Merkzeichen aG - außergewöhnliche Gehbehinderung - keine Zuerkennung bei selbständigem Gehen über Strecken von 50 bis 80 Metern unter Zuhilfenahme eines Rollators


Landessozialgericht Berlin-Brandenburg 13. Senat
18.01.2019
L 13 SB 312/16
Juris



Entscheidungsgründe

Die Beteiligten streiten über die Zuerkennung des Merkzeichens aG (außergewöhnliche Gehbehinderung).

Der Beklagte stellte zugunsten des Klägers mit Bescheid vom 15. Juli 1992 einen Grad der Behinderung (GdB) von 70 Prozent und das Merkzeichen G (erhebliche Gehbehinderung) fest.

Mit seinem am 8. März 2013 beim Beklagten eingegangenen Änderungsantrag begehrte der Kläger eine Erhöhung des GdB sowie die Zuerkennung der Merkzeichen B, G, aG, H und RF.

Der Beklagte zog daraufhin Befundberichte der Chirurgin Dr. D und dem Urologen Dr. Sp bei. Nach Auswertung der medizinischen Unterlagen erteilte der Beklagte einen Neufeststellungsbescheid vom 9. Dezember 2013, mit welchem zugunsten des Klägers ein GdB von 100 sowie die Merkzeichen G und B festgestellt wurden. Die Zuerkennung der Merkzeichen aG, H und RF lehnte der Beklagte ab. Dabei ging der Beklagte von folgenden Gesundheitsstörungen aus:

1. Hirnschädigung mit kognitiven Leistungsstörungen
2. Herzleistungsminderung
3. Harninkontinenz
4. Funktionsstörung der Wirbelsäule
5. Funktionsstörung des rechten Schultergelenks
6. Funktionsstörung beider Hüftgelenke
7. Funktionsstörung beider Kniegelenke

Auf den Widerspruch des Klägers vom 13. Januar 2014 zog der Beklagte weitere medizinische Unterlagen bei und wies den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 21. Mai 2014 als unbegründet zurück.

Mit seiner dagegen am 16. Juni 2014 erhobenen Klage verfolgte der Kläger sein Begehren darauf beschränkt weiter, das Merkzeichen aG zuerkannt zu bekommen. Sein Gesundheitszustand habe sich weiter verschlechtert. Seine Gehbehinderung sei schwerwiegender als die anderer Menschen, welche eine Prothese tragen würden. Er sei nicht in der Lage, sich ohne Hilfe einer zweiten Person wenige Meter auf der Straße zu bewegen, Treppen zu steigen oder aus dem Liegen oder Sitzen aufzustehen. Zugleich forderte er die Durchführung einer Begutachtung.

Mit Urteil vom 17. Oktober 2016 wies das Sozialgericht die Klage als unbegründet ab. Der Kläger gehöre nicht zu dem Personenkreis, dem das Merkzeichen aG zuzuerkennen sei. Das ergebe sich aus dem im Gerichtsverfahren eingeholten Sachverständigengutachten des Sozialmediziners Dr. A-S vom 19. April 2016, der den Kläger am 24. Mai 2016 untersucht hat. Dem Kläger sei es im Rahmen der Begutachtung möglich gewesen, eine Wegstrecke von 80 Metern innerhalb von 7-8 Minuten mit Unterbrechungen zurückzulegen. Das Hinsetzen und Aufstehen erfolge zwar extrem mühsam, jedoch weitgehend selbstständig. Der Kläger sei in seinem Gehvermögen einem Doppeloberschenkelamputierten nicht gleichzusetzen. Die übrigen gesundheitlichen Einschränkungen seien nicht so ausgeprägt, dass schwere Dekompensationserscheinungen bzw. Ruheinsuffizienz vorliegen würden.

Mit seiner am 27. Dezember 2016 eingelegten Berufung verfolgt der Kläger sein Begehren weiter.

Der Kläger beantragt sinngemäß,

das Urteil des Sozialgerichts Cottbus vom 17. Oktober 2016 aufzuheben sowie den Beklagten unter Änderung des Bescheides vom 9. Dezember 2013 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 21. Mai 2014 zu verpflichten, bei ihm mit Wirkung ab dem 8. März 2013 das Vorliegen der gesundheitlichen Voraussetzungen für das Merkzeichen aG festzustellen.

Der Beklagte beantragt,

die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Cottbus vom 17. Oktober 2016 zurückzuweisen.

Wegen der weiteren Ausführungen der Beteiligten wird auf deren Schriftsätze Bezug genommen. Ferner wird auf den übrigen Inhalt der Gerichtsakte und des Verwaltungsvorgangs der Beklagten verwiesen, die dem Gericht vorgelegen haben und Gegenstand der Entscheidungsfindung gewesen sind. II.

Der Senat konnte die Berufung des Beklagten gem. §§ 153 Abs. 4 Sozialgerichtsgesetz (SGG) ohne mündliche Verhandlung durch Beschluss zurückweisen, weil er sie einstimmig für unbegründet und eine mündliche Verhandlung nicht für erforderlich hält. Die Beteiligte sind zu dieser Verfahrensweise gehört worden.

Die zulässige Berufung des Klägers ist unbegründet.

Das Sozialgericht hat die Klage mit der angefochtenen Entscheidung zu Recht abgewiesen. Der Kläger hat keinen Anspruch auf Feststellung des Merkzeichens aG.

Nach der für das Sozialgericht zum Zeitpunkt seiner Entscheidung maßgeblichen Vorschrift des § 69 Abs. 4 SGB IX i. V. m. § 6 Abs. 1 Nr. 14 Straßenverkehrsgesetz, ist in seiner Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr erheblich beeinträchtigt, wer infolge einer Einschränkung des Gehvermögens (auch durch innere Leiden oder infolge von Anfällen oder Störungen der Orientierungsfähigkeit), nicht ohne erhebliche Schwierigkeiten oder nicht ohne Gefahren für sich oder andere Wegstrecken im Ortsverkehr zurückzulegen vermag, die üblicherweise noch zu Fuß zurückgelegt werden. Voraussetzung ist darüber hinaus, dass Ursache der beeinträchtigten Bewegungsfähigkeit eine Behinderung des schwerbehinderten Menschen sein und diese Behinderung dessen Gehvermögen einschränken muss. Allerdings ist das menschliche Gehvermögen keine statische Messgröße, sondern wird von verschiedenen Faktoren geprägt und variiert. Darunter sind neben den anatomischen Gegebenheiten des Körpers, also Körperbau und etwaige Behinderungen, vor allem der Trainingszustand, die Tagesform, Witterungseinflüsse, die Art des Gehens sowie Persönlichkeitsmerkmale, vor allem die Motivation zu nennen. Hiervon haben all jene Faktoren außer Betracht zu bleiben, die die Bewegungsfähigkeit des schwerbehinderten Menschen im Straßenverkehr nicht infolge einer behinderungsbedingten Einschränkung des Gehvermögens, sondern aus anderen Gründen erheblich beeinträchtigen (vgl. insgesamt: BSG, Urteil vom 13.08.1997 - 9 RVs 1/96 -, juris). Weder der gesteigerte Energieaufwand noch eine in Metern ausgedrückte Wegstrecke taugen grundsätzlich dazu, ein anspruchsausschließendes Restgehvermögen zu quantifizieren oder zu qualifizieren. Denn die maßgeblichen straßenverkehrsrechtlichen Vorschriften stellen nicht darauf ab, über welche Wegstrecke ein schwerbehinderter Mensch sich außerhalb seines Kraftfahrzeuges zumutbar noch bewegen kann, sondern darauf, unter welchen Bedingungen ihm dies nur noch möglich ist: nämlich nur mit fremder Hilfe oder nur mit großer Anstrengung. Wer diese Voraussetzung praktisch von den ersten Schritten außerhalb seines Kraftfahrzeuges an erfüllt, qualifiziert sich für den entsprechenden Nachteilsausgleich auch dann, wenn er gezwungenermaßen auf diese Weise längere Wegstrecken zurücklegt (BSG Urteil vom 29. März 2007 - B 9a SB 5/05 R -, juris Rn. 14). v Unter Anlegung dieser Maßstäbe ist die Entscheidung des Sozialgerichts nicht zu beanstanden. Der Senat folgt daher gem. § 153 Abs. 2 SGG den Gründen der angefochtenen Entscheidung, auf die Bezug genommen wird. Eine darüber hinausgehende Sachaufklärung durch die Einholung weiterer Befundberichte oder eines Sachverständigengutachtens war nicht geboten, weil die Berufung hierfür keinen Anlass bot.

Auch daraus, dass sich die Zuerkennung des Merkzeichens aG nunmehr nach der zwischenzeitlich in Kraft getretenen Vorschrift des § 229 Abs. 3 SGB IX richtet, ergibt sich nichts anderes. Nach dieser Vorschrift liegt eine erhebliche mobilitätsbezogene Teilhabebeeinträchtigung bei Menschen vor, die sich dauernd nur mit fremder Hilfe oder mit großer Anstrengung außerhalb ihres Kraftfahrzeuges bewegen können. Hierzu zählen insbesondere schwerbehinderte Menschen, die auf Grund der Beeinträchtigung der Gehfähigkeit und Fortbewegung – dauerhaft auch für sehr kurze Entfernungen – aus medizinischer Notwendigkeit auf die Verwendung eines Rollstuhls angewiesen sind. Verschiedenste Gesundheitsstörungen (insbesondere Störungen bewegungsbezogener, neuromuskulärer oder mentaler Funktionen, Störungen des kardiovaskulären oder Atmungssystems) können die Gehfähigkeit erheblich beeinträchtigen. Diese sind als außergewöhnliche Gehbehinderung anzusehen, wenn nach versorgungsärztlicher Feststellung die Auswirkung der Gesundheitsstörungen sowie deren Kombination auf die Gehfähigkeit dauerhaft so schwer ist, dass sie der unter Satz 1 genannten Beeinträchtigung gleich kommt.

In der Gesetzesbegründung zu dieser Vorschrift werden folgende Beispiele genannt, bei denen die Voraussetzungen erfüllt sein können (vgl. BT-Drucks. 18/9522, S. 318):

- zentralnervöse, peripher-neurologische oder neuromuskulär bedingte Gangstörungen mit der Unfähigkeit, ohne Unterstützung zu gehen, oder wenn eine dauerhafte Rollstuhlbenutzung erforderlich ist (insbesondere bei Querschnittlähmung, Multipler Sklerose, Amyotropher Lateralsklerose (ALS), Parkinsonerkrankung, Para- oder Tetraspastik in schwerer Ausprägung)

- Funktionsverlust beider Beine ab Oberschenkelhöhe oder Funktionsverlust eines Beines ab Oberschenkelhöhe ohne Möglichkeit der prothetischen oder orthetischen Versorgung (insbesondere bei Doppeloberschenkelamputierten und Hüftexartikulierten)

- schwerste Einschränkung der Herzleistungsfähigkeit (insbesondere bei Linksherz-schwäche Stadium NYHA IV)

- schwerste Gefäßerkrankungen (insbesondere bei arterieller Verschlusskrankheit Stadium IV)

- Krankheiten der Atmungsorgane mit nicht ausgleichbarer Einschränkung der Lungenfunktion schweren Grades

- schwerste Beeinträchtigung bei metastasierendem Tumorleiden (mit starker Auszehrung und fortschreitendem Kräfteverfall)

Der Senat kann sich nach eigener Auswertung des im sozialgerichtlichen Verfahren eingeholten Sachverständigengutachtens nicht davon überzeugen, dass bei dem Kläger diese Voraussetzungen erfüllt sind bzw. vergleichbare Funktionsbeeinträchtigungen vorliegen. Dabei wird nicht verkannt, dass die Gehfähigkeit des Klägers aufgrund der kognitiven und körperlichen Leistungsstörungen deutlich eingeschränkt ist. Dem Kläger ist das selbstständige Gehen jedoch unter Zuhilfenahme eines Rollators für Strecken von 50 bis 80 Metern weiterhin möglich. Eine Gleichstellung mit den Auswirkungen einer Querschnittlähmung, Multipler Sklerose, Amyotropher Lateralsklerose (ALS), Parkinsonerkrankung, Para- oder Tetraspastik kann daraus jedoch nicht abgeleitet werden. Auch ist die respiratorische Partialinsuffiziens noch nicht so ausgeprägt, dass sie bereits einen schweren Grad erreicht hätte. Eine erhebliche mobilitätsbezogene Teilhabebeeinträchtigung im Sinne von § 229 Abs. 3 SGB IX liegt daher (noch) nicht vor.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG. Gründe für eine Zulassung der Revision gem. § 160 Abs. 2 SGG sind nicht ersichtlich.



Versorungsmedizinische Grundsätze
in der Fassung der 5. Verordnung zur Änderung der Versorgungsmedizin-Verordnung