Die Verbesserung des Sprachverständnisses und der Artikulationsfähigkeit durch CI-Versorgung kann trotz beidseitiger Taubheit eine Herabsenkung des Grads der Behinderung (GdB) auf 80 rechtfertigen.


Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen 5. Senat
31.08.2016
L 5 SB 103/15
Juris



Tatbestand

Die Klägerin wendet sich gegen eine von dem Beklagten nach § 48 Sozialgesetzbuch Zehntes Buch - Sozialverwaltungsverfahren und Sozialdatenschutz - (SGB X) vorgenommene Neufeststellung des Grades der Behinderung (GdB) für die Zeit ab dem 1. Mai 2013.

Die Klägerin ist seit ihrer Geburt am 5. Juni 1993 beidseitig taub. Bereits 1993 erhielt sie ein Cochlea-Implantat (CI) für das rechte Ohr (Befundbericht Dr. B. vom 6. Februar 2001). Mit Bescheid vom 2. Februar 1996 stellte der Beklagte mit der Funktionsbeeinträchtigung „Taubheit beidseits“ unter anderem einen GdB von 100 ab Geburt am 5. Juni 1993 fest. Mit Bescheid vom 5. Mai 2009 hob der Beklagte den Bescheid vom 2. Februar 1996 auf und stellte unter anderem mit der Funktionsbeeinträchtigung „Taubheit beiderseits“ einen GdB von (erneut) 100 fest.

Nachdem im November 2011 eine Versorgung auch des linken Ohrs mit einem CI erfolgt war (Bericht der Medizinischen Hochschule F. (G.) vom 30. Dezember 2011), holte der Beklagte eine Stellungnahme des H. Berufskollegs I. vom 6. März 2013 ein, wonach die Klägerin im Schuljahr 2012/2013 die Klasse 11 des AHR-Bildungsganges im Schwerpunkt Wirtschaftswissenschaften besuche und ihre Aussprache verständlich und der Wortschatz altersgerecht sei. Daraufhin empfahl die HNO-Ärztin Dr. J. am 13. März 2013, aufgrund des guten Spracherwerbs eine Herabsetzung des GdB auf 80 vorzunehmen. Nach dem Bericht der G. verstünde die Klägerin auch ohne Mundbild zunehmend besser, so dass im Freiburger Sprachtest eine Einsilbenverständlichkeit von 75% binaural erreicht werde. Der Beklagte hob sodann nach Anhörung der Klägerin mit Bescheid vom 29. April 2013 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 26. Juni 2013 den Bescheid vom 5. Mai 2009 insoweit auf, als der GdB ab dem 1. Mai 2013 mit 80 festzustellen sei. Die Entscheidung stütze sich auf die Funktionsbeeinträchtigung „Taubheit beidseits mit Cochleaimplantatversorgung beidseits“. In den Verhältnissen sei insoweit eine Änderung eingetreten, als durch das CI nunmehr ein guter Spracherwerb vorläge. Die Auswertung der Unterlagen habe ergeben, dass die Aussprache verständlich und der Wortschatz altersgerecht sei.

Die Klägerin hat am 24. Juli 2013 Klage zum Sozialgericht (SG) Braunschweig erhoben und trägt vor, dass weiterhin eine 100%ige Taubheit vorläge und das CI als Hilfsmittel das Funktionsdefizit der beidseitigen Taubheit nicht behebe. Zudem sei zu berücksichtigen, dass es diverse Situationen gebe, in denen das CI abgelegt werden müsse; z.B. in der Badewanne, beim Duschen, im Schwimmbad und nachts. Ihr sei es auch aufgrund vorhandener Störgeräusche nicht möglich, ein Telefonat mit dem CI zu führen. Die Klägerin hat das Abgangszeugnis des H. Berufskollegs I. aus Juni 2013 und einen Ausdruck der Homepage www.schwerhoerigenforum.de eingereicht und der Beklagte hat einen Auszug aus einem Schreiben des Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) vom 15. Dezember 2008 zum Beschluss des Ärztlichen Sachverständigenbeirates Versorgungsmedizin beim BMAS von dessen Sitzung am 6. und 7. November 2008 zur Taubheit bei CI-Versorgung eingereicht. Das SG Braunschweig hat einen Befundbericht von dem Facharzt für Hals-Nasen- Ohrenheilkunde Dr. K. vom 10. Februar 2014 und von Prof. Dr. L. von der G. vom 23. Mai 2014 eingeholt.

Mit Urteil vom 17. Juni 2015 hat das SG Braunschweig die Klage abgewiesen. Zwar habe sich die zugrundeliegende Taubheit nicht geändert, jedoch habe sich die Sprachentwicklungsstörung nach den vorliegenden Unterlagen erheblich verbessert. Danach sei - auch unter Berücksichtigung der Einschätzung des ärztlichen Sachverständigenbeirats Versorgungsmedizin vom 6. und 7. November 2008 - von einem GdB von 80 auszugehen. Weil der Klägerin die Merkzeichen „GL“ (Gehörlosigkeit), „H“ (Hilfslosigkeit) und „RF“ (Befreiung von der Rundfunkgebührenpflicht) verblieben, werde die Funktionsbeeinträchtigung „beidseitige Taubheit“ unter Berücksichtigung des GdB von 80 angemessen berücksichtigt.

Die Klägerin hat gegen das ihr am 28. Juli 2015 zugestellte Urteil des SG Braunschweig am 19. August 2015 unter Wiederholung und Vertiefung ihres erstinstanzlichen Vorbringens Berufung zum Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen eingelegt.

Sie beantragt nach ihrem schriftsätzlichen Vorbringen sinngemäß,

1. das Urteil des SG Braunschweig vom 17. Juni 2015 - S 8 SB 385/13 - aufzuheben und

2. den Bescheid des Beklagten vom 29. April 2013 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 26. Juni 2013 aufzuheben.

Der Beklagte hält seine Entscheidung für rechtmäßig und beantragt nach seinem schriftsätzlichen Vorbringen,

die Berufung zurückzuweisen.

Die Beteiligten sind zu der beabsichtigten Entscheidung durch Beschluss gemäß § 153 Abs. 4 Sozialgerichtsgesetz (SGG) angehört worden.

Hinsichtlich des weiteren Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichtsakte (Blatt 1 bis 115) und die beigezogene Verwaltungsakte des Beklagten (Bl. 1 bis 129) ergänzend Bezug genommen. Sie sind Gegenstand der Entscheidung gewesen.


Entscheidungsgründe

Der Senat hat über die Berufung gemäß § 153 Abs. 4 SGG durch Beschluss entschieden, weil er sie einstimmig für unbegründet und eine mündliche Verhandlung nicht für erforderlich hält und kein Fall des § 105 Abs. 2 Satz 1 SGG (erstinstanzliche Entscheidung durch Gerichtsbescheid) vorliegt.

Die zulässige Berufung ist unbegründet. Das SG Braunschweig hat die zulässige Klage zu Recht als unbegründet abgewiesen.

Dabei geht der Senat im Rahmen der §§ 153 Abs. 1, § 106 Abs. 1 SGG abweichend zu dem SG Braunschweig davon aus, dass es sich vorliegend um eine isolierte Anfechtungsklage im Sinne des § 54 Abs. 1 Satz 1 1. Alt. SGG handelt. Denn im Falle des Erfolges der isolierten Anfechtungsklage würde mit der Aufhebung des Bescheides vom 29. April 2013 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 26. Juni 2013 der Bescheid vom 2. Februar 1996, mit dem ein GdB von (erneut) 100 festgestellt wurde, wieder aufleben und die Klägerin hätte ihr Klagebegehren bereits hierdurch erreicht. Für einen von der Klägerin im erstinstanzlichen Verfahren gestellten und im zweitinstanzlichen Verfahren erneut angekündigten weitergehenden Verpflichtungsantrag würde es danach an dem hierfür erforderlichen Rechtsschutzbedürfnis fehlen.

Die danach vorliegende Anfechtungsklage ist unbegründet, weil der Bescheid des Beklagten vom 29. April 2013 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 26. Juni 2013 rechtmäßig ist. Der Beklagte war gemäß § 48 SGB X berechtigt, den Verwaltungsakt mit Dauerwirkung vom 5. Mai 2009 mit Wirkung für die Zukunft ab dem 1. Mai 2013 aufzuheben, weil in den tatsächlichen Verhältnissen, die bei seinem Erlass vorgelegen haben, eine wesentliche Änderung eingetreten ist.

Eine wesentliche Änderung der Verhältnisse, die zu einer Neubemessung des GdB berechtigt, liegt nach den Versorgungsmedizinischen Grundsätzen (VMG) Teil A Nr. 7 vor, wenn der veränderte Gesundheitszustand mehr als sechs Monate angehalten hat und die Änderung des GdB wenigstens 10 beträgt. Nach den VMG Teil B Nr. 5.1 ist u.a. eine angeborene Taubheit mit schwerer Störung des Spracherwerbs in der Regel lebenslang mit einem GdB von 100 zu bewerten. Nach dem bereits erstinstanzlich durch den Beklagten in das Klageverfahren eingebrachten Beschluss des Ärztlichen Sachverständigenbeirates Versorgungsmedizin beim BMAS auf seiner Sitzung am 6. und 7. November 2008 (vgl. zur Heranziehung der Beschlüsse des Ärztlichen Sachverständigenbeirats Versorgungsmedizin beim BMAS: Bundessozialgericht, Urteil vom 11. Dezember 2008 - B 9/9a SB 4/07 R -, juris Rn. 14 f bei Diabetes Mellitus; Urteil vom 23. April 2009 - B 9 VG 1/08 R -, juris Rn. 43 zu schizophrenen Residualzuständen) sind die 1998 und 2005 veröffentlichten Beiratsbeschlüsse zur CI-Versorgung nicht mehr anwendbar (vgl. auch Wendler / Schillings, VMG, 6. Auflage 2012, S. 161). Aufgrund der vorliegenden Erfahrungen mit einer CI-Versorgung bei Menschen mit angeborener Taubheit ist je nach Ausmaß des Spracherwerbs ein GdB von 80 bis 100 als Ausnahme zu dem „in der Regel“ anzunehmenden GdB von 100 gerechtfertigt. Durch die VMG Teil B Nr. 5.1 und den Beschluss des Ärztlichen Sachverständigenbeirates Versorgungsmedizin beim BMAS aus dem Jahr 2008 kommt unmissverständlich zum Ausdruck, dass nicht allein das Kriterium der Taubheit, sondern auch die sich aus der jeweiligen Störung des Spracherwerbs resultierende Funktionsbeeinträchtigung Ausfluss auf die Höhe des GdB hat. Der in medizinischer Hinsicht zutreffende Hinweis der Klägerin, dass die CI-Versorgung keinen Ausfluss auf die bei ihr vorliegende beiderseitige Taubheit hat, läuft danach ins Leere. Vielmehr kommt es auf eine einheitliche Betrachtung der sich aus der Taubheit und der jeweiligen Sprachstörung ergebenden Funktionsbeeinträchtigung an.

Unter Beachtung dieser Maßgabe ist dahingehend eine wesentliche Änderung in den Verhältnissen eingetreten, dass bei der Klägerin im November 2011 auch eine Versorgung des linken Ohrs mit einem CI erfolgt ist (vgl. Bericht der G. vom 30. Dezember 2011) und hierdurch eine Veränderung in Bezug auf die Sprachstörung der Klägerin eingetreten ist. Nach der von dem Beklagten im Verwaltungsverfahren eingeholten Stellungnahme des H. Berufskollegs I. vom 6. März 2013 war die Artikulation der Klägerin in dem vorliegend entscheidungserheblichen Zeitpunkt im Juni 2013 verständlich und ihr Wortschatz altersgerecht entwickelt. Die HNO-Ärztin Dr. J. kommt danach und unter Berücksichtigung des Berichts der G. vom 30. Dezember 2011 für den Senat in sich schlüssig und nachvollziehbar zu dem Ergebnis, dass eine Herabsetzung des GdB auf 80 vorzunehmen ist, weil die Klägerin auch ohne Mundbild zu- nehmend besser versteht, so dass im Freiburger Sprachtest eine Einsilbenverständlichkeit von 75% binaural erreicht wurde. Hiermit im Einklang steht der im gerichtlichen Verfahren eingeholte Befundbericht von Dr. K. vom 10. Februar 2014, wonach durch die CI-Versorgung ein offenes Sprachhörverstehen erreicht worden ist. Dieses rechtfertigt im Einklang mit den VMG Teil B Nr. 5.1 und dem Beschluss des Ärztlichen Sachverständigenbeirates Versorgungsmedizin beim BMAS aus dem Jahr 2008 eine Herabsenkung des GdB auf 80.

Der Beklagte bewegt sich bei der entsprechend getroffenen Einschätzung des GdB innerhalb des vorgegebenen Bewertungsrahmens. Gründe, die es rechtfertigen, einen GdB von 90 oder trotzt CI-Versorgung gleichwohl von 100 allein aufgrund der beiderseitigen Taubheit anzunehmen, sind nicht ersichtlich und wurden von der Klägerin auch nicht vorgetragen. Der Umstand, dass es Situationen gebe, in denen das CI abgelegt werden müsse (z.B. in der Badewanne, beim Duschen, im Schwimmbad und nachts) und es der Klägerin aufgrund vorhandener Störgeräusche nicht möglich sei, ein Telefonat mit dem CI zu führen, betreffen auch alle anderen Personen, die eine CI-Versorgung haben und führen für sich alleine genommen zu keiner anderen Bewertung des GdB.

Dass - wie die HNO-Ärztin Dr. J. in ihrer Stellungnahme vom 13. März 2013 festgestellt hat - im hier entscheidungserheblichen Zeitpunkt im Juni 2013 ein offenes Sprachhörverstehen erreicht worden ist und die Artikulation der Klägerin verständlich und ihr Wortschatz altersgerecht entwickelt war, ist für den Senat nach den vorliegenden Unterlagen, ärztlichen Stellungnahmen und Befundberichten gesichert und wird von der Klägerin auch nicht angegriffen. Danach hat es auch nicht der Einholung eines Gutachtens zur Sprachentwicklungsstörung (nach Aktenlage zum entscheidungserheblichen Zeitpunkt im Juni 2013) bedurft (in diese Richtung gehend jedoch der Hinweis von Prof. Dr. L. in ihrem Befundbericht vom 23. Mai 2014).

Soweit die Klägerin auf einen Ausdruck der Homepage www.schwerhoerigenforum.de verweist, werden dort („… (und das lebenslang)“) nicht die aufgezeigten Vorgaben der VMG Teil B Nr. 5.1 „…(schwere Störung des Spracherwerbs, in der Regel lebenslang).“ berücksichtigt und es fehlt an einer Auseinandersetzung mit dem Beschluss des Ärztlichen Sachverständigenbeirates Versorgungsmedizin beim BMAS aus dem Jahr 2008.

Weitere Funktionsbeeinträchtigungen, die zu einer Erhöhung des GdB führen könnten, sind weder aus den vorliegenden Unterlagen ersichtlich noch wurden sie von den Beteiligten vorgetragen.

Die weiteren Voraussetzungen des § 48 SGB X, insbesondere die Frist zur Aufhebung nach §§ 48 Abs. 4, 45 Abs. 4 Satz 1 letzter Halbsatz SGB X sind erfüllt, denn mit der Stellungnahme des H. Berufskollegs I. vom 6. März 2013 lagen alle entscheidungserheblichen Informationen vor und die Bescheidaufhebung für die Zukunft erfolgte nach Anhörung gemäß § 24 SGB X innerhalb der Jahresfrist im April 2013.

Die Entscheidung über die Kosten folgt aus § 193 SGG.

Ein Grund, die Revision gemäß § 160 Abs. 2 SGG zuzulassen, liegt nicht vor.



Versorungsmedizinische Grundsätze
in der Fassung der 5. Verordnung zur Änderung der Versorgungsmedizin-Verordnung