Gesamt-GdB für einzelne Funktionssysteme

Die nach A 2e Satz 2 VMG vorgeschriebene zusammengefasste Bewertung von Funktionsbeeinträchtigungen in einem Funktionssystem verbietet es, die hierunter fallenden Behinderungen jeweils mit einem Einzel-GdB im Sinne von A 3a Satz 1 Halbsatz 1 VMG zu bewerten. Vielmehr ist für das gesamte Funktionssystem – hier „Gehirn einschließlich Psyche“ – ein einziger Einzel-GdB zu bestimmen. Zur Bestimmung dieses Einzel-GdB ist in analoger Anwendung des A 3c VMG für das jeweilige Funktionssystem in der Regel von der Funktionsbeeinträchtigung auszugehen, die den höchsten Einsatz-GdB bedingt, und dann im Hinblick auf alle weiteren Funktionsbeeinträchtigungen zu prüfen, ob und inwieweit hierdurch das Ausmaß der Behinderung in diesem Funktionssystem zunimmt.


Landessozialgericht Berlin-Brandenburg 13. Senat
20.12.2018
L 13 SB 303/16
Juris



Tatbestand

Die Beteiligten streiten über die Höhe des bei der Klägerin festzustellenden Grades der Behinderung (GdB).

Den Feststellungsantrag der 1976 geborenen Klägerin vom 14. März 2013 lehnte der Beklagte durch Bescheid vom 17. Juli 2013 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 28. Oktober 2013 mit der Begründung ab, dass bei ihr kein GdB von wenigstens 20 bestehe. Der Beklagte ging hierbei von psychischen Störungen der Klägerin aus, die er mit einem Einzel-GdB von 10 bewertete.

Mit der Klage bei dem Sozialgericht Potsdam hat die Klägerin einen GdB von mindestens 30 begehrt. Mit Schreiben vom 3. Juli 2014 hat der Beklagte erklärt, bei der Klägerin mit Wirkung ab 14. März 2013 einen GdB von 20 festzustellen. Dieses Teilanerkenntnis hat die Klägerin angenommen und den Rechtsstreit im Übrigen fortgeführt. Das Sozialgericht hat neben Befundberichten – unter anderem des Facharztes für Nervenheilkunde Dr. B vom 12. Dezember 2014 und der Fachärztin für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie Dr. V vom 15. Januar 2015 – das Gutachten des Facharztes für Neurologie und Psychiatrie Dr. S vom 24. Januar 2016 mit ergänzender Stellungnahme vom 27. Juni 2016 eingeholt. Der Sachverständige hat nach Untersuchung der Klägerin am 22. Januar 2016 vorgeschlagen, bei ihr einen GdB von 50 festzustellen. Der Sachverständige legte dem folgende Einzelbehinderungen zugrunde:

1. rezidivierende depressive Störung, gegenwärtig mittelgradig, 2. Syndrom der unruhigen Beine.

Das weitere Teilanerkenntnis des Beklagten vom 27. April 2016, bei der Klägerin einen Grad der Behinderung von 30 mit Wirkung ab 22. Januar 2016 festzustellen, hat die Klägerin angenommen und den Rechtsstreit im Übrigen fortgeführt.

Das Sozialgericht Potsdam hat mit Urteil vom 20. Oktober 2016 den Beklagten verpflichtet, bei der Klägerin mit Wirkung ab 10. Juli 2014 (Konsultation bei Dr. B) einen GdB von 30 und mit Wirkung ab dem 7. Oktober 2014 (erste Konsultation bei Dr. V) einen GdB von 50 festzustellen. Der Beklagte hat mit Bescheid vom 30. Dezember 2016 das Urteil des Sozialgerichts Potsdam ausgeführt.

Gegen die Entscheidung des Sozialgerichts hat die Klägerin Berufung eingelegt, mit der sie einen höheren GdB ab 1. Juni 2016 begehrt. Sie hat hierzu das für die Deutsche Rentenversicherung Bund erstattete Gutachten der Fachärztin für Neurologie und Psychiatrie Dr. H vom 28. März 2017 vorgelegt.

Der Senat hat Beweis erhoben durch Einholung des Gutachtens des Facharztes für Neurologie und Psychiatrie Dr. F vom 23. Juni 2018, der nach Untersuchung der Klägerin am 8. Januar 2018 einen GdB von 70 bei der Klägerin empfohlen hat. Der Sachverständige hat folgende Behinderungen festgestellt:

1. schweres Restless-legs-Syndrom (Einzel-GdB von 50), 2. depressiv ängstliches Syndrom (Einzel-GdB von 30), 3. Borderline-Symptomatik (Einzel-GdB von 20), 4. frühe Störung (Einzel-GdB von 20).

Die Klägerin beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Potsdam vom 20. Oktober 2016 zu ändern sowie den Beklagten unter Änderung des Bescheides vom 17. Juli 2013 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 28. Oktober 2013 in der Fassung des Ausführungsbescheides vom 30. Dezember 2016 zu verpflichten, bei der Klägerin mit Wirkung ab dem 1. Juni 2016 einen GdB von mindestens 60 und mit Wirkung ab dem 1. Januar 2018 einen GdB von mindestens 70 festzustellen.

Der Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Dem Senat haben die Verwaltungsvorgänge des Beklagten vorgelegen. Diese waren Gegenstand der mündlichen Verhandlung. Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird Bezug genommen auf die Schriftsätze, das Protokoll und die Verwaltungsvorgänge des Beklagten.


Entscheidungsgründe

Die zulässige Berufung der Klägerin ist nicht begründet.

Die Entscheidung des Sozialgerichts ist nicht zu beanstanden. Denn die Klägerin hat für den Zeitraum ab dem 1. Juni 2016 keinen Anspruch auf Festsetzung eines Gesamt-GdB von mehr als 50.

Nach den §§ 2 Abs. 1, 69 Abs. 1 Sozialgesetzbuch, Neuntes Buch in der bis zum 31. Dezember 2017 geltenden Fassung (SGB IX a.F.) bzw. nach § 152 Abs. 1 Sozialgesetzbuch, Neuntes Buch in der am 1. Januar 2018 in Kraft getretenen Fassung (SGB IX n.F.) sind die Auswirkungen auf die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft nach Zehnergraden abgestuft zu bewerten. Hierbei sind die in der Anlage zur Versorgungsmedizin-Verordnung (VersMedV) vom 10. Dezember 2008 (BGBl. I S. 2412) festgelegten „Versorgungsmedizinischen Grundsätze“ (VMG) heranzuziehen.

Der Senat ist nach dem Ergebnis der Ermittlungen, insbesondere den medizinischen Feststellungen in den Gutachten der Sachverständigen Dr. S vom 24. Januar 2016 und Dr. F vom 23. Juni 2018, nicht zu der Überzeugung gelangt, dass die Behinderungen der Klägerin im Funktionssystem „Gehirn einschließlich Psyche“ einen GdB von mehr als 50 bedingen. Der Bewertung des GdB durch den Gutachter Dr. F, der auf der Grundlage verschiedener Einzel-GdB für das Restless-Legs-Syndrom und für die einzelnen von ihm diagnostizierten psychischen Erkrankungen der Klägerin einen Gesamt-GdB gebildet hat, folgt der Senat nicht. Denn die nach A 2e Satz 2 VMG vorgeschriebene zusammengefasste Bewertung von Funktionsbeeinträchtigungen in einem Funktionssystem verbietet es, die hierunter fallenden Behinderungen jeweils mit einem Einzel-GdB im Sinne von A 3a Satz 1 Halbsatz 1 VMG zu bewerten. Vielmehr ist für das gesamte Funktionssystem – hier „Gehirn einschließlich Psyche“ – ein einziger Einzel-GdB zu bestimmen. Zur Bestimmung dieses Einzel-GdB ist in analoger Anwendung des A 3c VMG für das jeweilige Funktionssystem in der Regel von der Funktionsbeeinträchtigung auszugehen, die den höchsten Einsatz-GdB bedingt, und dann im Hinblick auf alle weiteren Funktionsbeeinträchtigungen zu prüfen, ob und inwieweit hierdurch das Ausmaß der Behinderung in diesem Funktionssystem zunimmt.

Im Funktionssystem „Gehirn einschließlich Psyche“ ist bei der Klägerin das Restless-Legs-Syndrom führend. Es erfordert vorliegend die Bewertung mit einem Einsatz-GdB von 50. Nach der Rechtsprechung des Senats (vgl. Urteil vom 15. Januar 2015 – L 13 SB 52/11 –, Rn. 17 bei juris) sind bei der Bewertung des Restless-Legs-Syndrom die Vorgaben in B 3.1.2 VMG für Hirnschäden mit isoliert vorkommenden bzw. führenden Syndromen heranzuziehen. Zwar wird dort das Restless-Legs-Syndrom nicht ausdrücklich in der Reihe der beispielhaft genannten Krankheiten aufgeführt. Genannt werden Hirnschäden mit psychischen Störungen, zentrale vegetative Störungen als Ausdruck eines Hirndauerschadens, Koordinations- und Gleichgewichtsstörungen, Hirnschäden mit kognitiven Leistungsstörungen, zerebralbedingte Teillähmungen und Lähmungen, das Parkinsonsyndrom und epileptische Anfälle. Jedoch sind „andere extrapyramidale Syndrome“, zu denen auch das Restless-Legs-Syndrom zählt, analog nach Art und Umfang der gestörten Bewegungsabläufe und der Möglichkeit ihrer Unterdrückung zu bewerten. Diese beispielhaften Aufführungen von Auswirkungen der Hirnschäden von isoliert vorkommenden bzw. führenden Syndromen unterscheiden der Sache nach sämtlich zwischen leichten, mittelgradigen und schweren Störungen und konkretisieren hierbei die in B 3. VMG1.1 genannten Grundsätze der Gesamtbewertung von Hirnschäden.

Der Senat ist zu der Überzeugung gelangt, dass das Restless-Legs-Syndrom bei der Klägerin bereits zu mittelschweren Leistungsbeeinträchtigungen führt. Denn nach den gutachterlichen Feststellungen beeinträchtigt das Restless-Legs-Syndrom am Tag die Aufmerksamkeit und Konzentrationsfähigkeit, da die Erkrankung vorliegend infolge einer überwiegend episodisch auftretenden Schmerzbelastung im Bereich der Beine und unwillkürlicher Beinbewegungen zu einer erheblichen Störung des Nachtschlafs und konsekutiv einer Beeinträchtigung des Wohlbefindens am Folgetag führt. Analog zu der Bewertung des Schlaf-Apnoe-Syndroms bei nicht durchführbarer nasaler Überdruckbeatmung (B 8.7 VMG) ist ein Einzel-GdB von 50 angemessen. Da der Sachverständige Dr. F keine die Funktionsbeeinträchtigungen betreffenden Veränderungen des Gesundheitszustandes der Klägerin im streitgegenständlichen Zeitraum hat feststellen können, verbieten sich zeitliche Differenzierungen der Höhe des Einzel-GdB.

Daneben leidet die Klägerin an stärker behindernden psychischen Störungen mit wesentlicher Einschränkung der Erlebnis- und Gestaltungsfähigkeit im Sinne von B 3.7 VMG. Bei ihr bestehen nach den gutachterlichen Feststellungen depressive Störungen, die – wie der Sachverständige Dr. S ausführlich und überzeugend dargelegt hat – einerseits nicht lediglich leicht ausgeprägt sind, andererseits noch nicht zu mittelgradigen sozialen Anpassungsschwierigkeiten führen. Nach den Feststellungen des Sachverständigen Dr. F liegen bei der Klägerin auch eine Borderline-Symptomatik und – in Anlehnung an die Diagnose der Gutachterin im rentenrechtlichen Verfahren Dr. H – eine frühe Störung der Persönlichkeit vor. Entgegen dem Vorschlag des Sachverständigen Dr. F ist im Hinblick auf diese Behinderungen keine Erhöhung des Einzel-GdB im Funktionssystem „Gehirn einschließlich Psyche“ angezeigt. Denn bei der Bildung des GdB ist nicht auf die Diagnosen der verschiedenen Erkrankungen, sondern auf die aus den Behinderungen folgenden Teilhabebeeinträchtigungen abzustellen. Relevante Auswirkungen der psychischen Erkrankungen der Klägerin auf deren Teilhabe am Leben in der Gesellschaft, die maßgeblich über die Folgen des Restless-Legs-Syndrom hinausgingen oder es verstärkten – und deshalb eine Erhöhung des Einsatz-GdB notwendig machten – ergeben sich aus den medizinischen Unterlagen, insbesondere den gutachterlichen Feststellungen, nicht. Vielmehr sind die Auswirkungen der aus den psychischen Leiden folgenden Funktionsbeeinträchtigungen in allen Lebensbereichen (vgl. A 2a Satz 2 VMG) nach der Überzeugung des Senats in dem für das Restless-Legs-Syndrom anzusetzenden Einsatz-GdB von 50 mit abgebildet.

Dieser hiernach für das Funktionssystem „Gehirn einschließlich Psyche“ zu bildende Einzel-GdB von 50 stellt mangels weiterer Behinderungen bei der Klägerin den Gesamt-GdB dar.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG. Sie berücksichtigt den Ausgang des Rechtsstreits.

Die Voraussetzungen für die Zulassung der Revision (§ 160 Abs. 2 SGG) sind nicht erfüllt.



Versorungsmedizinische Grundsätze
in der Fassung der 5. Verordnung zur Änderung der Versorgungsmedizin-Verordnung