Merkzeichen aG - außergewöhnliche Gehbehinderung - Maßgeblichkeit des Gehvermögens in fremder Umgebung


Landessozialgericht Baden-Württemberg 6. Senat
18.03.2021
L 6 SB 3843/19
Juris



Leitsatz

Nach dem Sinn und Zweck des Nachteilsausgleichs "aG" des behinderungsbedingten Mobilitätsausgleichs und der damit verbundenen Integration schwerbehinderter Menschen in die Gesellschaft ist allein maßgeblich, in welchem Ausmaß das Gehvermögen in einer dem Schwerbehinderten fremden Umgebung eingeschränkt ist. Unerheblich ist, ob das Gehvermögen in einer vertrauten Umgebung in einem weiteren Umfang besteht.


Tenor

Die Berufung des Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Ulm vom 21. Oktober 2019 wird zurückgewiesen. Der Beklagte erstattet dem Kläger auch seine außergerichtlichen Kosten im Berufungsverfahren.


Tatbestand

Der Beklagte wendet sich mit der Berufung gegen die Verpflichtung zur Feststellung der gesundheitlichen Merkmale für die Inanspruchnahme des Nachteilsausgleichs „aG“ (außergewöhnliche Gehbehinderung) ab dem 11. Dezember 2018.

Der Kläger ist 2009 geboren. Seit seiner Geburt leidet er unter eine Mikrodeletion 22q11.2. (Das Mikrodeletionssyndrom 22q11.2 ist der zweithäufigste Gendefekt beim Menschen. Hierbei ist ein winzig kleiner Teil der normalen Erbinformation auf dem Chromosom 22 verloren gegangen. Jedes 4.000ste Neugeborene ist betroffen.) Er besucht die M. Schule, M. P. Schule, Sonderpädagogisches Bildungs- und Beratungszentrum mit dem Schwerpunkt körperliche und motorische Entwicklung.

Auf seinen Erstantrag nach dem Sozialgesetzbuch Neuntes Buch (SGB IX) stellte das Landratsamt O. (LRA) durch Bescheid vom 28. Juni 2010 einen Grad der Behinderung (GdB) von 50 seit dem 19. Februar 2009 fest. Dieser Feststellung lag die versorgungsärztliche Stellungnahme der Dr. N. zugrunde, die eine psychomotorische Entwicklungsstörung mit einem GdB von 50 bewertete. Maßgeblich hierfür war der Bericht des Universitätsklinikums T. über die Vorstellung des Klägers im Februar 2010, aus dem sich die Diagnosen eines ehemaligen Frühgeborenen der 35. SSW (GG 1990 g, P10) und einer Mikrodeletion 22q11.2 mit schwerer psychomotorischer Retardierung mit Rumpfhypotonie, einem leichtem dysmorphem faszialem Stigmata, einer Pupillenektopie und einer Iriskolobom rechts, einer Positionsanomalie des Truncus brachiocephalicus, einem Z. n. Umsetzung am 29. Dezember 2009 und einem Maldeszensus testis rechts ergaben.

Am 27. April 2011 beantragte der Kläger die Neufeststellung des GdB und die Feststellung der gesundheitlichen Voraussetzungen für die Inanspruchnahme des Nachteilsausgleichs „G“ (erhebliche Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr). Zur Vorlage kam unter anderem das Gutachten zur Feststellung der Pflegebedürftigkeit gemäß Sozialgesetzbuch Elftes Buch (SGB XI) aufgrund seiner Untersuchung vom 29. November 2010; die Pflegestufe II wurde empfohlen. Im Weiteren gelangte zur Verwaltungsakte der Bericht der Nachsorgeklinik T. über die familienorientierte Rehabilitation vom 31. März bis zum 28. April 2011, aus dem sich als Diagnosen eine Mikrodeletion 22q11.2, ehemaliges FG 35. + 5. SSW, einen Z. n. säbelscheidenförmiger Einengung der Trachea mit stark abgeflachter Karina und Malazie zum linken Hauptbronchus bei Kompression durch den Truncus brachiocephalicus nach anterior und proximal 29. Dezember 2009, eines Z. n. bds. Pneumothorax und Dystelektase sowie postoperativer NIV-Beatmung bis 3. Januar 2010, eines Maldesczensus testis links Orchidopexie August 2010, eines Plagiocephalus, eines verzögerten Erreichens der Entwicklungsstufen, einer Pupillenektopie und eines Iriskolobom sowie negativer Kindheitserlebnisse (kardiologische Erkrankung und Therapie) ergaben. Die Versorgungsärztin P. bewertete nunmehr die psychomotorische Entwicklungsstörung mit einem GdB von 80. Aufgrund der jetzt sehr deutlichen Entwicklungsverzögerung könne eine höhere Bewertung und der Nachteilsausgleich „G“ empfohlen werden. Eine Nachprüfung bereits in zwei Jahren erscheine sinnvoll. Dementsprechend stellte das LRA durch Bescheid vom 4. Juli 2011 einen GdB von 80 seit dem 27. April 2011 und die gesundheitlichen Merkmale für die Inanspruchnahme des Nachteilsausgleichs „G“ fest.

Mit dem hiergegen erhobenen Widerspruch erklärte sich der Kläger mit dem GdB von 80 und der Feststellung der Voraussetzungen des Nachteilsausgleichs „G“ einverstanden. Es fehle jedoch die Feststellung der gesundheitlichen Voraussetzungen für die Inanspruchnahme der Nachteilsausgleiche „B“ (Berechtigung für eine ständige Begleitung) und „H“ (Hilflosigkeit).

Versorgungsärztlich war Dr. K.-W. der Ansicht, dass die Voraussetzungen der beantragten Nachteilsausgleiche vorlägen. Das LRA stellte daraufhin durch Bescheid von 28. September 2011 zusätzlich die gesundheitlichen Merkmale für die Inanspruchnahme der Nachteilsausgleiche „B“ und „H“ ab dem 25. Juli 2011 fest.

Am 27. Juni 2013 leitete das LRA das Nachprüfungsverfahren ein, in dessen Rahmen der Kläger die Feststellung der gesundheitlichen Voraussetzungen für die Inanspruchnahme des Nachteilsausgleichs „aG“ beantragte.

Aus dem Bericht der Lebenshilfe e. V. ergab sich der Kindergartenbesuch seit dem 11. Oktober 2011. Zum motorischen Bereich wurde ausgeführt: kann Krabbeln, kein selbständiges Stehen oder Gehen möglich, stark hypoton, leichte Spastik, stark eingeschränkte Fein- und Grobmotorik.

Dem Bericht des Diakonie-Klinikum Sch. H. gGmbH über die Vorstellung am 9. August 2012 ließ sich entnehmen, dass Laufen mit beiden Händen festgehalten über mehrere Schritte möglich, ein dosiertes Zurücksetzen nur schwer möglich sei. Im Sitz/Stand bestehe eine Tendenz zur Gewichtsverlagerung auf die rechte Seite.

Versorgungsärztlich wurde von Dr. Z. die psychomotorische Entwicklungsstörung weiterhin mit einem GdB von 80 bewertet sowie weiterhin vom Vorliegen der Voraussetzungen der Nachteilsausgleiche „G“, „B“ und „H“ ausgegangen. Die gesundheitlichen Voraussetzungen für die Inanspruchnahme des Nachteilsausgleichs „aG“ lägen hingegen nicht vor.

Der Arzt für Kinder- und Jugendmedizin Dr. J. teilte mit, der Kläger sei derzeit in der Lage, an Möbeln aufzustehen und etwas daran entlang zu gehen. Seine Gehstrecke sei kurz und entspreche der Länge der benutzten Möbel. Eine Gehsicherheit bestehe leider nicht. Ergänzend legte er den Bericht der Physiotherapeutin P. von September 2013 vor, wonach der Kläger zum Stand an Möbeln komme. Seine Füße seien besser aufgerichtet.

Dr. Z. führte versorgungsärztlich aus, die aktuelle Gehstrecke dürfte sich jetzt kurzfristig durch eine konsequente Therapie weiter verbessern. Die Voraussetzungen des Nachteilsausgleichs „aG“ fänden sich nicht. Durch Bescheid vom 9. Januar 2014 lehnte daraufhin das LRA die Feststellung der gesundheitlichen Merkmale für die Inanspruchnahme des Nachteilsausgleichs „aG“ ab. Durch weiteren Bescheid vom 10. Januar 2014 führte das LRA aus, aufgrund des Ergebnisses der Überprüfung sei derzeit nicht beabsichtigt, den GdB herabzusetzen sowie eventuell festgestellte gesundheitliche Merkmale für die Inanspruchnahme von Nachteilsausgleichen zu entziehen.

Mit dem streitgegenständlichen Antrag vom 27. April 2016 beantragte der Kläger die Feststellung der gesundheitlichen Merkmale für die Inanspruchnahme der Nachteilsausgleiche „G“, „B“, „aG“ und „RF“ (Ermäßigung der Rundfunkgebührenpflicht).

Nach dem zur Vorlage gekommenen Bericht (Zeugnis) der M. Schule über das Schuljahr 2015/2016 (1. Schulbesuchsjahr) habe der Kläger große Freude an den Bewegungssituationen gezeigt. In diesem Schuljahr sei das freie Gehen erlernt worden. Auf bekannten Wegen innerhalb des Schulgeländes habe er sich frei im Gehen bewegen können. Bei unebenen Flächen habe er jedoch noch unsicher gewirkt.

Aus dem Bericht des Diakonie-Klinikum Sch. H. gGmbH über die Vorstellung am 20. September 2016 ergab sich anamnestisch, dem Kläger falle mittlerweile das Laufen schwer, er müsse oft im Kinderwagen transportiert werden. Er habe Orthesen getragen. Nach Ablegen der Orthesen habe er sich sicher bewegen können und sogar eine Schwelle im aufrechten Gang, jedoch sehr hypoton, vor allem ab der Hüfte nach kranial, bewältigen können.

Die Versorgungsärztin P. führt aus, eine wesentliche Änderung sei nicht eingetreten. Die Voraussetzungen für die Inanspruchnahme der Nachteilsausgleiche „aG“ oder „RF“ lägen nicht vor. Hierauf gestützt lehnte das LRA durch Bescheid vom 27. Februar 2017 die Feststellung der gesundheitlichen Merkmale für die Inanspruchnahme der beantragten Nachteilsausgleiche ab.

Deswegen erhob der Kläger Widerspruch. Er benötige den Nachteilsausgleich „aG“, weil er schlecht mit den Orthesen laufen könne. Er sei acht Jahre alt, jedoch hinsichtlich des Gehvermögens auf dem Stand eines Dreijährigen.

Die Physiotherapeutin P. führte aus, der Kläger sei bei ihr in Behandlung seit er ein halbes Jahr alt sei. Seitdem habe er sich so weit entwickelt, dass er gut stehen und einige Schritte frei laufen könne. Momentan müssten seine Eltern ihn zum Teil weite Strecken tragen. Die Ablehnung des Nachteilsausgleichs „aG“ sei nicht nachvollziehbar.

Nach dem Bericht des Dr. L. über die orofaziale und neuropädiatrische Untersuchung am 20. Juli 2015 habe eine generelle Muskelhypotonie mit übertreckbaren Gelenken vorgelegen. Das Laufmuster sei breit mit rekuvierten Knien gewesen. Es hätten Knick-Senkfüße vorgelegen, Orthesen seien getragen worden.

Der Kinderarzt Dr. B. führte aus, der Kläger verfüge über Unterschenkelorthesen, über einen Rollstuhl mit Fußbank und Lumbalstütze, über einen Therapiestuhl mit Rückhaltesystem und über einen Reha-Buggy. Allein aus dieser Hilfsmittelversorgung beziehungsweise diesem Bedarf lasse sich schon auf die erhebliche Art der Behinderung schließen. Hinsichtlich des Gehvermögens sei allmählich eine Verbesserung eingetreten, aber auch bei aktuell freiem Gehen sei der Kläger recht hypoton und unsicher, sicherlich nicht ausdauernd und auch aufgrund der geistigen Behinderung sicher nicht in der Lage, sich selbständig/allein fortzubewegen. Eine ständige Beaufsichtigung und Unterstützung sei erforderlich. Es liege eindeutig eine schwere Einschränkung der Gehfähigkeit/Fortbewegung vor.

Versorgungsärztlich sah Dr. W.-G. die Voraussetzungen für die Inanspruchnahme des Nachteilsausgleichs „aG“ als nicht erfüllt an. Entscheidend sei das Ausmaß der Beeinträchtigung des Gehvermögens, das anhaltend auf das Schwerste eingeschränkt sein müsse. Es bestehe ein breites Laufmuster und es gelinge freies Gehen auf bekannten Wegen. Der Kläger habe sich ohne Orthesen sicher im aufrechten Gang bewegen und sogar eine Schwelle bewältigen können. Hierauf gestützt wies der Beklagte durch Widerspruchsbescheid vom 27. Juli 2017 den Widerspruch zurück.

Mit der am 28. August 2017 beim Sozialgericht Ulm (SG) erhobenen Klage hat der Kläger die Feststellung der gesundheitlichen Merkmale für die Inanspruchnahme des Nachteilsausgleichs „aG“ weiterverfolgt.

Neben dem bereits aktenkundigen Bericht (Zeugnis) der M. Schule über das Schuljahr 2015/2016 (1. Schulbesuchsjahr) ist zur Vorlage gekommen der Bericht (Zeugnis) über das Schuljahr 2016/2017 (2. Schulbesuchsjahr). Aus diesem hat sich ergeben, in der Bewegungsförderung habe der Schwerpunkt im Ausbau der Gehfähigkeit gelegen. Dazu hätte eine Verbesserung des Gleichgewichts beim Gehen, der Ausbau der Gehstrecke und auch des Treppensteigens gehört. Das Gangbild sei zunehmend sicherer geworden. Dem Kläger sei es gelungen, Strecken von bis zu 1,5 km ohne fremde Hilfe zu bewältigen. Im Schulhaus habe er sich völlig frei bewegt. Treppen sei er sowohl auf- als auch abwärts im Nachstellschritt gestiegen. Hierzu habe er sich meist mit zwei Händen am Geländer festgehalten. Unter Sichtkontrolle sei es ihm auch gelungen, eine Hand vom Geländer zu entfernen.

Das SG hat die behandelnden Ärzte als sachverständige Zeugen angehört und das Gutachten des Prof. Dr. B., Leiter der Sektion Sozialpädiatrisches Zentrum und Pädiatrische Neurologie der Universitätsklinik U. für Kinder- und Jugendmedizin, aufgrund ambulanter Untersuchung am 11. Dezember 2018 erhoben.

Dr. L. hat mitgeteilt, den Kläger lediglich einmalig, am 20. Juli 2015, behandelt und außerdem nur kurze Informationen durch ein Telefonat mit dessen Vater erhalten zu haben. Derzeit könne der Kläger circa 1 km Wegstrecke unter großer Anstrengung oder fremder Hilfe sowie mit Orthesen zurücklegen. Im Jahr 2015 sei es weniger gewesen. Die Voraussetzungen des Nachteilsausgleichs „aG“ lägen vor.

Nach der sachverständigen Zeugenaussage des Dr. B. habe dieser den Kläger im Jahr 2017 nur dreimal wegen fieberhafter Luftwegsinfekte gesehen. Eine Testung der Gehstrecke sei zu diesen Zeitpunkten nicht möglich gewesen. Ergänzend hat Dr. B. seinen bereits gegenüber dem LRA abgegebenen Bericht vorgelegt.

Die Psychotherapeutin P. hat angegeben, sie könne sich die Ablehnung der Feststellung der gesundheitlichen Voraussetzungen des Nachteilsausgleichs „aG“ nur mit einem Irrtum erklären. Das Gangbild sei sehr auffällig und kräfteverschleißend. Der Kläger laufe in starker Kniebeugung in allen Gangphasen, was dazu führe, dass er nur sehr kurze Strecken allein bewältigen könne. Das Zurücklegen von Wegen zum Arzt, zu Therapien oder zum Krankenhaus sei allein nicht möglich.

Dr. N., Diakonie-Klinikum Sch. H. gGmbH, hat von einer letztmaligen Vorstellung im September 2016 berichtet. Als Diagnose habe er eine schwere globale Entwicklungsstörung bei Mikrodeletion 22q11.2 mit multiplen Fehlbildungen erhoben. Im September 2016 habe der Kläger lediglich einige wenige Schritte mit Hilfestellung bewältigen können. Eine außergewöhnliche Gehbehinderung liege vor.

Im Weiteren ist zur Vorlage gekommen der Bericht (Zeugnis) der M. Schule über das Schuljahr 2017/2018 (3. Schulbesuchsjahr). Hiernach habe sich der Kläger nun im Spiel freier in den Räumen und dem angrenzenden Gartenbereich bewegt. Sei die Tagesroutine aber, etwa durch Lerngänge, unterbrochen worden, sei es für ihn wichtig gewesen, eine feste Bezugsperson zu haben, die ihn an der Hand gehalten habe. Er habe seine koordinativen Fähigkeiten weiter erweitert. Bei Lerngängen sei er weiterhin vorsichtig im Zutrauen in seine Bewegungsfähigkeit gewesen. Er habe Zeit benötigt, um seine Mitschüler in der Bewegung beobachten zu können, oftmals sei auch ein gemeinsames Handeln mit einer Lehrkraft an Bewegungsstationen oder -spielgeräten erforderlich gewesen. Bei Lerngängen sei ein Buggy nicht mehr notwendig gewesen. Der Kläger habe große Ausdauer beim Laufen gezeigt.

Das Sanitätsfachgeschäft Br. hat von einem Bedarf und regelmäßiger Nutzung der Hilfsmittel Rollstuhl mit Zubehör, Reha-Buggy, Therapiefahrrad, Therapiestuhl, Inkontinenzbadehose, Behinderten-Autositz sowie diverser Orthesen für Arm und Bein berichtet.

Prof. Dr. B. hat aufgrund der ambulanten Untersuchung am 11. Dezember 2018 ein Sachverständigengutachten erstattet. Demnach hätten die gesundheitlichen Voraussetzungen für die Inanspruchnahme des Nachteilsausgleichs „aG“ vorgelegen.

Die Eltern des Klägers hätten von einer wöchentlichen Physiotherapie in der Schule und einer vierzehntägigen außerhalb der Schule berichtet. Er habe in der Schule einen Spezialstuhl für Behinderte, zu Hause einen Stuhl mit Sitzzurichtung zur Verbesserung des aufrechten Sitzens. Überwiegend werde er mit dem Reha-Buggy transportiert. Die Krankenkasse habe jetzt Unterschenkel-orthesen genehmigt. Im häuslichen Bereich nutze er einen selbst angefertigten Gehwagen. Aus dem Bett könne er selbständig aufstehen und dann an einer Hand oder an beiden Händen geführt in der Wohnung laufen. Gleiches gelte für die kurze Distanz von einigen Metern von der Wohnung zum Schulbus. Das Laufen sei für ihn sehr anstrengend, er laufe mit gebeugten Knien an der Hand. In der Wohnung laufe er überwiegend allein unter Zuhilfenahme des Gehwagens oder halte sich fest. Bei Unternehmungen außerhalb der Wohnung werde er mit dem Reha-Buggy transportiert.

Als Untersuchungsbefund habe eine deutliche Hypotonie an Rumpf und Extremitäten mit mangelnder Aufrichtung im Sitzen und Stehen vorgelegen. In der Untersuchungssituation sei der Kläger nicht frei gelaufen, jedoch gehalten, indem er sich auf den Unterarmen seines Vaters abgestützt habe. Im Untersuchungszimmer sei er an der Hand seines Vaters gebeugt im Kauergang umhergelaufen. Auch über Distanzen von einigen Metern außerhalb des Untersuchungszimmers sei er, sofern man ihm mit einem interessanten Objekt (Ball) motiviert habe, an der Hand seines Vaters gelaufen. An dessen Hand habe er auch im Nachstellschritt circa zehn Treppenstufen auf- und abwärts laufen können, dabei hätte eine erhebliche Unsicherheit bestanden. Freies Laufen sei nicht möglich gewesen. Die Angaben zur Mobilität in der Schule hätten in der klinischen Untersuchung nicht nachvollzogen werden können, sie wären auf andere, insbesondere fremde Umgebungen nicht übertragbar.

Prof. Dr. B. hat als Diagnosen ein 22q11.2-Mikrodeletionssyndrom mit globaler Entwicklungsstörung, eine Störung der Körpermotorik (GMFCS III [Gross Motor Function Classifikation System – Stufe I kaum beeinträchtigt, Stufe V unter anderem kein freies Sitzen]), eine mittelschwere Intelligenzminderung mit Verhaltensstörung, eine fehlende Sprachentwicklung (Sprachapraxie), eine orofaziale Hypotonie mit Dyspraxie und Vekumschwäche, eine Ess- und Trinkstörung, eine milde spastische Parese des linken Armes sowie einen Z. n. Positionsanomalie des Truncus brachiocephalicus (Umsetzungsoperation 29. Dezember 2009) erhoben. Der Kläger habe eine eingeschränkte Mobilität. Laut Schulbericht könne er sich zwar im Schulgebäude frei bewegen und zu Hause bestehe laut seiner Eltern eine überwiegende Bewegungsfähigkeit mit Festhalten. In der Untersuchungssituation und vermutlich in Alltagssituationen außerhalb von Wohnung und Schule benötige er aber zur Mobilität – wie in der Untersuchungssituation klar erkennbar – Unterstützung durch eine bekannte Begleitperson, um bereits Distanzen von wenigen Metern fußläufig zu bewältigen. Seiner geistigen Behinderung komme hinsichtlich der Mobilität wesentliche Bedeutung zu. Er sei nicht nur eigenwillig und stark von seinen eigenen Interessen geleitet, sondern auch in fremden Situationen regelhaft verunsichert, so dass er sein möglicherweise vorhandenes motorisches Potenzial dann nicht ausschöpfen könne. Diese Verhaltensbesonderheiten seien für viele Menschen mit dem 22q11.2-Mikrodeletionssydnrom typisch. Es sei für jegliche Mobilität außerhalb vertrauter Umgebungen (Schule, Wohnung) nicht nur die physische Anwesenheit einer Begleitperson, sondern auch eine praktische Unterstützung beim Transfer aus einem Fahrzeug und der Bewältigung von Entfernungen bereits über wenige Meter erforderlich. Demnach sei es dem Kläger nicht möglich, regelmäßig ohne fremde Hilfe in nicht vertrauter Umgebung eine Gehstrecke von bereits wenigen Metern eigenständig zurückzulegen. Seine außergewöhnliche Gehbehinderung beruhe nicht auf orthopädischen, bewegungsbezogenen oder neuromuskulären Störungen, sondern auf seinen mentalen Funktionsstörungen, die sich aus dem Zusammenwirkung seiner syndromspezifischen schweren seelischen Behinderung und mittelschweren geistigen Behinderung ergäben. Die außergewöhnliche Gehbehinderung liege seit April 2011 vor. Der Aktenlage lasse sich entnehmen, dass diese in den ersten Jahren ursprünglich durch die damals bestehenden neuromuskulären Funktionsstörungen begründet gewesen sei. Diese hätten sich erfreulicherweise gebessert und lägen nur noch teilweise vor. Im Vordergrund stünden jetzt aber die mentalen Funktionsstörungen, die weiterhin eine außergewöhnliche Gehbehinderung verursachten. Es sei allerdings vorstellbar, dass der Kläger im Lauf seiner weiteren Entwicklung und Förderung bei konsequentem Training auch in diesem Bereich Fortschritte entwickeln könne.

Der Beklagte hat sich dem Gutachten des Prof. Dr. B. nicht anschließen könne. Er hat auf die sachverständige Zeugenaussage des Dr. L., die Auskunft der Physiotherapeutin P. und die Zeugnisse der M. Schule verwiesen, woraus sich die gesundheitlichen Voraussetzungen für die Inanspruchnahme des Nachteilsausgleichs „aG“ nicht ableiten ließen. In ihrer versorgungsärztlichen Stellungnahme habe Dr. K. zwar eine Erhöhung des GdB auf 100 vorgeschlagen, sei vom Vorliegen der Voraussetzungen des Nachteilsausgleichs „aG“ ausgegangen und habe in ihrer ergänzenden Stellungnahme auch einen mobiltätsbezogenen GdB von 80 bestätigt. Der Kläger könne sich jedoch im Schulgebäude ohne Hilfe über 1,5 km frei bewegen. Im häuslichen Umfeld und in fremden Umgebungen sei er zwar auf einen Reha-Buggy angewiesen; im Umkehrschluss ergebe sich jedoch, dass er hierauf in bekannter Umgebung nicht angewiesen sei. Auch die leitende Ärztin Dr. F. habe sich bei diesem Sachverhalt versorgungsärztlich nicht davon überzeugen können, dass die Voraussetzungen des Nachteilsausgleichs „aG“ gegeben seien.

Aus der versorgungsärztlichen Stellungnahme der Dr. K. hat sich ergeben, dass nach den Untersuchungsbefunden des Prof. Dr. B. eine deutliche Hypotonie des Rumpfes und der Extremitäten mit mangelnder Aufrichtung im Sitzen und Stehen dokumentiert seien. Bei dem beschriebenen erheblich unsicheren Gangbild (im Kauergang) sei die Empfehlung des fachärztlichen Sachverständigen nicht stichhaltig widerlegbar. Laut den wiedergegebenen Angaben über die Mobilität des Klägers in vertrauter Umgebung sei bei dem beschriebenen Gangbild von einer außergewöhnlichen Gehbehinderung durchaus auszugehen. Angesichts der Angaben über die geistige Behinderung mit schweren Kommunikationsstörungen sowie über die körperliche Behinderung und über die Verhaltensbesonderheiten werde eine Erhöhung des GdB auf 100 vorgeschlagen. In einer weiteren Stellungnahme hat Dr. K. wegen der gutachterlich beschriebenen Störung der Körpermotorik ausgeführt, dass bei finaler Betrachtung von einem mobilitätsbezogenen GdB von 80 auszugehen sei.

Nach der versorgungsärztlichen Stellungnahme der Dr. F. hat sich diese nach erneuter Prüfung den versorgungsärztlichen Stellungnahmen der Dr. K. nicht anschließen können. Die in den Berichten des Diankonie-Klinikums Sch. H. gGmbH und der M. Schule dokumentierte Gehfähigkeit von 1,5 km begründe nicht die Voraussetzungen des Nachteilsausgleichs „aG“.

In einer weiteren Stellungnahme hat der Beklagte ausgeführt, die Störung der Körpermotorik des Klägers beeinträchtige dessen Gehfähigkeit nicht derart gravierend, dass diese von den ersten Schritten an auf das Schwerste eingeschränkt sei. Demnach liege auch kein mobilitätsbezogener Einzel-GdB von 80 vor. Er könne sich im Schulgebäude ohne Hilfe über eine Strecke von bis zu 1,5 km frei bewegen und habe große Ausdauer beim Laufen gezeigt. Bei Lerngängen benötige er keinen Buggy mehr. Auch nutze er nach dem Schulbericht vielfältige Bewegungsmöglichkeiten und könne Treppen sowohl aufwärts als auch abwärts begehen, auch wenn er hierbei in der Untersuchungssituation die Hilfestellung seines Vaters benötigt habe. Wenn das Sachverständigengutachten ausführe, er sei aufgrund seiner mentalen Funktionsstörung vermutlich in fremder Umgebung über Gehstrecken von wenigen Metern auf den Transport im Rollstuhl oder Reha-Buggy angewiesen, begründe dies keinen Dauerzustand.

Nach dem Bericht (Zeugnis) der M. Schule über das Schuljahr 2018/2019 (4. Schulbesuchsjahr) habe sich der Kläger in bekannten Räumen und wiederkehrenden Situationen zunehmend selbständiger verhalten. Der direkte Körperkontakt zu einer Bezugsperson sei nicht mehr so ausschließlich wichtig gewesen. Innerhalb des Klassenzimmers habe er ein größeres Interesse an den verschiedenen Spielgegenständen gezeigt und diese auch selbständig ausprobiert. Seine größere Selbständigkeit habe sich auch auf wiederholende Lerngänge außerhalb des Schulgeländes (Gelände des heilpädagogischen Reitens, SchwimmH.e) übertragen. Unbekannten Situationen gegenüber habe er sich jedoch immer noch ängstlich verhalten und sei zurück in die Beobachterrolle gegangen. Zur Psychomotorik hat der Bericht ausgeführt, der Kläger habe innerhalb der Bewegungslandschaft eine gute Eigeninitiative gezeigt und verschiedene Bewegungsmöglichkeiten ausprobiert. Hierbei sei er in der vertrauten Umgebung der SportH.e nun unabhängig von der Lehrkraft gewesen.

Das SG hat durch Urteil aufgrund mündlicher Verhandlung vom 21. Oktober 2019 den Bescheid vom 27. Februar 2017 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 27. Juli 2017 aufgehoben und den Beklagten verpflichtet, ab dem 11. Dezember 2018 das Vorliegen der gesundheitlichen Voraussetzungen für die Inanspruchnahme des Nachteilsausgleichs „aG“ festzustellen. Es hat sich auf das Gutachten des Prof. Dr. B. gestützt. Die Mutter des Klägers habe in der mündlichen Verhandlung ausgeführt, er bewege sich außerhalb des Hauses ausschließlich im Rollstuhl oder im Reha-Buggy. In nicht vertrauter Umgebung könne er nur sehr eingeschränkt laufen. Die Voraussetzungen des Nachteilsausgleichs „aG“ seien jedoch nicht bereits seit der Antragstellung, sondern erst ab dem Zeitpunkt der Begutachtung durch Prof. Dr. B. erwiesen. Vor diesem Zeitpunkt hätten aufgrund der Berichte der M. Schule und des Dr. L. erhebliche Zweifel am Vorliegen der diesbezüglichen Voraussetzungen bestanden.

Am 13. November 2019 hat der Beklagte gegen das ihm am 31. Oktober 2019 zugestellte Urteil des SG Berufung beim Landessozialgericht Baden-Württemberg (LSG) eingelegt.

Zur Berufungsbegründung führt der Beklagte aus, nach dem Gutachten des Prof. Dr. B., auf das sich das SG gestützt habe, bestünden beim Kläger mentale Funktionsstörungen, die sich aus dessen seelischer Behinderung und mittelschwerer geistiger Behinderungen ergäben, die so schwergradig seien, dass sie einer erheblichen mobilitätsbezogenen Teilhabebeeinträchtigung gleichkämen, die einem GdB von mindestens 80 entspräche. Aufgrund des 22q11.2-Mikrodeletionssyndroms sei er in fremden Umgebungen verunsichert und könne deshalb sein möglicherweise vorhandenes motorisches Potential nicht ausschöpfen. Er benötige für jegliche Mobilität außerhalb vertrauter Umgebungen nicht nur eine physische Anwesenheit, sondern praktische Unterstützung beim Zurücklegen von Entfernungen über bereits wenige Meter. Die gesundheitlichen Voraussetzungen für die Inanspruchnahme des Nachteilsausgleiches „aG“ seien nicht erfüllt. Denn der Kläger sei nicht dauerhaft auch für sehr kurze Entfernungen auf fremde Hilfe oder die Verwendung eines Rollstuhls angewiesen. Aufgrund des bestehenden Krankheitsbildes treffe dies nur auf fremde Umgebungen zu. In vertrauter Umgebung sei es ihm möglich, sich weitgehend frei und ohne Hilfe zu bewegen. So sei in den Schulberichten der M. Schule dargelegt, er könne Strecken von bis zu 1,5 km ohne fremde Hilfe bewältigen. Auch das Treppensteigen habe er sowohl auf- als auch abwärts im Nachstellschritt unter Zuhilfenahme des Geländers absolviert. Weiter sei berichtet worden, dass er sich freier in den Schulräumen und dem angrenzenden Gartenbereich bewegt habe, bei Lerngängen kein Buggy mehr benötigt worden sei und er große Ausdauer beim Laufen gezeigt habe. Er habe regelmäßig am Schwimmunterricht teilgenommen und hierbei große Ausdauer und Bewegungsfreude gezeigt. Im hauswirtschaftlichen Bericht sei erwähnt worden, nach dem Kochen würde er selbständig den Küchenwagen in die Küche schieben und beim Aufräumen helfen. Im Schuljahr 2018/2019 habe er am heilpädagogischen Reiten teilgenommen und hierbei eine aufrechte Sitzposition einhalten können. Schilderungen zu einem ständigen Hilfe- und Unterstützungsbedarf beim Gehen oder Laufen fänden sich hingegen in den Schulberichten nicht.

Der Beklagte beantragt, Der Beklagte beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Ulm vom 21. Oktober 2019 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Der Kläger beantragt,

die Berufung des Beklagten zurückzuweisen.

Er hält das Urteil des SG für zutreffend und verweist auf die gutachterlichen Feststellungen des Prof. Dr. B..

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung des Senats ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.

Hinsichtlich des weiteren Sach- und Streitstandes wird auf die Verwaltungs- und Gerichtsakte Bezug genommen.


Entscheidungsgründe

Die form- und fristgerecht (§ 151 Sozialgerichtsgesetz [SGG]) eingelegte Berufung, über die der Senat mit Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung entscheidet (§ 124 Abs. 2 SGG), ist statthaft (§§ 143, 144 SGG), auch im Übrigen zulässig, aber unbegründet.

Gegenstand des Berufungsverfahrens ist das Urteil des SG vom 21. Oktober 2019, mit dem das SG auf die kombinierte Anfechtungs- und Verpflichtungsklage (§ 54 Abs. 1 SGG) des Klägers den Bescheid vom 27. Februar 2017 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 27. Juli 2017 (§ 95 SGG) – sinngemäß – abgeändert und den Beklagten verpflichtet hat, ab dem 11. Dezember 2018 die gesundheitlichen Voraussetzungen für die Inanspruchnahme des Nachteilsausgleichs „aG“ festzustellen. Nicht Gegenstand des Berufungsverfahrens ist hingegen das Vorliegen der Voraussetzungen des Nachteilsausgleichs „aG“ bereits vor dem 11. Dezember 2018. Denn der Kläger hat selbst keine Berufung oder Anschlussberufung erhoben. Maßgebender Zeitpunkt für die Beurteilung der Sach- und Rechtslage ist bei dieser Klageart in Ermangelung einer mündlichen Verhandlung derjenige der gerichtlichen Entscheidung (vgl. Keller in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, Kommentar zum SGG, 13. Aufl. 2020, § 54 Rz. 34).

Die Unbegründetheit der Berufung folgt aus der Begründetheit der Klage, soweit sie im Berufungsverfahren gegenständlich ist. Der Bescheid vom 27. Februar 2017 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 27. Juli 2017 ist insoweit rechtwidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten (§ 54 Abs. 1 Satz 2 SGG) als der Beklagte nicht ab dem 11. Dezember 2018, dem Zeitpunkt der gutachterlichen Untersuchung durch Prof. Dr. B., die gesundheitlichen Voraussetzungen für die Inanspruchnahme des Nachteilsausgleichs „aG“ festgestellt hat.

Da maßgeblich die Sach- und Rechtslage zum Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung ist (vgl. oben), richtet sich der Anspruch des Klägers nach dem SGB IX in der seit dem 1. Januar 2018 geltenden Fassung. Es kommt daher nicht darauf an, dass sich während des seit 2016 laufenden Verfahrens die gesetzlichen Grundlagen für den Nachteilsausgleich „aG“ geändert haben. Nachdem eine Übergangsregelung nicht existiert, gilt die Neuregelung für alle Ansprüche, über die am Tag ihres Inkrafttretens noch nicht bestandskräftig entschieden ist (vgl. Senatsurteil vom 3. August 2017 – L 6 SB 3654/16 – n. v.).

Anspruchsgrundlage für die begehrte Feststellung ist § 152 Abs. 4 SGB IX. Dieser bestimmt, dass wenn neben dem Vorliegen einer Behinderung weitere gesundheitliche Merkmale Voraussetzungen für die Inanspruchnahme von Nachteilsausgleichen sind, die zuständigen Behörden die erforderlichen Feststellungen im Verfahren nach § 152 Abs. 1 SGB IX treffen.Zu diesen Nachteilsausgleichen gehört das im Sinne des § 6 Abs. 1 Nr. 14 Straßenverkehrsgesetz (StVG) oder entsprechender straßenverkehrsrechtlicher Vorschriften in den Schwerbehindertenausweis einzutragende Merkzeichen „aG“ (§ 3 Abs. 1 Nr. 1 Schwerbehindertenausweisverordnung [SchwbAwV]). Diese Feststellung zieht straßenverkehrsrechtlich die Gewährung von Parkerleichterungen im Sinne von § 46 Abs. 1 Nr. 11 Straßenverkehrsordnung (StVO) nach sich, insbesondere die Nutzung von gesondert ausgewiesenen „Behindertenparkplätzen“ und die Befreiung von verschiedenen Parkbeschränkungen. Darüber hinaus führt sie unter anderem zur Befreiung von der Kraftfahrzeugsteuer (§ 3a Abs. 1 Kraftfahrzeugsteuergesetz [KraftStG]) bei gleichzeitiger Möglichkeit der unentgeltlichen Beförderung im öffentlichen Personennahverkehr (§ 228 Abs. 1 SGB IX) und gegebenenfalls zur Ausnahme von allgemeinen Fahrverboten nach § 40 Bundesimmissionsschutzgesetz (BImSchG).

§ 229 Abs. 3 SGB IX enthält nunmehr die Legaldefinition des Nachteilsausgleichs „aG“, die zuvor aufgrund Art. 3 Nr. 13 des Gesetzes zur Teilhabe und Selbstbestimmung von Menschen mit Behinderungen (Bundesteilhabegesetz – BTHG) vom 23. Dezember 2016 seit dem 30. Dezember 2016 in § 146 Abs. 3 SGB IX a. F. enthalten war.Nach § 229 Abs. 3 SGB IX sind schwerbehinderte Menschen mit außergewöhnlicher Gehbehinderung Personen mit einer erheblichen mobilitätsbezogenen Teilhabebeeinträchtigung, die einem Grad der Behinderung von mindestens 80 entspricht (Satz 1). Eine erhebliche mobilitätsbezogene Teilhabebeeinträchtigung liegt vor, wenn sich die schwerbehinderten Menschen wegen der Schwere ihrer Beeinträchtigung dauernd nur mit fremder Hilfe oder mit großer Anstrengung außerhalb ihres Kraftfahrzeuges bewegen können (Satz 2). Hierzu zählen insbesondere schwerbehinderte Menschen, die auf Grund der Beeinträchtigung der Gehfähigkeit und Fortbewegung – dauerhaft auch für sehr kurze Entfernungen – aus medizinischer Notwendigkeit auf die Verwendung eines Rollstuhls angewiesen sind (Satz 3). Verschiedenste Gesundheitsstörungen (insbesondere Störungen bewegungsbezogener, neuromuskulärer oder mentaler Funktionen, Störungen des kardiovaskulären oder Atmungssystems) können die Gehfähigkeit erheblich beeinträchtigen (Satz 4). Diese sind als außergewöhnliche Gehbehinderung anzusehen, wenn nach versorgungsärztlicher Feststellung die Auswirkung der Gesundheitsstörungen sowie deren Kombination auf die Gehfähigkeit dauerhaft so schwer ist, dass sie der unter § 229 Abs. 3 Satz 1 SGB IX genannten Beeinträchtigung gleichkommt (Satz 5).

Nach der Gesetzesbegründung (vgl. BT-Drucks. 18/9522, S. 318) kann beispielsweise bei folgenden Beeinträchtigungen eine solche Schwere erreicht werden, dass eine erhebliche mobilitätsbezogene Teilhabebeeinträchtigung vorliegt: zentralnervösen, peripher-neurologischen oder neuromuskulär bedingten Gangstörungen mit der Unfähigkeit, ohne Unterstützung zu gehen oder wenn eine dauerhafte Rollstuhlbenutzung erforderlich ist (insbesondere bei Querschnittlähmung, Multipler Sklerose, Amyotropher Lateralsklerose (ALS), Parkinsonerkrankung, Para- oder Tetraspastik in schwerer Ausprägung), einem Funktionsverlust beider Beine ab Oberschenkelhöhe oder einem Funktionsverlust eines Beines ab Oberschenkelhöhe ohne Möglichkeit der prothetischen oder orthetischen Versorgung (insbesondere bei Doppeloberschenkelamputierten und Hüftexartikulierten), schwerster Einschränkung der Herzleistungsfähigkeit (insbesondere bei Linksherzschwäche Stadium NYHA IV), schwersten Gefäßerkrankungen (insbesondere bei arterieller Verschlusskrankheit Stadium IV), Krankheiten der Atmungsorgane mit nicht ausgleichbarer Einschränkung der Lungenfunktion schweren Grades und einer schwersten Beeinträchtigung bei metastasierendem Tumorleiden (mit starker Auszehrung und fortschreitendem Kräfteverfall).

§ 229 Abs. 3 SGB IX normiert mehrere (kumulative) Voraussetzungen: Zunächst muss bei dem Betroffenen eine mobilitätsbezogene Teilhabebeeinträchtigung bestehen, diese muss einem GdB von mindestens 80 entsprechen. Darüber hinaus muss die mobilitätsbezogene Teilhabebeeinträchtigung auch erheblich sein. Mit der Bezugnahme auf mobilitätsbezogene Teilhabebeeinträchtigungen wollte sich der Gesetzgeber von der Einengung auf orthopädische Gesundheitsstörungen lösen, so dass „keine Fallgestaltung von vornherein bevorzugt oder ausgeschlossen wird, auch nicht dem Anschein nach“ (vgl. BT-Drs. 18/9522, S. 318). Trotz dieser Ausweitung übernimmt die Neuregelung den bewährten Grundsatz, dass das Recht, Behindertenparkplätze zu benutzen, nur unter engen Voraussetzungen eingeräumt werden darf und verlangt daher einen – relativ hohen – GdB von wenigstens 80 für die mobilitätsbezogene Teilhabebeeinträchtigung. Dabei ist an den tatsächlich zuerkannten GdB anzuknüpfen (vgl. Senatsurteil vom 3. August 2017 – L 6 SB 3654/16 – n. v.; vgl. auch LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 27. Januar 2017 – L 8 SB 943/16 –, juris, Rz. 49).

Gemessen an diesen gesetzlichen Vorgaben hat der Beklagte zu Unrecht durch den Bescheid vom 27. Februar 2017 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 27. Juli 2017 die Feststellung der gesundheitlichen Merkmale für die Inanspruchnahme des Nachteilsausgleichs „aG“ ab dem 11. Dezember 2018, dem Zeitpunkt der gutachterlichen Untersuchung durch Prof. Dr. B., abgelehnt. Das SG hat den Beklagten zu Recht zur Feststellung der entsprechenden gesundheitlichen Merkmale ab dem 11. Dezember 2018 verpflichtet.

Der Kläger leidet, wie der Senat dem Gutachten des Prof. Dr. B. entnimmt, an einem 22q11.2-Mikrodeletionssyndrom mit globaler Entwicklungsstörung. Infolgedessen bestehen eine Störung der Körpermotorik (GMFCS III), eine mittelschwere Intelligenzminderung mit Verhaltensstörung, eine fehlende Sprachentwicklung (Sprachapraxie), eine orofaziale Hypotonie mit Dyspraxie und Vekumschwäche, eine Ess- und Trinkstörung und eine milde spastische Parese des linken Armes. Darüber hinaus liegt vor ein Z. n. Positionsanomalie des Truncus brachiocephalicus (Umsetzungsoperation am 29. Dezember 2009). Folge der Störung der Köpermotorik ist eine deutliche Hypotonie an Rumpf und Extremitäten mit mangelnder Aufrichtung im Sitzen und Stehen. Der Kläger kann in unbekannter Umgebung nicht frei laufen und benötigt Unterstützung durch eine Begleitperson, auf deren Unterarm er sich abstützen muss. Sein Gangbild ist gebeugt, er läuft im Kauergang, demnach mit stark gebeugten Knien. An der Hand einer Begleitperson ist ihm möglich, im Nachstellschritt circa zehn Treppenstufen auf- und abwärts laufen zu können, hierbei besteht jedoch eine erhebliche Unsicherheit. Auch dies entnimmt der Senat dem Gutachten des Prof. Dr. B..

Diese mobilitätsbezogene Teilhabebeeinträchtigung des Klägers, wie sie in einer für ihn fremden Umgebung auftritt, entspricht nach Ansicht des Senats einem GdB von mindestens 80. Sie ist vergleichbar dem Verlust eines Beines im Hüftgelenk oder mit sehr kurzem Oberschenkelstumpf, dem Verlust beider Beine im Unterschenkel oder der Versteifung beider Hüftgelenke (Anlage „Versorgungsmedizinische Grundsätze“ zu § 2 Versorgungsmedizin-Verordnung [VG], Teil B, Nr. 18.14). Auch die Versorgungsärztin Dr. K. hat, selbst wenn sich der Beklagte deren versorgungsärztlicher Stellungnahme nicht angeschlossen hat, eine mobilitätsbezogene Teilhabebeeinträchtigung in Höhe eines GdB von 80 bejaht.

Darüber hinaus ist die mobilitätsbezogene Teilhabebeeinträchtigung auch erheblich im Sinne des § 229 Abs. 3 Satz 2 SGB IX, da sich der Kläger wegen der Schwere seiner Beeinträchtigung dauernd nur mit fremder Hilfe oder mit großer Anstrengung außerhalb eines Kraftfahrzeuges bewegen kann. Entgegen den Ausführungen des Beklagten ist unerheblich, ob sein Gehvermögen in einer ihm bekannten Umgebung, insbesondere im häuslichen Bereich oder in der Schule, ein Ausmaß erreicht, wonach die Voraussetzungen des § 229 Abs. 3 Satz 2 SGB IX nicht mehr gegeben sein könnten. Aus den Berichten der M. Schule ergibt sich insofern unter anderem, dass er selbständig eine Strecke von bis zu 1,5 km frei zurücklegen gekonnt, große Ausdauer beim Gehen gezeigt, er im Nachstellschritt ohne fremde Hilfe Treppen auf- und abgehen gekonnt und bei Lerngängen keinen Buggy mehr benötig hat.

Nach Ansicht des Senats sind aber die gesundheitlichen Voraussetzungen des Nachteilsausgleichs „aG“ nach dessen Sinn und Zweck des behinderungsbedingten Mobilitätsausgleichs und der damit verbundenen Integration schwerbehinderter Menschen in die Gesellschaft auszulegen. Im Hinblick auf dessen nachteilsausgleichende Wirkung durch die Nutzbarkeit von Behindertenparkplätzen und damit der Verkürzung der Gehstrecke bei der Verrichtung alltäglicher Angelegenheiten wie dem Besuch der Schule, der Arbeitsstätte, des Arztes, von kirchlichen und kulturellen Einrichtungen oder beim Einkaufen ist es insofern allein maßgeblich, in welchem Ausmaß das Gehvermögen bei diesen Verrichtungen eingeschränkt ist. Der streitige Nachteilsausgleich mit der einhergehenden Vergünstigung des Parkens ist schon von seinem Verständnis her auf eine fremde Umgebung ausgerichtet. Ob das Gehvermögen in einer bekannten Umgebung nicht so eingeschränkt ist, ist unerheblich. Allein unter diesen Gesichtspunkten ist auch das Tatbestandsmerkmal „dauernd“ zu bestimmen.

Insofern hat Prof. Dr. B. für den Senat schlüssig und nachvollziehbar ausgeführt, dass der geistigen Behinderung des Klägers hinsichtlich seiner Mobilität wesentliche Bedeutung zukommt. Behinderungsbedingt kann der Kläger sein motorisches Potenzial nur in vertrauter Umgebung ausschöpfen, außerhalb derer ist nicht nur eine physische Anwesenheit, sondern eine praktische Unterstützung bereits bei Entfernungen über wenige Meter erforderlich. Er ist nämlich in fremden Situationen regelhaft verunsichert, so dass er sich bei einer ihm bekannten Begleitperson abstützen muss, demnach dauernd fremde Hilfe in unbekannter Umgebung benötigt, d. h. insbesondere im Rollstuhl oder Reha-Buggy transportiert werden muss. Diese regelhafte Verunsicherung des Klägers in einer fremden Umgebung oder in fremden Situationen ergibt sich für den Senat auch aus den Berichten der M. Schule, die im Wege des Urkundsbeweises (§ 118 Abs. 1 Satz 1 SGG i. V. m. § 415 ff. Zivilprozessordnung [ZPO]) verwertet werden. Demnach hat der Kläger in für ihn unbekannten Situationen, etwa bei der Unterbrechung der Tagesroutine durch Lerngänge, den Kontakt zu einer Bezugsperson gesucht, die ihn an der Hand hält. Er hat Zeit benötigt, um seine Mitschüler in der Bewegung beobachten zu können, und oftmals Bewegungsstationen oder -spielgeräte nur gemeinsam mit einer Lehrkraft bewältigen können. Lediglich in einer ihm vertrauten Umgebung, etwa in der SportH.e, hat er sich selbständig bewegen können.

Nach alledem hat der Beklagte zu Unrecht durch den Bescheid vom 27. Februar 2017 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 27. Juli 2017 nicht ab dem 11. Dezember 2018 die gesundheitlichen Voraussetzungen für die Inanspruchnahme des Nachteilsausgleichs „aG“ festgestellt. Das SG hat den Beklagten zu Recht durch Urteil vom 21. Oktober 2019 zu der entsprechenden Feststellung verpflichtet. Die Berufung des Beklagten war deshalb zurückzuweisen.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG. Gründe, die Revision zuzulassen, sind nicht gegeben, da die Voraussetzungen des § 160 Abs. 2 SGG nicht vorliegen.



Versorungsmedizinische Grundsätze
in der Fassung der 5. Verordnung zur Änderung der Versorgungsmedizin-Verordnung