Zwischen den Beteiligten ist streitig, ob die Klägerin die gesundheitlichen Voraussetzungen des Nachteilsausgleiches "aG" (außergewöhnliche Gehbehinderung) erfüllt.
Bei der 1924 geborenen Klägerin stellte der Beklagte einen Grad der Behinderung (GdB) von 100 sowie die gesundheitlichen Voraussetzungen der Nachteilsausgleiche "G" und "B" (Bescheid vom 02.09.2002) fest wegen der Behinderungen
1. Cerebrale Durchblutungsstörungen mit Hirnleistungsschwäche bei Demenz (100) 2. Coronare Herzerkrankung mit coronarer Ausdehnungsbehandlung und Gefäßprotheseneinlage, Bluthochdruck, Herzklappenfehler (30) 3. Verschleiß der Wirbelsäule mit WS-Syndrom (20) 4. Krampfaderleiden beiderseits (10) 5. Harninkontinenz (10).
Im Dezember 2003 beantragte die Klägerin die Feststellung der gesundheitlichen Voraussetzungen der Merkzeichen "aG" und "H" (Hilflosigkeit). Zur Begründung verwies die Klägerin zum einen auf den Bezug von Leistungen der Pflegekasse nach Pflegestufe II. Zum anderen legte sie ein Attest des Neurologen und Psychiaters Dr. L vor, wonach bei ihr eine Demenz mit örtlichen und zeitlichen Orientierungsstörungen auch des Kurzzeitgedächtnisses sowie eine Neigung zum Weglaufen vorliege. Der Beklagte zog das Gutachten der Debeka zur Feststellung der Pflegebedürftigkeit, einen Bericht des Internisten Dr. Q und Dr. L bei. Nach versorgungsärztlicher Auswertung stellte der Beklagte mit Bescheid vom 05.02.2004 weiterhin einen GdB von 100 sowie die gesundheitlichen Voraussetzungen der Nachteilsausgleiche "H" und "RF" (Befreiung von der Rundfunkgebührenpflicht) fest. Die gesundheitlichen Voraussetzungen für das Merkzeichen "aG" verneinte der Beklagte unter Hinweis darauf, dass die Auswirkungen der Behinderung funktionell nicht so schwerwiegend seien, dass diese die Fortbewegung beim Gehen auf das Schwerste einschränken. Im Widerspruchsverfahren machte die Klägerin geltend, sie sei dem Personenkreis der Querschnittsgelähmten gleichzustellen, da sie orientierungslos sei und sich nur mit fremder Hilfe fortbewegen könne. Der Widerspruch blieb erfolglos (Widerspruchsbescheid vom 07.04.2004).
Hiergegen hat die Klägerin am 22.04.2004 beim Sozialgericht (SG) Duisburg Klage erhoben mit der Begründung, sie könne circa 20 bis 30 Meter allein und ohne Hilfe zu Fuß zurücklegen. Die Erkrankung sei bereits so weit fortgeschritten, dass sie sich nur noch in der häuslichen Umgebung zurechtfinde.
Das SG hat einen Erörterungstermin durchgeführt. Wegen des Ergebnisses wird auf die Sitzungsniederschrift vom 19.10.2004 Bezug genommen.
Das SG hat die Klage ohne mündliche Verhandlung (§ 124 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz - SGG -) durch Urteil vom 16.11.2004 abgewiesen. Auf die Entscheidung wird Bezug genommen.
Gegen das am 22.11.2004 zugestellte Urteil hat die Klägerin am 13.12.2004 Berufung eingelegt. Sie verfolgt ihr Begehren weiter.
Die Klägerin beantragt,
das Urteil des Sozialgerichtes Duisburg vom 16.11.2004 zu ändern und den Beklagten unter Abänderung des Bescheides vom 05.02.2004 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 07.04.2004 zu verurteilen, bei ihr die gesundheitlichen Voraussetzungen für den Nachteilsausgleich "aG" festzustellen.
Der Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Der Beklagte sieht sich durch das Ergebnis der Beweisaufnahme in seiner im Bescheid vertretenen Ansicht bestätigt.
Der Senat hat Befundberichte des Dr. L, des Dr. Q und ein Gutachten des Neurologen und Psychiaters Dr. W eingeholt. Das Gutachten wurde nach ambulanter Untersuchung mit Befragung sowohl der Klägerin als auch deren Ehemannes erstattet. Der Sachverständige diagnostiziert einen fortgeschrittenen dementiellen Hirnabbauprozess im Rahmen eines Morbus Alzheimer und ein Parkinsonsyndrom mit zeitweiligem Zittern der Hände sowie Verschleißveränderungen des Stütz- und Bewegungsapparates. Eine organische Störung des Gehvermögens stellt der Sachverständige nicht fest. Er beschreibt die Klägerin als "ausreichend lenkbar". Bei der ambulanten Untersuchung sei sie in der Lage gewesen, eine Gehstrecke von 30 Metern auf dem Krankenhausflur zurückzulegen und habe den Rückweg ohne ständige Ermahnung oder andere Hilfestellungen bewältigt. Zusammenfassend ist Dr. W der Ansicht, dass die Gehfunktion bei der Klägerin nicht in ungewöhnlich hohem Maße beeinträchtigt ist. Die Klägerin sei in der Lage, an der Hand oder bei freundlicher Ansprache ohne Hilfestellung bei mittlerer Schrittlänge und -frequenz ausreichend raumgreifend sicher Gehstrecken zurücklegen. Sie könne sich außerhalb des Kfz. nicht nur mit ungewöhnlich großer Anstrengung fortbewegen. Sie bedürfe einer Begleitperson, wobei es zur Vermeidung etwaiger Selbst- oder Fremdgefährdung nicht erforderlich sei, die Klägerin im Rollstuhl zu befördern. Hinsichtlich der notwendigen Medikation bestünden keine ungünstigen Beeinflussungen bzw. Gefährdungen, die eine Einschränkung des Gehvermögens bedingen. Das Gutachten wurde den Beteiligten am 07.07.2005 übersandt. Am 19.08.2005 stellte die Klägerin den Antrag, Dr. I nach § 109 SGG zu hören. Ergänzend hat sie angegeben, die Antragstellung erfolge erst jetzt, da Dr. I erst vor wenigen Tagen aus dem Urlaub zurückgekehrt sei.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die zwischen den Beteiligten gewechselten Schriftsätze, den übrigen Akteninhalt und auf die Verwaltungsakte des Beklagten Bezug genommen.
Die zulässige Berufung ist unbegründet.
Das SG hat die Klage zu Recht abgewiesen. Die Klägerin wird durch den angefochtenen Bescheid vom 05.02.2004 nicht im Sinne des § 54 Abs. 2 SGG beschwert. Der Bescheid ist rechtmäßig. Nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme sind die gesundheitlichen Voraussetzungen des Nachteilsausgleiches "aG" nicht bewiesen.
Nach § 69 Neuntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB IX), § 3 Abs. 1 Nr. 1 Schwerbehindertenausweisverordnung (SchwbAwV) in Verbindung mit § 6 Abs. 1 Nr. 14 Straßenverkehrsgesetz (StVG), Nr. 11 der zu § 46 Straßenverkehrsordnung (StVO) erlassenen allgemeinen Verwaltungsvorschrift (VV) sind als Schwerbehinderte mit außergewöhnlicher Gehbehinderung solche Personen anzusehen, die sich wegen der Schwere ihres Leidens dauernd nur noch mit fremder Hilfe oder nur mit großer Anstrengung außerhalb ihres Kraftfahrzeuges bewegen können. Hierzu zählen Querschnittsgelähmte, Doppeloberschenkelamputierte, Doppelunterschenkelamputierte, Hüftexartikulierte und einseitig Oberschenkelamputierte, die dauernd außerstande sind, ein Kunstbein zu tragen oder nur eine Beckenkorbprothese tragen können oder zugleich unterschenkel- oder armamputiert sind, sowie andere Schwerbehinderte, die nach versorgungsärztlicher Feststellung, auch aufgrund von Erkrankungen, dem vorstehend aufgeführten Personenkreis gleichzustellen sind.
Die Klägerin gehört nicht zu dem ausdrücklich genannten Personenkreis. Bei ihr besteht weder eine Gliedmaßenamputation noch eine Querschnittslähmung. Sie ist dem in Nr. 11 VV zu § 46 StVO genannten Personenkreis auch nicht gleichzustellen.
Eine solche Gleichstellung erfordert, dass die Gehfähigkeit in ungewöhnlich hohem Maße praktisch vom ersten Schritt an eingeschränkt ist und der Betroffene sich nur noch unter ebenso großen Anstrengungen wie der oben genannte Personenkreis oder nur noch mit fremder Hilfe fortbewegen kann. Die Gehfähigkeit muss so stark eingeschränkt sein, dass es dem Betroffenen unzumutbar ist, längere Wege zu Fuß zurückzulegen. Der vollständige Verlust der Gehfähigkeit ist hierbei nicht erforderlich. Es ist nicht entscheidend, welche Strecke in Metern - ggf. unter Verwendung orthopädischer Hilfsmittel - noch zurückgelegt werden kann. Die Gehfähigkeit muss von Anfang an derart reduziert sein, dass es dem Betroffenen unzumutbar ist, längere Wege zu Fuß zurückzulegen. Nicht notwendig ist hingegen, dass der Behinderte auf den Rollstuhl angewiesen ist. Entscheidend ist, dass die Fortbewegungsfähigkeit auf das Schwerste eingeschränkt ist. Die Voraussetzungen müssen vom ersten Schritt an außerhalb des Kraftfahrzeuges gegeben sein (BSG, Urteil vom 10.12.2002 - B 9 SB 7/01 R).
Das Gehen als solches ist bei der Klägerin nicht erheblich eingeschränkt. Dr. W hat überzeugend und nachvollziehbar dargelegt, dass die Gehfähigkeit bei der Klägerin nicht auf das Schwerste beeinträchtigt ist, jedenfalls nicht vom ersten Schritt an. Im Vordergrund stehen bei der Klägerin vielmehr die Auswirkungen der Demenz.
Die Klägerin erfüllt nicht die Voraussetzungen, unter denen das BSG ausnahmsweise trotz erhaltener Gehfähigkeit den Nachteilsausgleich bejaht. Ergänzend zu den Ausführungen des BSG im Urteil vom 10.12.2002 wird das Merkzeichen zuerkannt, wenn die Auswirkungen der Behinderung funktionell der Vergleichsgruppe gleichzusetzen sind. Dazu ist es nach der Rechtsprechung des BSG nicht ausreichend, dass ein Behinderter nicht selbstständig gehen kann, ohne sich und andere Verkehrsteilnehmer an Leib und Leben zu gefährden. Denn es ist nicht Sinn und Zweck des Nachteilsausgleiches, der Begleitperson ihre Aufgabe zu erleichtern, weil sie einen Behinderten auf einem verkürzten Weg überwachen und leiten muss. Der Nachteilsausgleich dient nur dazu, die neben der Kraftfahrzeugbenutzung unausweichliche Wegstrecke für diejenigen Schwerbehinderten abzukürzen, die sich nur mit außergewöhnlich großer Anstrengung zu Fuß fortbewegen können. Der Personenkreis, dem der Nachteilsausgleich zugebilligt wird, ist eng zu fassen. Ständig aufsichtsbedürftige Personen können dem in der VV zu § 46 StVO im Einzelnen angesprochenen Personenkreis nach der Rechtsprechung des BSG, der sich der Senat voll umfänglich anschließt, erst dann gleichgestellt werden, wenn sie im innerstädtischen Fußgängerverkehr von einer Begleitperson nicht mehr sicher geführt werden können. Ein solcher Zustand ist noch nicht erreicht, wenn der Behinderte wegen der Beeinträchtigung seines Orientierungsvermögens und seines unkontrollierbaren Bewegungsdranges der Führung durch eine Begleitperson bedarf. Hinzukommen muss eine so starke Selbstgefährdung oder Gefährdung Dritter, dass eine verantwortungsbewusste Begleitperson den Behinderten im innerstädtischen Fußgängerverkehr nicht mehr führen, sondern regelmäßig nur noch im Rollstuhl befördern würde (BSG, Urteil vom 13.12.1994, 9 RVs 3/94; Urteil vom 29.01.1992, 9 a/9 RVs 4/90; Urteil vom 22.04.1998, B 9 SB 7/97 R; Bayerisches LSG, Urteil vom 18.03.2003, L 15 SB 77/00).
Daran fehlt es. Die ambulante Untersuchung bei Dr. W hat ergeben, dass diese Kriterien bei der Klägerin nicht erfüllt sind. Übereinstimmend haben die gehörten Ärzte und Dr. W dargelegt, dass die Klägerin beim Gehen von einer Person begleitet werden muss. Nach der Überzeugung des Senates ist jedoch nicht bewiesen, dass eine verantwortungsbewusste Begleitperson die Klägerin wegen einer Selbstgefährdung oder Gefährdung Dritter im innerstädtischen Verkehr regelmäßig nur noch im Rollstuhl fortbewegen würde. Beispielhaft sei hier aufgeführt, dass die Klägerin anlässlich der ambulanten Untersuchung bei Dr. W nach einer Strecke von circa 30 Metern auf dem Krankenhausflur in der Lage war, selbstständig die Strecke zurückzugehen. Zur Vermeidung einer Gefährdung ist es jedoch nicht erforderlich, dass die Klägerin im Rollstuhl bewegt wird. Es ist vielmehr nach den überzeugenden Aussagen des Sachverständigen Dr. W ausreichend, wenn die Klägerin bei freundlicher Ansprache an der Hand geführt wird. Diese Einschätzung des Sachverständigen wird auch durch den Befundbericht des behandelnden Neurologen und Psychiaters Dr. L von Februar 2005 bestätigt. Dieser betont, dass die Klägerin wegen der Orientierungsstörungen von einer Begleitperson an der Hand geführt werden muss, es jedoch für einen verantwortungsbewussten Dritten keine Notwendigkeit gibt, wegen einer Selbstgefährdung oder Gefährdung anderer Personen die Klägerin im Rollstuhl zu bewegen. Der Einschätzung des behandelnden Internisten Dr. Q, es liege ein unsicheres ataktisches Gangbild vor und zur Vermeidung einer Fallneigung müsse ein Rollstuhl benutzt werden, kann nach dem Gutachten von Dr. W und den Ausführungen des Facharztes Dr. L nicht nachvollzogen werden. Denn die Klägerin konnte bei der ambulanten Untersuchung an der Hand und normaler Schrittlänge ausreichend raumgreifend die Gehstrecke zurücklegen. Der Ehemann der Klägerin hat bei Dr. W auch kein derartiges Gangbild der Klägerin beschrieben.
Der Senat folgt der Einschätzung des Dr. W. Er hat die Klägerin untersucht, die ausführliche Anamnese auch unter Einbeziehung der Angaben des Ehemannes erhoben und nach Auswertung der in der Akte befindlichen Unterlagen nachvollziehbar und überzeugend zu den Beweisfragen Stellung genommen. Dr. W ist dem Senat zudem als kompetenter und erfahrener Gutachter bekannt.
Den Antrag der Klägerin, Dr. I nach § 109 SGG zu hören, musste der Senat ablehnen. Die Bevollmächtigte der Klägerin hat den Antrag nicht in angemessener Frist gestellt. Diese beträgt nach ständiger Rechtsprechung des Senates einen Monat (so auch BSG, Breith 1959, 770; Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, 8. Auflage, Kommentar zum SGG, § 109 SGG, Rdnr. 11 m. w. N.). In Fällen, in denen ausnahmsweise eine längere Überlegungszeit notwendig ist, hat der Beteiligte dies unter Angabe der Gründe dem Gericht mitzuteilen (Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, a. a. O.). Eine entsprechende Mitteilung der Bevollmächtigten unterblieb. Außerdem hätte es genügt, vorab den Antrag nach § 109 SGG zu stellen und für die Benennung des Sachverständigen um Fristverlängerung unter Angabe der Gründe zu bitten.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Gründe, die Revision zuzulassen, liegen nicht vor.