Der Nachteilsausgleich "aG" steht Behinderten nicht zu, die wegen eines Anfallsleidens oder wegen Störungen der Orientierungsfähigkeit zwar nur unter Aufsicht gehen können, aber nicht auf einen Rollstuhl angewiesen sind (Bestätigung und Fortführung von BSG vom 29.1.1992 - 9a RVs 4/90).
Bei dem 1985 geborenen Kläger sind als Behinderungen nach dem Schwerbehindertengesetz (SchwbG) mit einem Grad der Behinderung (GdB) von 80 ein cerebrales Anfallsleiden und eine psychomotorische Retardierung mit Verhaltensstörung festgestellt, außerdem die gesundheitlichen Merkmale für die Nachteilsausgleiche "G", "B", "H" und "RF", nicht aber für "aG" (außergewöhnliche Gehbehinderung), weil die Gehfähigkeit als solche nicht beeinträchtigt sei (Bescheid vom 25. April 1992, Widerspruchsbescheid vom 16. Juni 1992).
Das Sozialgericht (SG) hat den Beklagten verurteilt, die gesundheitlichen Voraussetzungen für das Merkzeichen "aG" festzustellen. Der Kläger sei zwar nicht außergewöhnlich gehbehindert im eigentlichen Sinne, aufgrund seiner Behinderung aber im Straßenverkehr unmittelbar an Leben und Gesundheit gefährdet, weil er sich unvorhersehbar und nicht koordinierbar bewege. Deshalb müsse er überwacht und geführt werden. Die Führung falle der Begleitperson - seiner Mutter - mit wachsenden Körperkräften des Klägers immer schwerer. Allein das Merkzeichen "aG" könne diese Nachteile durch Verkürzung der Wege infolge bevorrechtigten Parkens ausgleichen (Gerichtsbescheid des SG Itzehoe vom 29. Juli 1993). Das Landessozialgericht (LSG) hat diese Entscheidung aufgehoben und die Klage abgewiesen. Die Gehfähigkeit des Klägers sei nicht eingeschränkt. Er sei allerdings zunehmend schwerer vor einer Selbstgefährdung durch unkontrolliertes Verhalten im Straßenverkehr zu schützen. Zum Ausgleich dieses Nachteils diene aber das Merkzeichen "aG" nicht; es ziele auf einen gewissen Ausgleich der mit der Gehbeeinträchtigung im eigentlichen und ausschließlichen Sinne verbundenen Erschwernisse ab (Urteil vom 11. März 1994).
Mit der vom LSG zugelassenen Revision rügt der Kläger die Verletzung materiellen Schwerbehindertenrechts. Das LSG habe verkannt, daß die für das Merkzeichen "aG" vorausgesetzte Unfähigkeit zum Gehen auch dann vorliegen könne, wenn zwar der Bewegungsapparat intakt sei, eine hirnorganische Erkrankung das Gehen als kontrollierte und zielgerichtete Fortbewegung im Straßenverkehr aber unmöglich mache. So liege es beim Kläger. Er könne gehen, wolle aber wegen seiner Behinderung entweder nicht gehen oder könne sich nur unkontrolliert und deshalb sich selbst und andere gefährdend bewegen.
Der Kläger beantragt,
das Urteil des Schleswig-Holsteinischen Landessozialgerichts vom 11. März 1994 aufzuheben und die Berufung des Beklagten gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Itzehoe vom 29. Juli 1993 zurückzuweisen.
Der Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Er hält das angegriffene Urteil für richtig.
Die Revision ist unbegründet. Der Kläger hat, wie vom LSG zu Recht entschieden, keinen Anspruch auf Feststellung des Nachteilsausgleichs "aG".
Nach dem Schwerbehindertenrecht hat das Versorgungsamt die Voraussetzungen für diesen Nachteilsausgleich festzustellen (§ 4 Abs 4 SchwbG) und das Merkzeichen "aG" in den Schwerbehindertenausweis einzutragen (§ 3 Abs 1 Nr 1 Ausweisverordnung Schwerbehindertengesetz
Der Kläger gehört nicht zu diesem Personenkreis. Seine Gehfähigkeit ist nicht wesentlich beeinträchtigt. Er kann - außer bei Anfällen - trotz seiner Leiden Beine und Füße gebrauchen. Das hat das LSG unangegriffen und deshalb für den Senat bindend (§ 163 Sozialgerichtsgesetz
Der Kläger kann dem in der VV zu § 46 StVO im einzelnen genannten Personenkreis auch nicht gleichgestellt werden. Der Senat hat bereits entschieden, daß weder Orientierungsstörungen (BSG SozR 3870 § 3 Nr 18) noch zeitweise Anfälle (BSG, Urteil vom 29. Januar 1992 - 9a RVs 4/90 - br 1992, 91) den Anspruch auf "aG" begründen. Die Auswirkungen der beim Kläger vorliegenden Gesundheitsstörungen mögen zwar vergleichbar sein mit denen eines Doppelunterschenkelamputierten oder anderer in der VV ausdrücklich genannter Schwerbehinderter. Als Fußgänger im innerörtlichen Straßenverkehr kann der Kläger sich sogar auf kurzen Wegstrecken nicht selbständig bewegen. Auf diese allgemeine Vergleichbarkeit kommt es für den Nachteilsausgleich "aG" aber nicht an. Entscheidend ist, daß die Auswirkungen funktionell gleichzuachten sind. Der Leidenszustand muß also ebenfalls wegen einer außergewöhnlichen Behinderung beim Gehen die Fortbewegung auf das schwerste einschränken (BSG SozR 3870 § 3 Nrn 11 und 18). Daran fehlt es beim Kläger. Wohl kann er nicht selbständig gehen, ohne sich und andere Verkehrsteilnehmer an Leib und Leben zu gefährden. Die gewünschte Parkerleichterung wäre ihm aber keine Hilfe, sein Ziel ungefährdet zu erreichen. Auch auf dem verkürzten Weg müßte er überwacht und geleitet werden. Die durch den Nachteilsausgleich "aG" vermittelten Parkvergünstigungen würden allerdings der Begleitperson ihre Aufgabe erleichtern, weil sie den Kläger nur auf einem verkürzten Weg zu überwachen und zu leiten hätte. Das ist aber nicht Sinn dieses Nachteilsausgleichs. Er soll allein die neben der Kraftfahrzeugbenutzung unausweichliche Wegstrecke für Schwerbehinderte abkürzen, die sich nur mit außergewöhnlicher und großer Anstrengung zu Fuß fortbewegen können. Dies bedeutet zugleich, daß der Personenkreis eng zu fassen ist. Denn mit der Ausweitung des Personenkreises steigt nicht nur die Anzahl der Benutzer, einer Entwicklung, der an sich mit einer Vermehrung entsprechender Parkplätze begegnet werden könnte. Mit jeder Vermehrung der Parkflächen wird aber dem gesamten Personenkreis eine durchschnittlich längere Wegstrecke zugemutet, weil ortsnaher Parkraum nicht beliebig geschaffen werden kann. Bei einer an sich wünschenswerten Ausweitung des begünstigten Personenkreises ist zu bedenken, daß dadurch der in erster Linie zu begünstigende Personenkreis wieder benachteiligt würde (BSG SozR 3870 § 3 Nr 28).
Mit dem in der VV zu § 46 StVO im einzelnen angesprochenen Personenkreis käme eine Gleichstellung des Klägers künftig in Betracht, wenn sich die mit seinen Behinderungen verbundenen Schwierigkeiten und Gefahren dahin entwickeln sollten, daß er im innerstädtischen Fußgängerverkehr durch eine Begleitperson nicht mehr sicher geführt werden kann. Ein solcher Zustand wäre etwa erreicht, wenn eine verantwortungsbewußte Begleitperson den Behinderten wegen der Selbstgefährdung und der Gefährdung anderer nicht mehr führen, sondern regelmäßig nur noch im Rollstuhl bewegen würde (vgl BSG, Urteil vom 29. Januar 1992 - 9a RVs 4/90 - br 1992, 91).
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.