Schwerbehindertenausweis mittels einstweiliger Anordnung
Hat die Versorgungsverwaltung durch Bescheid einen GdB von 50 festgestellt, so hat der Schwerbehinderte einen Anspruch aus § 152 Abs. 5 S. 1 SGB IX auf Ausstellung eines Schwerbehindertenausweises.
Die spätere Aufhebung dieser zuerkennenden Entscheidungen durch weiteren Bescheid ändert hieran solange nichts, wie gegen den weiteren Bescheid ein Widerspruchs- oder ein Klageverfahren anhängig ist.
Weigert sich die Behörde während dieses Verfahrens, einen Schwerbehindertenausweis auszustellen oder zu verlängern, kann der entsprechende Anspruch gegebenenfalls auch im Rahmen eines Verfahrens auf einstweilige Anordnung geltend gemacht werden.
Auf die Beschwerde des Antragstellers wird der Beschluss des Sozialgerichts Köln vom 17.02.2020 geändert und der Antragsgegner im Wege einstweiliger Anordnung verpflichtet, dem Antragsteller einen Ausweis über die Eigenschaft als schwerbehinderter Mensch für die Zeit bis zum 30.04.2021 auszustellen. Der Antragsgegner trägt die notwendigen außergerichtlichen Kosten des Antragstellers in beiden Rechtszügen.
Die Beschwerde ist im Wesentlichen begründet, so dass der angefochtene Beschluss abzuändern war.
1. Nach § 86b Abs. 2 Satz 2 SGG sind einstweilige Anordnungen zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint. Der Erlass einer einstweiligen Anordnung setzt das Bestehen eines Anordnungsanspruchs und eines Anordnungsgrundes voraus. Ein Anordnungsanspruch ist glaubhaft gemacht, wenn der Antragsteller das Bestehen eines Rechtsverhältnisses glaubhaft macht, aus dem er eigene Ansprüche ableitet. Maßgeblich sind grundsätzlich die Erfolgsaussichten der Hauptsache (vgl. nur Keller, in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 12. Aufl., 2014, § 86b Rn. 27 ff. m.w.N. aus der Rspr.). Ein Anordnungsgrund ist grundsätzlich nur gegeben, wenn der Antragsteller glaubhaft macht, dass ihm unter Berücksichtigung der widerstreitenden öffentlichen Belange ein Abwarten bis zur Entscheidung der Hauptsache nicht zuzumuten ist.
Diese Voraussetzungen sind hier erfüllt. Randnummer4 a) Gegenstand dieses Verfahrens ist nicht die (bereits erfolgte) Feststellung eines GdB, sondern vielmehr allein der aus einer solchen Feststellung gemäß § 152 Abs. 5 Satz 1 SGB IX resultierende Anspruch auf Ausstellung eines Schwerbehindertenausweises. Bei dem Ausweis handelt es sich nicht um einen Verwaltungsakt i.S.d. § 31 Satz 1 SGB X (vgl. LSG Niedersachsen-Bremen, Urteil v. 21.04.2016 - L 10 SB 87/15, juris Rn. 21 ff.), sondern "nur" um eine öffentliche Urkunde nach § 415 ZPO, deren Erteilung in der Hauptsache im Wege der allgemeinen Leistungsklage (§ 54 Abs. 5 SGG) geltend zu machen ist.
b) Der Antragsteller hat einen Anordnungsanspruch glaubhaft gemacht. Nach § 152 Abs. 5 SGB IX stellen die zuständigen Behörden auf Antrag des behinderten Menschen auf Grund einer Feststellung der Behinderung einen Ausweis über die Eigenschaft als schwerbehinderter Mensch, den Grad der Behinderung sowie im Falle des § 152 Abs. 4 SGB IX über weitere gesundheitliche Merkmale aus (Satz 1). Der Ausweis dient dem Nachweis für die Inanspruchnahme von Leistungen und sonstigen Hilfen, die schwerbehinderten Menschen nach diesem Teil oder nach anderen Vorschriften zustehen (Satz 2). Die Gültigkeitsdauer des Ausweises soll befristet werden (Satz 3). Er wird eingezogen, sobald der gesetzliche Schutz schwerbehinderter Menschen erloschen ist (Satz 4). Der Ausweis wird berichtigt, sobald eine Neufeststellung unanfechtbar geworden ist (Satz 5).
Der Ausweis dient dem Nachweis für die Inanspruchnahme von Rechten und Nachteilsausgleichen, die schwerbehinderten Menschen nach dem SGB IX oder nach anderen Regelungen zustehen. Mit dem Verweis auf andere Vorschriften außerhalb des SGB IX bindet der Gesetzgeber auch Dritte an den Inhalt des Schwerbehindertenausweises, der damit zur öffentlichen Urkunde (§ 415 ZPO) wird, die eine Behörde innerhalb der Grenzen ihrer Befugnisse ausstellt und eine behördliche Erklärung i.S.v. § 417 ZPO enthält. Als öffentliche Urkunde erbringt der Schwerbehindertenausweis den vollen Beweis seines Inhalts gegenüber Dritten. Der Ausweis beweist, dass die zuständige Behörde die im Ausweis gekennzeichneten Entscheidungen getroffen hat. Die Bindungswirkung und Beweisfunktion erstreckt sich auf die gesamte Gültigkeitsdauer des Schwerbehindertenausweises. Der Ausweis ist erst einzuziehen, wenn eine Neufeststellung unanfechtbar geworden und der gesetzliche Schutz für schwerbehinderte Menschen erloschen ist (zum Ganzen: BSG, Urteil v. 11.05.2011 - B 5 R 56/10 R, Rn. 25 m.w.N.). Randnummer7 aa) Nach Maßgabe dieser Voraussetzungen hat der Antragsteller gegen den Antragsgegner einen (gebundenen) Anspruch aus § 152 Abs. 5 Satz 1 SGB IX auf Ausstellung eines Schwerbehindertenausweises, nachdem der Antragsgegner im Widerspruchsverfahren mit (Abhilfe-)Bescheid vom 09.10.2019 einen GdB von 50 festgestellt hat. Ob diese Feststellung zu Recht oder Unrecht erfolgt ist, ist im vorliegenden Zusammenhang unerheblich, weil dem Antragsteller allein aus der positiven Feststellung der Schwerbehinderung ein Anspruch auf Ausstellung des Ausweises erwächst. Randnummer8 bb) Ebenso wenig steht die mit Bescheid vom 31.01.2020 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 03.03.2020 ausgesprochene Rücknahme des Bescheides vom 09.10.2020 dem aus § 152 Abs. 5 Satz 1 SGB IX resultierenden Anspruch auf Ausstellung eines Schwerbehindertenausweises entgegen. Denn der vom Antragsteller eingelegte Widerspruch hat(te) ebenso aufschiebende Wirkung wie die nach Erlass des Widerspruchsbescheides bei dem SG Köln erhobene und unter dem Az.: S 39 SB 455/20 geführte Klage (§ 86a Abs. 1 Satz 1 SGG). Der sonach eingetretene Suspensiveffekt führt hier dazu, dass zunächst weiter nach dem zurückgenommenen Bescheid vom 09.10.2020 - der wiederum quasi den Rechtsgrund für den geltend gemachten Anspruch darstellt - zu verfahren ist (vgl. z.B. Keller, in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 12. Aufl., 2014, § 86a Rn. 5). Randnummer9 c) Auch ein Anordnungsgrund ist glaubhaft gemacht. Der Senat geht zwar nicht davon aus, dass die Weigerung des Antragsgegners, den Ausweis auszustellen, zu einer gegenwärtigen Notlage bei dem Antragsteller führt. Der Senat lässt auch ausdrücklich offen, ob geringere Anforderungen an die Glaubhaftmachung des Anordnungsgrundes zu stellen sind, wenn die Erfolgsaussichten der Hauptsache groß oder offensichtlich sind. Für die Annahme eines Anordnungsgrundes spricht hier jedoch, dass der Antragsgegner letztlich nicht den durch Widerspruch und Klage eingetretenen Suspensiveffekt beachtet hat, so dass sich die Ablehnung im Ergebnis wie eine "faktische Vollziehung" des aufgrund eingelegter Rechtsmittel noch nicht bestandskräftigen Rücknahmebescheides auswirkt. Dem konnte in der hier vorliegenden Konstellation nur durch den Erlass einer einstweiligen Anordnung begegnet werden.
d) Der Senat hielt die Befristung des Schwerbehindertenausweises für die Zeit bis zum 30.04.2020 im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes für ausreichend (§ 86b Abs. 2 Satz 4 SGG i.V.m. § 938 Abs. 1 ZPO).
2. Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung des § 193 SGG.
3. Der Beschluss ist nicht mit der Beschwerde anfechtbar (§ 177 SGG).