1. Auch die Kombination mehrerer Erkrankungen führt nicht zur Feststellung des Merkzeichens aG, wenn der schwerbehinderte Mensch mit Hilfsmitteln (Rollator, Unterarmstützen) noch ca 200 m zurücklegen kann und dabei weder große Anstrengungen leisten noch Pausen einlegen muss.

2. Äußere Umstände (Wohnsituation, Notwendigkeit von Begleitpersonen) sind bei der Feststellung des Merkzeichens aG nicht zu berücksichtigen.

3. Wenn sich die Ablehnung des Merkzeichens aG nach einer im Sinne der Rechtsprechung des BVerfG abschließenden Prüfung als rechtmäßig darstellt, droht dem Antragsteller durch die Ablehnung seines Antrags auf Erlass einer einstweiligen Anordnung keine schwerwiegende, nicht wieder gut zu machende Verletzung von Grundrechten. Für eine Folgenabwägung bleibt kein Raum.


Landessozialgericht Sachsen-Anhalt 7. Senat
15.06.2020
L 7 SB 27/20 B ER
Juris



Leitsatz

1. Auch die Kombination mehrerer Erkrankungen führt nicht zur Feststellung des Merkzeichens aG, wenn der schwerbehinderte Mensch mit Hilfsmitteln (Rollator, Unterarmstützen) noch ca 200 m zurücklegen kann und dabei weder große Anstrengungen leisten noch Pausen einlegen muss.

2. Äußere Umstände (Wohnsituation, Notwendigkeit von Begleitpersonen) sind bei der Feststellung des Merkzeichens aG nicht zu berücksichtigen.

3. Wenn sich die Ablehnung des Merkzeichens aG nach einer im Sinne der Rechtsprechung des BVerfG abschließenden Prüfung als rechtmäßig darstellt, droht dem Antragsteller durch die Ablehnung seines Antrags auf Erlass einer einstweiligen Anordnung keine schwerwiegende, nicht wieder gut zu machende Verletzung von Grundrechten. Für eine Folgenabwägung bleibt kein Raum.


Gründe

Umstritten ist im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes ein Anspruch des Antragstellers und Beschwerdeführers (im Folgenden: Beschwerdeführer) auf vorläufige Zuerkennung des Merkzeichens aG (außergewöhnliche Gehbehinderung).

Der Antragsgegner und Beschwerdegegner (im Folgenden: Beschwerdegegner) stellte bei dem im ... 1953 geborenen Beschwerdeführer mit Bescheid vom 10. Mai 2016 ab 18. Februar 2016 einen Grad der Behinderung (GdB) von 80 wegen einer Krankheit des Schienbeins fest (hochmalignes Leiomyosarkom mit Destruktion der rechten proximalen Tibia). Weitere Einzel-GdB (Funktionsstörung der Wirbelsäule: Einzel-GdB 20, Schlaf-Apnoe-Syndrom: Einzel-GdB 20, Nierenfunktionsstörung: Einzel-GdB 20) führten zu keiner weiteren Erhöhung des Gesamt-GdB.

Am 2. März 2018 beantragte der Beschwerdeführer die Neufeststellung des GdB und das Merkzeichen aG wegen einer hinzugetretenen Herzerkrankung. Er trug vor, er sei auf einen Rollator angewiesen. Der Beschwerdegegner zog medizinische Unterlagen bei. Nach einem Bericht des H. L. vom 9. März 2018 war eine Implantation einer Kreislaufpumpe (LVAD, HeartMate III – DT) durchgeführt worden. Die Entlassung des Beschwerdeführers sei mit Rollator gut mobilisiert erfolgt. Mit Gehhilfe habe er eine Strecke von 180m zurücklegen können. Im Reha-Entlassungsbericht S. vom 29. März 2018 berichtete Dr. M. über eine Herzerkrankung, eine Versorgung der rechten Tibia durch Totalendoprothese und Tibiaersatz sowie über eine Implantation eines distalen Femurersatzes im Januar 2017. Die linksventrikuläre Ejektionsfraktion (EF) habe bei 35% gelegen. Der Beschwerdeführer habe ein sicheres, im Wesentlichen flüssiges Gangbild am Rollator gezeigt (Gehstrecke von 145m am 12. März 2018 und 200m am 27. März 2018). Das gekoppelte Endoprothesensystem habe keine Instabilitäten aufgewiesen.

In Auswertung der Befunde schlug der ärztliche Gutachter des Beschwerdegegners, Dr. J., für die Herzleistungsminderung und Implantation eines Kardio-Defibrillators (ICD) einen Einzel-GdB von 50 und unter Berücksichtigung der weiteren Erkrankungen einen Gesamt-GdB von 100 sowie das Merkzeichen G (erhebliche Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr) vor. Das Merkzeichen aG lasse sich bei einer Gehstrecke von 200m nicht begründen. Dem folgend stellte der Beschwerdegegner mit Bescheid vom 5. Juli 2018 einem GdB von 100 sowie das Merkzeichen G fest und lehnte die Feststellung des Merkzeichens aG ab.

Im Widerspruchsverfahren trug der Beschwerdeführer vor, dass er dauerhaft auf Unterarmgehstützen angewiesen sei. Seine Wegstrecke betrage zwischen 20m und 150m. Im Durchschnitt schaffe er 50m. Außerdem sei er aufgrund seiner Wohnsituation - die nächste Bushaltestelle liege 3km entfernt - auf einen PKW und die Begleitung seiner Ehefrau angewiesen. Zur Unterstützung seines Vortrags legte er eine Bescheinigung des Facharztes für Orthopädie Dr. R. vom 14. September 2018 vor. Der Arzt führte aus, dass die Kombination der Erkrankungen zu einer hochgradigen funktionellen Einschränkung in der Bewegungsfreiheit und -fähigkeit führe, weshalb das Merkzeichen aG dringend geboten sei.

Der Beschwerdegegner holte einen Befundschein von Dr. R. ein, der über die letztmalige Behandlung des Beschwerdeführers am 4. Juni 2018 berichtete. Aufgrund der ungünstigen Befundkonstellation (Kunstherz und massive Muskelatrophie des rechten Beins nach Tumorendoprothese) liege die Gehstrecke unter 200m. Diese sei nur mit Hilfsmitteln (Stützen und Rollator) zu bewältigen. Eine ständige Nutzung eines Rollstuhls sei noch nicht erforderlich. Außer lag die Epikrise des Klinikums B. über den stationären Aufenthalt vom 20. bis 21. August 2018 vor. Danach habe sich die Dyspnoe deutlich gebessert. Die Pumpfunktion betrage aktuell 40 bis 45%. An beiden Beinen bestünden diskrete Ödeme. Das Gehen sei dem Beschwerdeführer an Unterarmstützen möglich.

Nach nochmaliger versorgungsärztlicher Beteiligung stellte der Beschwerdegegner mit Widerspruchsbescheid vom 20. Dezember 2018 das Merkzeichen B (Berechtigung für eine ständige Begleitung) fest und wies den weitergehenden Widerspruch zurück. Dagegen hat der Beschwerdeführer am 18. Januar 2019 Klage beim Sozialgericht (SG) Dessau erhoben.

Am 3. März 2020 hat der Beschwerdeführer im Wege der einstweiligen Anordnung beim SG beantragt, den Beschwerdegegner zu verpflichten, ihm vorläufig das Merkzeichen aG zu gewähren. Zur Begründung hat er geltend gemacht: Das Abwarten in der Hauptsache führe wegen der langen Verfahrensdauer zu einer unbilligen Härte. Seine Gehstrecke liege mit Hilfsmitteln (Stützen, Rollator) aufgrund der Konstellation von Kunstherz und massiver Muskelatrophien des rechten Beins nach Tumorendoprothese unter 200m. Da sein Bein plötzlich versage, bestehe eine erhebliche Sturzneigung. Eine ständige Nutzung des Rollstuhls sei zwar nicht erforderlich, jedoch erwarte er keine Verbesserung der funktionellen Defizite. Er müsse sich regelmäßig auswärtigen Kontrolluntersuchungen in Fachkliniken unterziehen, die auch mit Übernachtungen verbunden seien. Dabei müsse er einen Koffer mit einem Gesamtgewicht von 12 kg mitführen, um die Ladestation für sein künstliches Herz, sechs Ersatzbatterien und das notwendige Nachtkabel zu transportieren. Er benötige für den Transport dieser Sachen eine Begleitperson, die dadurch erheblich belastet werde. Die Begleitperson müsse ihn stützen. Außerdem müsse er selbst lebensnotwendige technische Geräte von ca. 3kg am Körper führen. Diese erhebliche Belastung werde bei größerer Wegstrecke unzumutbar. Zur Unterstützung seines Vortrags hat er ein weiteres Attest des Orthopäden Dr. R. vom 14. November 2019 vorgelegt. In diesem hat der Arzt mitgeteilt, dass der Zustand des rechten Beins funktionell einer Unterschenkelamputation entspreche.

Der Beschwerdegegner hat ausgeführt, dass weder Anordnungsgrund noch Anordnungsanspruch gegeben seien. Der orthopädischen Einschätzung sei nicht zu folgen. Konkrete objektive Befunde seien dem Bericht nicht zu entnehmen. Es sei nicht belegt, dass der Beschwerdeführer dauerhaft auch für sehr kurze Entfernungen aus medizinischer Notwendigkeit auf die Verwendung eines Rollstuhls angewiesen sei. Auch habe der Beschwerdeführer keine Tatsachen vorgetragen, die die Eilbedürftigkeit begründeten.

Mit eidesstattlicher Versicherung vom 5. März 2020 hat der Beschwerdeführer seine bisherigen Angaben wiederholt und ergänzend versichert, dass er wegen seines künstlichen Kniegelenks aufgrund der Instabilität des Knies bzw. des gesamten Beins auf einen Rollstuhl angewiesen sei. Daher sei er auf kurze Wege zwischen einem Parkplatz und der Zielörtlichkeit angewiesen.

Mit Beschluss vom 18. März 2020 hat das SG den Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz abgelehnt und zur Begründung ausgeführt: Ein Anordnungsgrund sei nicht glaubhaft gemacht. Dies ergebe sich aus dem Befundbericht von Dr. R ... Der Arzt habe eine Wegstrecke von unter 200m mit Hilfsmitteln, aber ohne ständige Nutzung des Rollstuhls mitgeteilt. Die Gehfähigkeit sei zwar erheblich eingeschränkt, aber für kurze Strecken mit Hilfsmitteln noch grundsätzlich gegeben. Für das Merkzeichen aG seien nicht die sonstigen Umstände maßgeblich, die nicht die Gehbehinderung als solche definierten, wie etwa die Wohnlage oder besondere Transporterfordernisse. Auf einen Anordnungsgrund komme es somit nicht mehr an. Aber auch insoweit seien nicht die individuellen Lebensumstände relevant (wie etwa der Wohnsitz an einer infrastrukturell nicht gut angebundenen Örtlichkeit).

Gegen den ihm am 30. März 2020 zugestellten Beschluss hat der Beschwerdeführer am 15. April 2020 Beschwerde beim Landessozialgericht (LSG) Sachsen-Anhalt eingelegt und geltend gemacht: Das SG habe sein Vorbringen unzureichend gewürdigt. Eine kurze Wegstrecke mit Hilfsmitteln möge für ihn zwar tatsächlich zumutbar sein. Doch sei der Begriff des Hilfsmittels äußerst dehnbar. Das SG verkenne, dass seine Hilfsmittel mehrere Kilogramm schwer seien. Der Transport auch auf einer Gehstrecke von unter 200m sei damit nicht mehr zumutbar. Auch wenn es auf sonstige Umstände, die die Gehbehinderung nicht selbst betreffen, nicht ankomme, sei er aufgrund seiner erheblichen Einschränkung der Gehfähigkeit auf Hilfsmittel, d.h. auf "sonstige Umstände" angewiesen. Er sei gegenüber denjenigen gehbehinderten Menschen schlechter gestellt, die keine notwendigen mechanischen Geräte transportieren müssten.

Einen konkreten Antrag hat der Beschwerdeführer nicht formuliert.

Der Beschwerdegegner beantragt,

die Beschwerde zurückzuweisen.

Er trägt vor, dass weder ein Anordnungsanspruch noch ein Anordnungsgrund glaubhaft gemacht seien. II.

Da der Beschwerdeführer im Beschwerdeverfahren keinen konkreten Antrag formuliert hat, bedarf sein Begehren der Auslegung (§ 123 Sozialgerichtsgesetz (SGG)). Mangels entgegenstehender Hinweise ist davon auszugehen, dass er sein erstinstanzliches Begehren im vollem Umfang weiterverfolgt.

Die zulässige Beschwerde ist unbegründet.

Das Gericht kann nach § 86b Abs. 2 SGG eine einstweilige Anordnung in Bezug auf den Streitgegenstand treffen, wenn die Gefahr besteht, dass durch eine Veränderung des bestehenden Zustands die Verwirklichung eines Rechts des Antragsstellers erschwert oder wesentlich vereitelt wird. Einstweilige Anordnungen sind auch zur Regelung eines vorläufigen Zustands in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint. Voraussetzung für den Erlass einer einstweiligen Anordnung ist gemäß § 86b Abs. 2 Satz 4 SGG i.V.m. § 920 Abs. 2 Zivilprozessordnung (ZPO) die Glaubhaftmachung des Vorliegens sowohl eines Anordnungsanspruchs (also eines in der Hauptsache gegebenen materiellen Leistungsanspruchs) als auch eines Anordnungsgrunds (also der Eilbedürftigkeit der Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile). Ein Anordnungsanspruch und ein Anordnungsgrund sind glaubhaft gemacht, wenn ihre tatsächlichen Voraussetzungen mit überwiegender Wahrscheinlichkeit vorliegen (vgl. Keller, in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, SGG, 12. Auflage 2017, § 86b Rn. 16b).

Je gewichtiger die drohende Grundrechtsverletzung und je höher ihre Eintrittswahrscheinlichkeit ist, desto intensiver hat die tatsächliche und rechtliche Durchdringung der Sache bereits im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes zu erfolgen. Ist eine der drohenden Grundrechtsverletzung entsprechende Klärung der Sach- und Rechtslage im Eilverfahren nicht möglich – etwa, weil es dafür weiterer, in der Kürze der zur Verfügung stehenden Zeit nicht zu verwirklichender tatsächlicher Aufklärungsmaßnahmen bedürfte –, kann eine Entscheidung aufgrund einer Folgenabwägung ergehen (Bundesverfassungsgericht (BVerfG), Beschluss vom 14. März 2019 – 1 BvR 169/19 –, juris Rn. 15 m.w.N.).

Unter Anwendung dieser Maßstäbe ist die sozialgerichtliche Entscheidung nicht zu beanstanden. Nach den vorliegenden aussagekräftigen Befunden ist davon auszugehen, dass die materiellen Voraussetzungen für den Anspruch auf das Merkzeichen aG nicht gegeben sind. Insoweit bedarf es auch keiner weiteren Ermittlungen.

Gemäß § 152 Abs. 4 Sozialgesetzbuch Neuntes Buch – Rehabilitation und Teilhabe (SGB IX) treffen die zuständigen Behörden die erforderlichen Feststellungen über weitere gesundheitliche Merkmale als Voraussetzung für die Inanspruchnahme von Nachteilsausgleichen.

Die Voraussetzungen für die Feststellung einer außergewöhnlichen Gehbehinderung (Merkzeichen aG) ergeben sich aus § 229 Abs. 3 Satz 1 SGB IX. Schwerbehinderte Menschen mit außergewöhnlicher Gehbehinderung sind danach Personen mit einer erheblichen mobilitätsbezogenen Teilhabebeeinträchtigung, die einem GdB von mindestens 80 entspricht. Nach Satz 2 liegt eine erhebliche mobilitätsbezogene Teilhabebeeinträchtigung vor, wenn sich die schwerbehinderten Menschen wegen der Schwere ihrer Beeinträchtigung dauernd nur mit fremder Hilfe oder mit großer Anstrengung außerhalb ihres Kraftfahrzeuges bewegen können. Hierzu zählen insbesondere schwerbehinderte Menschen, die auf Grund der Beeinträchtigung der Gehfähigkeit und Fortbewegung - dauerhaft auch für sehr kurze Entfernungen - aus medizinischer Notwendigkeit auf die Verwendung eines Rollstuhls angewiesen sind (Satz 3). Verschiedenste Gesundheitsstörungen (insbesondere Störungen bewegungsbezogener, neuromuskulärer oder mentaler Funktionen, Störungen des kardiovaskulären oder Atmungssystems) können die Gehfähigkeit erheblich beeinträchtigen (Satz 4). Diese sind als außergewöhnliche Gehbehinderung anzusehen, wenn nach versorgungsärztlicher Feststellung die Auswirkung der Gesundheitsstörungen sowie deren Kombination auf die Gehfähigkeit dauerhaft so schwer ist, dass sie der unter Satz 1 genannten Beeinträchtigung gleichkommt (Satz 5).

In der Gesetzesbegründung zu dieser Vorschrift werden folgende Beispiele genannt, bei denen die Voraussetzungen erfüllt sein können (BT-Drucks. 18/9522 S. 318):

- zentralnervöse, peripher-neurologische oder neuromuskulär bedingte Gangstörungen mit der Unfähigkeit, ohne Unterstützung zu gehen, oder wenn eine dauerhafte Rollstuhlbenutzung erforderlich ist (insbesondere bei Querschnittlähmung, Multipler Sklerose, Amyotropher Lateralsklerose (ALS), Parkinsonerkrankung, Para- oder Tetraspastik in schwerer Ausprägung)

- Funktionsverlust beider Beine ab Oberschenkelhöhe oder Funktionsverlust eines Beines ab Oberschenkelhöhe ohne Möglichkeit der prothetischen oder orthetischen Versorgung (insbesondere bei Doppeloberschenkelamputierten und Hüftexartikulierten)

- schwerste Einschränkung der Herzleistungsfähigkeit (insbesondere bei Linksherzschwäche Stadium NYHA IV)

- schwerste Gefäßerkrankungen (insbesondere bei arterieller Verschlusskrankheit Stadium IV)

- Krankheiten der Atmungsorgane mit nicht ausgleichbarer Einschränkung der Lungenfunktion schweren Grades

- schwerste Beeinträchtigung bei metastasierendem Tumorleiden (mit starker Auszehrung und fortschreitendem Kräfteverfall)

Wie sich aus der Begründung zum Bundesteilhabegesetz (a.a.O., S. 317) ergibt, sind nicht die vorliegenden Diagnosen maßgeblich. Es soll ausschließlich darauf ankommen, ob die Auswirkungen einer Gesundheitsstörung in Wechselwirkung mit vorhandenen Barrieren im Einzelfall zu Beeinträchtigungen der Teilhabe am Leben in der Gesellschaft und somit zu einer Behinderung führen. Aus der Gesetzesbegründung ergibt sich allerdings auch, dass in Anbetracht des knappen Parkraums weiterhin eine restriktive Auslegung geboten ist. So soll sichergestellt werden, dass behinderte Menschen mit den beschriebenen Einschränkungen die Erleichterung auch tatsächlich in Anspruch nehmen können.

Diese Voraussetzungen erfüllt der Beschwerdeführer nicht. Dabei stützt sich der Senat auf die Atteste und Befundscheine des Facharztes für Orthopädie Dr. R., die im Verwaltungsverfahren eingeholten Befunde, die Angaben des Beschwerdeführers - auch in seiner eidesstattlichen Versicherung - und die versorgungsärztlichen Stellungnahmen des Beschwerdegegners.

Der Beschwerdeführer gehört nicht zum ausdrücklich genannten Personenkreis der außergewöhnlich Gehbehinderten, denn er ist nicht dauerhaft - auch für sehr kurze Entfernungen - aus medizinischer Sicht auf die Verwendung eines Rollstuhls angewiesen. In keiner der beigezogenen medizinischen Unterlagen ist die Verwendung eines Rollstuhls beschrieben worden. Zwar hat der Beschwerdeführer in seiner eidesstattlichen Versicherung vom 5. März 2020 angegeben, dass er einen Rollstuhl nutzt. Das heißt aber nicht, dass er auch für sehr kurze Entfernungen auf einen solchen medizinisch notwendig angewiesen ist.

Die Auswirkungen der Gesundheitsstörungen rechtfertigen auch keine Gleichstellung mit einer Beeinträchtigung nach § 229 Abs. 3 Satz 1 SGB IX.

Die kardiologischen Beeinträchtigungen als solche führen nicht zu einer außergewöhnlichen Gehbehinderung. Unmittelbar nach der Herzoperation hatte der Beschwerdeführer eine auf 35% eingeschränkte Pumpfunktion des Herzens (Reha-Bericht vom 29. März 2018). Diese hat sich innerhalb kurzer Zeit auf 40 bis 45% gesteigert (Epikrise B. vom August 2018), sodass die kardiologischen Einschränkungen keinesfalls das Merkzeichens aG rechtfertigen. Denn eine schwerste Einschränkung der Herzleistungsfähigkeit nach dem oben dargestellten Maßstab ist damit - wie die Versorgungsärzte des Beschwerdegegners zutreffend erkannt haben - nicht nachgewiesen.

Auch die orthopädischen Einschränkungen lassen keinen Rückschluss auf das Merkzeichen aG zu. Der Beschwerdeführer ist umfassend mit einem Endoprothesensystem versorgt, das keine Instabilitäten aufweist (Reha-Bericht vom 29. März 2018). Allein die von Dr. R. festgestellte massive Muskelatrophie rechtfertigt nicht das Merkzeichen aG, denn der Arzt hat die Einschränkungen funktionell mit einem Zustand nach einer Unterschenkelamputation verglichen. Nach dem oben dargestellten Maßstab ist das Merkzeichen aG allerdings erst bei einem Funktionsverlust beider Beine ab Oberschenkelhöhe oder einem Funktionsverlust eines Beines ab Oberschenkelhöhe ohne Möglichkeit der prothetischen oder orthetischen Versorgung (insbesondere bei Doppeloberschenkelamputierten und Hüftexartikulierten) festzustellen. Zwischen dem von Dr. R. angegebenen Funktionsverlust und dem für das Merkzeichen aG vorausgesetzten, bestehen somit ganz erhebliche Unterschiede.

Auch die Kombination der beim Beschwerdeführer vorliegenden Erkrankungen rechtfertigt nicht die Feststellung des Merkzeichen aG, wie aus den ihm noch möglichen Gehtrecken deutlich wird. Der Beschwerdeführer war bereits kurz nach der Herzoperation mit Unterarmstützen bzw. Rollator in der Lage, Wegstrecken von 145m (12. März 2018) und 200m (27. März 2018) zu bewältigen (Reha-Bericht vom 29. März 2018). In den Berichten wird weder eine große Anstrengung noch die Notwendigkeit von Pausen bereits nach geringen Entfernungen beschrieben. Auch die Einschätzung von Dr. R. orientiert sich ebenso wie die eigenen Angaben des Beschwerdeführers im gerichtlichen Verfahren an einer Gehstrecke von unter 200m. Somit ist der Beschwerdeführer keinesfalls praktisch von den ersten Schritten an gezwungen, sich nur noch mit fremder Hilfe oder mit großer Anstrengung zu bewegen, sodass im Ergebnis der Empfehlung von Dr. R. zur Feststellung des Merkzeichens aG nicht gefolgt werden kann.

Im Übrigen haben die vom Beschwerdeführer in der eidesstattlichen Versicherung angegebenen Einschränkungen (künstliches Kniegelenk, Instabilität des Knies bzw. des gesamten Beins, Notwendigkeit des Tragens von notwendigen medizinischen Geräten am Körper) bereits im Jahre 2018 vorgelegen und sind in die Bewertungen des Gehfähigkeit durch die behandelnden Ärzte eingeflossen, sodass sie keine abweichende Beurteilung rechtfertigen. Insbesondere ist auch keine Schlechterstellung gegenüber anderen schwerbehinderten Menschen festzustellen, weil der Beschwerdeführer notwendige technische Geräte von ca. 3kg am Körper tragen muss. Denn der Beschwerdeführer hat bei Absolvierung der in den Berichten (nach der Herzoperation) angegebenen Gehstrecken ebenfalls die notwendigen medizinischen Geräte am Körper tragen müssen.

Der Beschwerdeführer kann sich letztlich auch nicht mit Erfolg auf die erhebliche Belastung einer Begleitperson durch das Tragen von einem Koffer mit lebensnotwendigen Geräten zu den erforderlichen Behandlungen berufen. Denn das Merkzeichen aG dient nicht dazu, Erleichterungen für Begleitpersonen zu schaffen. Die notwendige Begleitung des Beschwerdeführers - auch im Hinblick auf die Sturzneigung - wird vielmehr durch das ihm gewährte Merkzeichen B gesichert. Ebenso wenig kann der Umstand Berücksichtigung finden, dass der Beschwerdeführer aufgrund seiner Wohnsituation zwingend auf ein Kraftfahrzeug angewiesen ist. Denn die Feststellung des Merkzeichens aG ist davon unabhängig.

Ist die Klage in der Hauptsache offensichtlich unbegründet, so ist der Antrag auf einstweilige Anordnung ohne Rücksicht auf den Anordnungsgrund grundsätzlich abzulehnen, weil kein schützenswertes Recht vorhanden ist (Harks, in: Hennig, § 86b SGG, Stand Januar 2020 Rn. 145). So liegt der Fall hier. Da sich die Ablehnung des Merkzeichens aG nach einer im Sinne der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts abschließenden Prüfung als rechtmäßig darstellt, droht dem Beschwerdeführer auch keine schwerwiegende, nicht wieder gut zu machende Verletzung von Grundrechten. Da die Hauptsache keine Aussicht auf Erfolg hat, bleibt für eine Folgenabwägung kein Raum (Harks, a.a.O. Rn. 9 unter Hinweis auf BVerfG, Beschluss vom 6. August 2014, 1 BvR 1453/12, SGb 2015, 175, 176).

Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung des § 193 Abs. 1 Satz 1 SGG.

Dieser Beschluss kann nicht mit der Beschwerde an das Bundessozialgericht angefochten werden (§ 177 SGG).



Versorungsmedizinische Grundsätze
in der Fassung der 5. Verordnung zur Änderung der Versorgungsmedizin-Verordnung