorische, somatosensible und auditive Reize auswirkt, wobei jedoch nicht gesagt werden kann, ob die Störung im Erkennen (Sehzentrum), im Benennen (zerebrale Reizverarbeitung) oder in beidem liegt. Aufgrund der Hirnschädigung erscheint es nicht unwahrscheinlich, aber nicht im naturwissenschaftlichen Sinne beweisbar, dass die Störung der visuellen Wahrnehmung auf der Hirnfehlbildung mit Balkenagenesie, Mikrozephalus und Hydrozephalus beruht. Dieses Ergebnis steht schließlich im Einklang mit dem cranialen MRT der Unimedizin B-Stadt. Diese bildgebende Diagnostik ergab die vorgenannten Hirnfehlbildungen, die auch zur Diagnose des Aicardi-Syndroms führten. Ein vollständiger Ausfall der Sehrinde und somit ein morphologisches Korrelat für eine Rindenblindheit wurde jedoch nicht festgestellt.

Soweit die Gutachter Dr. F., Dr. R. und Dr. U. dennoch das Vorliegen von Blindheit bei der Klägerin bejahen, kann ihnen nicht gefolgt werden, da sie ihre Einschätzung nicht im Einklang mit den Vorgaben für Blindheit nach Teil A Nr. 6 VMG begründen und ihre Schlussfolgerung entgegen Teil B Nr. 4 VMG nicht mit einem morphologischen Befund erklären. Hierauf wird in den von dem Beklagten veranlassten versorgungsärztlichen Stellungnahmen von Dr. R., Dr. Brenner und Dr. P. zu Recht hingewiesen.

So hat Dr. F. die Annahme der Blindheit damit bejaht, dass die Klägerin aufgrund der auf dem MRT der Universitätsmedizin B-Stadt dargestellten Missbildungen des Gehirns unter einer schwersten Sehbehinderung mit Unfähigkeit zu visueller Kontaktaufnahme leide und das Sehvermögen offenbar ohnehin unterhalb der Nachweisgrenze von mindestens 0,02 liege. Obwohl eine Messung der Sehschärfe aus verschiedenen Gründen nicht möglich sei, müsse aus dem Verhalten des Kindes und seiner praktisch vollständigen Nichtreaktion auf optische Stimuli der Schluss gezogen werden, dass eine massive Beeinträchtigung des Sehvermögens bestehe und die Augen außer zur Unterscheidung zwischen Hell und Dunkel nicht imstande seien, weitere visuelle Informationen zu erlangen, was Blindheit bedeute. Damit hat Dr. F. jedoch keinen organischen Befund für eine Blindheit nach Teil A Nr. 6 a) und b) VMG mitgeteilt und ebenso wenig einen vollständigen Ausfall der Sehrinde für eine Blindheit nach Teil A Nr. 6 c) VMG festgestellt. Im Ergebnis belegt Dr. F. nicht, dass der Sehapparat der Klägerin im Sinne von Teil A Nr. 6 VMG gestört ist und ihre nahezu fehlende Reaktion auf visuelle Reize nicht auf gnostischen – neuropsychologischen – Störungen des visuellen Erkennens beruht, was keine Blindheit begründet.

Dieser Einwand greift auch bei der Argumentation von Dr. R. ein, der in Anschluss an Dr. F. – wie bereits dargestellt – der Ansicht ist, dass die Störung der Wahrnehmung visueller Reize zwar naturwissenschaftlich nicht nachweisbar, jedoch wahrscheinlich auf die schwere Hirnfehlbildung mit Balkenagenesie, Mikrozephalus und Hydrozephalus zurückzuführen sei, sodass Blindheit vorliege. Auch diese Einschätzung überzeugt nicht, weil Dr. R. einen vollständigen Ausfall der Sehrinde nicht feststellt, sondern es ausdrücklich für möglich hält, dass die Ursache für die Blindheit allein auf einer gnostischen Störung („Benennen“) beruhen kann, was Blindheit nach Teil A Nr. 6 c) VMG ausschließt.

Hiervon abweichend bejaht Dr. U. eine Blindheit im Sinne von Teil A Nr. 6 a) VMG und stützt seine Schlussfolgerung darauf, dass ein Mensch seine Umgebung zumindest in minimaler Form erfassen müsse, wenn er diese mit einer Sehschärfe von 0,02 bzw. 1/50 wahrnehme. Weil diese Wahrnehmung bei der Klägerin in keiner Weise auch nur angedeutet zu erkennen sei, sei klinisch von Blindheit im Sinne von Teil A Nr. 6 a) VMG auszugehen. Diese Einschätzung überzeugt ebenso wenig, weil auch Dr. U. hierfür keinen Befund bzw. ein morphologisches Korrelat benennt.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.

Gründe, die Revision zuzulassen, liegen nicht vor.



Versorungsmedizinische Grundsätze
in der Fassung der 5. Verordnung zur Änderung der Versorgungsmedizin-Verordnung