Die Voraussetzungen des gesundheitlichen Merkzeichens G können auch erfüllt sein, wenn zwar die auf die Gehfähigkeit sich auswirkenden Funktionsstörungen der unteren Gliedmaßen keinen Teil-GdB von mindestens 40 bedingen, aber aufgrund einer negativen Wechselwirkung von orthopädischen, internistischen und neurologischen Erkrankungen die Gehfähigkeit derart limitiert wird, dass eine Gehstrecke von 2 km nicht mehr innerhalb einer halben Stunde zurückgelegt werden kann.


Landessozialgericht für das Saarland 5. Senat
05.06.2019
L 5 SB 30/16
Juris



Leitsatz

Die Voraussetzungen des gesundheitlichen Merkzeichens G können auch erfüllt sein, wenn zwar die auf die Gehfähigkeit sich auswirkenden Funktionsstörungen der unteren Gliedmaßen keinen Teil-GdB von mindestens 40 bedingen, aber aufgrund einer negativen Wechselwirkung von orthopädischen, internistischen und neurologischen Erkrankungen die Gehfähigkeit derart limitiert wird, dass eine Gehstrecke von 2 km nicht mehr innerhalb einer halben Stunde zurückgelegt werden kann.


Tatbestand

Die Beteiligten streiten über die Höhe des Grades der Behinderung (GdB) der Klägerin sowie darüber, ob die Voraussetzungen zur Anerkennung der Voraussetzungen des gesundheitlichen Merkzeichens „G“ (= erhebliche Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr) erfüllt sind.

Die 1945 geborene Klägerin stellte am 20.12.1991 erstmals einen Antrag auf Anerkennung einer Behinderung nach dem damals noch geltenden Schwerbehindertengesetz (SchwbG), auf den hin der Beklagte mit Bescheid vom 12.06.1992 einen GdB von 50 feststellte.

Auf einen Verschlimmerungsantrag vom 26.11.1999 wurde mit Bescheid vom 21.06.2000 der GdB auf 60 erhöht; ein Verschlimmerungsantrag vom 19.04.2004 blieb erfolglos.

Am 17.12.2012 stellte die Klägerin wiederum einen Verschlimmerungsantrag.

Nach Beiziehung von Befundberichten der behandelnden Ärzte und Einholung zweier versorgungsärztlicher Stellungnahmen erhöhte der Beklagte mit Bescheid vom 13.06.2013 den GdB auf 70.

Gegen diesen Bescheid legte die Klägerin Widerspruch ein, der nach Einholung einer weiteren versorgungsärztlichen Stellungnahme (vom 18.07.2014) mit Widerspruchsbescheid vom 22.10.2014 als unbegründet zurückgewiesen wurde.

Gegen den Widerspruchsbescheid hat die Klägerin am 20.11.2014 Klage erhoben. Als Klageziel hat sie die Anerkennung eines Gesamt-GdB von 100 und der gesundheitlichen Merkzeichen „G“ und „RF“ angegeben.

Das Sozialgericht für das Saarland (SG) hat von Amts wegen Beweis erhoben durch Einholung eines fachorthopädisch-unfallchirurgischen Gutachtens von Dr. A. Z. (erstattet am 21.06.2015) sowie eines nervenfachärztlichen Gutachtens von Dr. N. E. (erstattet am 05.10.2015) nebst ergänzender Stellungnahme (vom 04.01.2016). Der Beklagte hat drei Stellungnahmen seines ärztlichen Dienstes eingereicht (vom 23.03.2015, 12.06.2015 und 04.01.2016).

Der Sachverständige Dr. Z. hat auf der Grundlage einer ambulanten Untersuchung (vom 15.06.2015) folgende Erkrankungen auf orthopädisch-chirurgischem Gebiet festgestellt und mit folgenden Einzel-GdB bewertet:

1. Fortgeschrittenes degeneratives LWS-Syndrom mit endgradigem Funktionsdefizit mit Schmerzchronifizierung ohne Radikulärsymptomatik, degeneratives HWS-Syndrom mit endgradigem Funktionsdefizit 30
2. Gonalgie beidseits bei Meniscopathie, Knick-Senk-Spreizfuß mit Hallux-valgus-Bildung beidseits 10

Er hat den Gesamt-GdB unter Einbeziehung sämtlicher Behinderungen auf 70 eingeschätzt und weiter ausgeführt, die gesundheitlichen Voraussetzungen für die Gewährung des Merkzeichens „G“ seien gegeben. Außerhalb der Gutachtensituation habe das Gangbild bzw. die Beweglichkeit im Straßenverkehr gesichtet werden können. Der Klägerin sei es nur noch möglich, mittels Rollators sich fortzubewegen und mittels Taxi befördert zu werden. Eine ortsübliche Gehstrecke von 2 km könne nicht innerhalb von 20 Minuten zurückgelegt werden.. Die Benutzung des Rollators aufgrund der degenerativen LWS-Erkrankung sei gutachterlicherseits nachvollziehbar und bewirke eine Gehstreckeneinschränkung. Zum Merkzeichen „RF“ hat der Sachverständige ausgeführt, allein aufgrund der orthopädischen Leiden sei die Klägerin nicht ständig gehindert, an öffentlichen Veranstaltungen teilzunehmen, so dass das Merkzeichen „RF“ gutachterlicherseits aufgrund der orthopädischen Erkrankungen nicht anerkannt werden könne.

Der Sachverständige Dr. E. hat auf der Grundlage einer anlässlich eines Hausbesuchs durchgeführten ambulanten Untersuchung vom 02.10.2015 folgende Befunde auf nervenfachärztlichem Gebiet erhoben und mit den nachfolgend genannten Einzel-GdB bewertet:

1. rezidivierende depressive Episoden, derzeit leicht- bis mittelgradig ausgeprägt bei histrionischer Persönlichkeitsakzentuierung 50
2. Tinnitus 10
3. klinische Hinweise auf eine beginnende diabetische Polyneuropathie 0

Er hat den Gesamt-GdB mit 70 bewertet und weiter ausgeführt, sie Voraussetzungen für die Anerkennung der Merkzeichen „G“ und „RF“ lägen aus nervenärztlicher Sicht nicht vor.

An dieser Bewertung hat der Sachverständige auch in seiner ergänzenden Stellungnahme festgehalten.

Nach Anhörung der Beteiligten hat das SG die Klage mit Gerichtsbescheid vom 06.07.2016 abgewiesen, wobei es sich hinsichtlich der Höhe der Einzel- und des Gesamt-GdB und der Voraussetzungen für die Vergabe des gesundheitlichen Merkzeichens „RF“ der von den Sachverständigen vorgenommenen Bewertung angeschlossen hat. Zum Merkzeichen „G“ hat das SG ausgeführt, zwar komme Dr. Z. in seinem Gutachten zu dem Ergebnis, dass die Voraussetzungen des Merkzeichens „G“ aus orthopädischer Sicht erfüllt seien. Diese Auffassung könne sich die Kammer jedoch nicht anschließen. Denn Voraussetzung für eine erhebliche Gehbehinderung sei, dass ein GdB von mindestens 40 für Behinderungen im Bereich der unteren Extremitäten vorliege. Diese Voraussetzung sei bei der Klägerin jedoch nicht erfüllt, da lediglich eine Gonalgie beidseits mit Meniskopathie und Knick-Senk-Spreizfuß mit einem GdB von 10 und ein Wirbelsäulensyndrom mit einem GdB von 30 vorlägen.

Gegen den am 15.07.2016 zugestellten Gerichtsbescheid richtet sich die am 08.08.2016 bei Gericht eingegangene Berufung.

Zur Begründung trägt die Klägerin im Wesentlichen vor, die Vergabe des Merkzeichens „G“ habe aufgrund des orthopädischen Befundes zu erfolgen. Soweit Dr. Z. den rein orthopädischen Befund mit einem Einzel-GdB von 30 bewerte, stehe fest, dass diese Bewertung an der untersten Ermessensgrenze liege. Dr. E. beschreibe in seinem Gutachten eine schwere psychische Störung mit mittelgradigen sozialen Anpassungsstörungen. Er beschreibe des Weiteren den sozialen Anpassungsschwierigkeiten zu Grunde liegende neurotische Depressionen und eine histrionische Primärpersönlichkeit. Zu bemerken sei hierbei, dass die Klägerin das Haus überhaupt nicht mehr verlasse, weder zum Einkaufen noch zur Verrichtung sonstiger Tätigkeiten. Soziale Kontakte gebe es ebenfalls überhaupt nicht mehr. Die Klägerin sei völlig isoliert und von der Unterstützung ihrer Nachbarn abhängig. Das Auftreten der Klägerin im Rahmen der Begutachtung habe offenbar eine Aggravation oder Simulationstendenzen nicht deutlich werden lassen, sodass letztlich davon auszugehen sei, dass die Klägerin sich tatsächlich in vollem Umfang in dieser Isolation sehe und erlebe. Ausweislich der versorgungsmedizinischen Grundsätze seien schwere psycho-vegetative oder psychische Störungen mit mittelgradigen sozialen Anpassungsschwierigkeiten bereits mit Einzel-GdB von 50 bis 70 zu bewerten. Bei Vorhandensein schwerer sozialer Anpassungsschwierigkeiten sei schon ein Einzel-GdB von 80 alleine für diese Art der Erkrankung zu vergeben. Angesichts dessen könne der Bewertung des gerichtlichen Sachverständigen nicht gefolgt werden. Insbesondere seien dessen Ausführungen zu dem Schmerzsyndrom, was zusätzlich zu den psychischen Störungen gegeben sei, nicht nachvollziehbar. Insgesamt betrachtet müssten das Nervensystem und die Psyche bei der Klägerin bei weitem höher als mit einem Einzel-GdB von 50 bewertet werden. Unter Berücksichtigung dessen werde die Klägerin letztlich dem Personenkreis behinderter Menschen zugehörig sein, deren Gesamt-GdB nicht nur vorübergehend wenigstens 80 betrage und die wegen ihres Leidens an öffentlichen Veranstaltungen ständig nicht teilnehmen könnten, so dass auch die Voraussetzungen zur Vergabe des Merkzeichens „RF“ gegeben seien.

Im Laufe des Berufungsverfahrens hat der Beklagte mehrere Stellungnahmen seines ärztlichen Dienstes (vom 30.09.2016, 02.11.2016, 24.11.2017, 16.02.2018, 14.05.2018 und 06.12.2018) eingereicht. Der Senat hat zwei ergänzende Stellungnahmen von dem Sachverständigen Dr. E. (vom 15.02.2017 und 18.12.2017) eingeholt. Auf Antrag der Klägerin ist gem. § 109 Sozialgerichtsgesetz (SGG) ein nervenfachärztliches Gutachten von Frau S. F. (erstattet am 28.06.2017) nebst ergänzender Stellungnahme (vom 12.04.2018) eingeholt worden. Weiter hat der Senat von Amts wegen ein schmerzmedizinisches Gutachten von Prof. Dr. D. (erstattet am 29.10.2018) nebst ergänzender Stellungnahme (vom 15.01.2019) eingeholt.

Der Berichterstatter hat am 07.12.2018 einen Erörterungstermin durchgeführt. In diesem Termin hat die Klägerbevollmächtigte die Berufung insoweit zurückgenommen, als das Merkzeichen „RF“ begehrt wurde. Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung durch den Senat einverstanden erklärt.

Die Klägerin beantragt nunmehr sinngemäß,

1. den Gerichtsbescheid des SG vom 06.07.2016 und den Bescheid des Beklagten vom 13.06.2013 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 22.10.2014 abzuändern,

2. den Beklagten zu verurteilen, einen Gesamt-GdB von 100 und das gesundheitliche Merkzeichen „G“ festzustellen.

Der Beklagte beantragt, Randnummer25 die Berufung zurückzuweisen,

wobei er sich zur Begründung im Wesentlichen auf sein bisheriges Vorbringen, die von ihm vorgelegten versorgungsärztlichen Stellungnahmen und die seiner Ansicht nach zutreffenden Entscheidungsgründe des angegriffenen Gerichtsbescheides bezieht.

Zur Ergänzung des Tatbestandes wird auf die gewechselten Schriftsätze, den weiteren Akteninhalt sowie auf die Verwaltungsakten des Beklagten, die Gegenstand des Erörterungstermins waren, verwiesen.


Entscheidungsgründe

Die Entscheidung konnte im Einverständnis mit den Beteiligten ohne mündliche Verhandlung ergehen (§§ 153 Abs. 1, 124 Abs. 2 SGG).

Die von der Klägerin eingelegte Berufung, gegen deren Zulässigkeit sich keine Bedenken ergeben, ist – soweit sie noch anhängig ist – teilweise begründet, und zwar insoweit, als der Klägerin ein Anspruch auf Feststellung eines Gesamt-GdB von 80 sowie des gesundheitlichen Merkzeichens „G“ ab dem 21.09.2017 zusteht. I.

Rechtsgrundlage für einen Anspruch auf Festsetzung eines höheren GdB nach Stellung eines Verschlimmerungsantrages ist § 48 Abs. 1 Satz 1 des 10. Buches des Sozialgesetzbuchs, Sozialverwaltungsverfahren und Sozialdatenschutz (SGB X) in Verbindung mit § 152 Abs. 1 des 9. Buches des Sozialgesetzbuchs, Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen (SGB IX, hier in der Fassung vom 23.12.2016, gültig ab 01.01.2018; Nachfolgevorschrift des § 69 Abs. 1 SGB IX a.F.).

Nach § 48 Abs. 1 Satz 1 SGB X ist ein Verwaltungsakt mit Dauerwirkung für die Zukunft aufzuheben, wenn in den tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnissen, die bei seinem Erlass vorgelegen haben, eine wesentliche Änderung eingetreten ist. Von einer solchen ist im vorliegenden Zusammenhang bei einer Änderung im Gesundheitszustand auszugehen, wenn aus dieser die Erhöhung oder Herabsetzung des Gesamt-GdB um wenigstens 10 folgt, während das Hinzutreten weiterer Funktionsstörungen mit einem Einzel-GdB von 10 regelmäßig ohne Auswirkung auf den Gesamt-GdB bleibt (vgl. Urteil des Bundessozialgerichts vom 17.04.2013, Az.: B 9 SB 3/12 R m.w.N.).

Gemäß § 152 Abs. 1 des 9. Buchs des Sozialgesetzbuchs, Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen (SGB IX), der mit Wirkung ab dem 01.01.2018 die zuvor geltende Vorschrift des § 69 Abs. 1 SGB IX abgelöst hat, stellen auf Antrag des behinderten Menschen die für die Durchführung des Bundesversorgungsgesetzes (BVG) zuständigen Behörden das Vorliegen einer Behinderung und den GdB zum Zeitpunkt der Antragstellung fest. Menschen mit Behinderungen sind Menschen, die körperliche, seelische, geistige oder Sinnesbeeinträchtigungen haben, die sie in Wechselwirkung mit einstellungs- und umweltbedingten Barrieren an der gleichberechtigten Teilhabe an der Gesellschaft mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate hindern können (§ 2 Abs. 1 Satz 1 SGB IX in der seit 01.01.2018 geltenden Fassung ). Eine Beeinträchtigung nach Satz 1 liegt vor, wenn der Körper- und Gesundheitszustand von dem für das Lebensalter typischen Zustand abweicht (§ 2 Abs. 1 Satz 2 SGB IX nF). Die Auswirkungen auf die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft werden als GdB nach Zehnergraden abgestuft festgestellt. Eine Feststellung ist nur zu treffen, wenn ein GdB von wenigstens 20 vorliegt (§ 152 Abs. 1 S. 5, 6 SGB IX).

Nach welchen Maßstäben die einzelnen Behinderungen zu bewerten sind und wie bei mehreren Funktionsbeeinträchtigungen der Gesamt-GdB zu bilden ist, richtete sich bis zum 31.12.2008 nach den „Anhaltspunkten für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertengesetz", herausgegeben vom Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung, Neufassung 1996 („Anhaltspunkte"), die zwar keine Normqualität hatten, aber weitgehend als antizipierte Sachverständigengutachten verstanden werden konnten. Sie wirkten sich in der Praxis normähnlich aus und waren im Interesse einer gleichmäßigen Rechtsanwendung wie untergesetzliche Rechtsnormen von den Gerichten anzuwenden, bis der Gesetzgeber die erforderliche Ermächtigungsnorm geschaffen hatte (vgl. insoweit BSG-Urteil vom 23.06.1993, Az.: 9/9 a RVs 1/91 und vom 18.12.1996, Az.: 9 RV 17/95).

Das Bundesministerium für Arbeit und Soziales ist durch den mit Wirkung vom 13.12.2007 (BGBI I Seite 2904) eingefügten § 30 Abs. 17 Bundesversorgungsgesetz (BVG – seit dem 01.07.2011: § 30 Abs. 16 BVG) ermächtigt worden, die Grundsätze aufzustellen, die für die medizinische Bewertung von Schädigungsfolgen und die Feststellung des Grades der Schädigungsfolgen (GdS) im Sinne des § 30 Abs. 1 BVG maßgebend sind, sowie die für die Anerkennung einer Gesundheitsstörung nach § 1 Abs. 3 BVG und das Verfahren für deren Ermittlung und Fortentwicklung. Aufgrund dessen hat das Bundesministerium für Arbeit und Soziales die ab 01.01.2009 geltende Verordnung zur Durchführung des § 1 Abs. 1 und 3, des § 30 Abs. 1 und des § 35 Abs. 1 BVG (Versorgungsmedizin-Verordnung) vom 10.12.2008 (BGBI I Seite 2412) erlassen.

Danach sind die Grundsätze für die medizinische Bewertung von Schädigungsfolgen und die Feststellung des GdS des § 30 Abs. 1 BVG in einer Anlage zu § 2 der Versorgungsmedizin-Verordnung („Versorgungsmedizinische Grundsätze“) festgelegt worden. GdS und GdB werden nach gleichen Grundsätzen bemessen (Vorbemerkung der Anlage zur Versorgungsmedizin-Verordnung). Die in den „Anhaltspunkten“ niedergelegten Vorgaben zur Bestimmung des GdB sind nahezu vollständig übernommen worden.

Durch den mit Wirkung zum 15.01.2015 in § 70 SGB IX eingefügten Abs. 2 (seit dem 01.01.2018: § 153 Abs. 2 SGB IX) ist nunmehr das Bundesministerium für Arbeit und Soziales ermächtigt worden, durch Rechtsverordnung mit Zustimmung des Bundesrates die Grundsätze aufzustellen, die für die medizinische Bewertung des GdB und die medizinischen Voraussetzungen für die Vergabe von Merkzeichen maßgebend sind, die nach Bundesrecht im Schwerbehindertenausweis einzutragen sind. Nach der ebenfalls mit Wirkung zum 15.01.2015 eingefügten Übergangsregelung des § 159 Abs. 7 SGB IX (seit 01.01.2018: § 241 Abs. 5 SGB IX) gelten, soweit noch keine Verordnung nach § 70 Abs. 2 SGB IX (seit 01.01.2018: § 153 Abs. 2 SGB IX) erlassen ist, die Maßstäbe des § 30 Abs. 1 BVG und der aufgrund des § 30 Abs. 16 BVG erlassenen Rechtsverordnungen entsprechend. Damit ist klargestellt, dass bis zum Erlass einer Rechtsverordnung gem. § 70 Abs. 2 SGB IX (seit 01.01.2018: § 153 Abs. 2 SGB IX) die Vorgaben der Versorgungsmedizin-Verordnung auch bei der Festlegung des GdB anzuwenden sind.

Nach Teil A Nr. 2e der Versorgungsmedizinischen Grundsätze sind, da der GdB seiner Natur nach nur annähernd bestimmt werden kann, beim GdB nur Zehnerwerte anzugeben. Dabei sollen im Allgemeinen die folgenden Funktionssysteme zusammenfassend beurteilt werden: Gehirn einschließlich Psyche; Augen; Ohren; Atmung; Herz-Kreislauf; Verdauung; Harnorgane; Geschlechtsapparat; Haut; Blut einschließlich blutbildendes Gewebe und Immunsystem; innere Sekretion und Stoffwechsel; Arme; Beine; Rumpf. Die sehr wenigen in der GdB-Tabelle noch enthaltenen Fünfergrade sind alle auf ganz eng umschriebene Gesundheitsstörungen bezogen, die selten allein und sehr selten genau in dieser Form und Ausprägung vorliegen.

Hinsichtlich der Bildung des Gesamt-GdB darf nach Teil A Nr. 3 der Versorgungsmedizinischen Grundsätze beim Vorliegen mehrerer Beeinträchtigungen der Teilhabe am Leben in der Gesellschaft, die durch einzelne Behinderungsgrade erfasst sind, der Gesamt-GdB nicht durch Addition der einzelnen Behinderungsgrade ermittelt werden. Auch andere Rechenmethoden sind für die Bildung eines Gesamt-GdB ungeeignet. Maßgebend sind vielmehr die Auswirkungen der einzelnen Behinderungen in ihrer Gesamtheit unter Berücksichtigung ihrer wechselseitigen Beziehungen (§ 152 Abs. 3 Satz 1 SGB IX nF; vgl. BSGE 48, 82). Im Einzelfall ist bei der Beurteilung des Gesamt-GdB von der Behinderung auszugehen, die den höchsten Einzelgrad bedingt, und dann im Hinblick auf alle weiteren Behinderungen zu prüfen, ob und inwieweit hierdurch das Ausmaß der Behinderung größer wird. Hierbei führen - von Ausnahmefällen abgesehen - zusätzliche leichte Gesundheitsstörungen, die nur einen GdB von 10 bedingen, nicht zu einer Zunahme des Ausmaßes der Gesamtbeeinträchtigung, die bei der Gesamtbeurteilung berücksichtigt werden könnte, und zwar auch dann nicht, wenn mehrere derartige leichte Gesundheitsstörungen nebeneinander bestehen. Auch bei leichten Funktionsbeeinträchtigungen mit einem GdB von 20 ist es vielfach nicht gerechtfertigt, auf eine wesentliche Zunahme des Ausmaßes der Behinderung zu schließen. Die Festsetzung des Gesamt-GdB stellt auch keine medizinische Frage dar, bei der das Gericht an den Vorschlag der ärztlichen Sachverständigen gebunden wäre. Der Gesamt-GdB ist vielmehr aus einer Zusammenschau aller Funktionsbeeinträchtigungen nicht nach starren Beweisregeln, sondern aufgrund richterlicher Erfahrung unter Heranziehung der Sachverständigengutachten sowie der in den Versorgungsmedizinischen Grundsätzen enthaltenen Vorgaben in freier richterlicher Beweiswürdigung festzulegen. Es gibt im Schwerbehindertenrecht keine Beweisregel dahingehend, dass die Gerichte bei der Bildung des Gesamt-GdB an die vom Sachverständigen vorgeschlagenen Einzelwerte gebunden wären (vgl. BSG-Urteil vom 05.05.1993, Az.: 9/9a RVs 2/92).

Bei Anlegung der oben genannten Kriterien hat die Klägerin vorliegend einen Anspruch auf Feststellung eines Gesamt-GdB von 80 ab dem 21.09.2017.

Zwar haben der Sachverständige Dr. E. in seiner im Berufungsverfahren abgegebenen ergänzenden Stellungnahme und der ärztliche Dienst des Beklagten unverändert die Auffassung vertreten, dass ein Gesamt-GdB von 70 zutreffend sei; der Senat folgt insoweit aber der hiervon abweichenden Bewertung der Sachverständigen F. und insbesondere der Einschätzung des Sachverständigen Prof. Dr. D..

Prof. Dr. D. hat auf der Grundlage einer ambulanten Untersuchung (vom 09.10.2018) in der Zusammenfassung seines Gutachtens u.a. ausgeführt, es bestünden bei der Klägerin verschiedene psychische Störungen. Es läge eine chronische Depression (Dysthymie) mit in der Aktenlage dokumentierten depressiven Episoden vor. Weiterhin liege eine gemischte Angststörung (Platzangst, Panikattacken) vor. Die Kriterien einer missbräuchlichen Verwendung von Tranquilizern seien erfüllt. Psychische Faktoren seien als wesentliche qualifizierende Faktoren der Schmerzintensität und schmerzassoziierten Behinderungen der Klägerin anzusehen, so dass die Kriterien einer chronischen Schmerzstörung mit somatischen und psychischen Faktoren erfüllt seien. Die von der Klägerin angegebene eingeschränkte Mobilität lasse sich nicht durch die orthopädischen Befunde erklären. Die Einschränkungen der Mobilität der Klägerin seien überwiegend durch ihre psychische Störung (Angst, Depression) bedingt. Zusammengefasst sei der Schweregrad der seelischen Störung als schwer einzuschätzen (schwere Einschränkung der Lebens-und Gestaltungsfähigkeit, mittelgradige soziale Anpassungsstörungen). Zusammengefasst seien die von der Klägerin vorgebrachten Beschwerden und Beeinträchtigungen im Längsschnitt der Aktenlage sowie im Querschnitt der Untersuchung kongruent. Es hätten sich keine Hinweise für Aggravation oder Simulation gefunden. In dem Leidenszustand sei im Vergleich zu dem Bescheid vom 04.11.2004 eine wesentliche Verschlimmerung eingetreten. Die seelischen Störungen der Klägerin hätten sich verschlechtert. Sie habe sich seit etwa 6 Jahren vollständig in ihrer Wohnung zurückgezogen und seit anderthalb Jahren persönliche Vorstellungen bei Ärzten nicht mehr wahrgenommen. Weiterhin sei bei der Klägerin der Diabetes mellitus mit einer diabetischen Polyneuropathie nicht berücksichtigt worden. Der zunehmende Rückzug von Aktivitäten außer Haus habe eigenanamnestisch bereits zum Zeitpunkt der Antragstellung vorgelegen. Als Diagnose im Rahmen des Funktionssystems „Nervensystem und Psyche“ hat der Sachverständige eine „chronische Schmerzstörung mit somatischen und psychischen Faktoren, chronische Depression, Tranquilizerabusus“ mit der hieraus resultierenden Behinderung „schwere psychische Störung mit schweren sozialen Anpassungsschwierigkeiten“ aufgeführt und diese mit einem Teil-GdB von 80 bewertet; das Rückenleiden der Klägerin sei mit der chronischen Schmerzstörung mit somatischen und psychischen Faktoren berücksichtigt. Den „Diabetes mellitus Typ 2 b mit peripherer sensibler Polyneuropathie“ im Funktionssystem „Stoffwechsel, Innere Sekretion“ hat der Sachverständige mit einem Teil-GdB von 20 bewertet. Den Gesamt-GdB hat er mit 80 seit dem Zeitpunkt des Verschlimmerungsantrages bewertet.

Dieser Einschätzung schließt sich der Senat – mit Ausnahme des Datums der Anerkennung des höheren GdB, siehe hierzu weiter unten – an, da die Ausführungen in dem Gutachten insgesamt schlüssig und überzeugend sind, sämtliche in den Akten und Beiakten enthaltenen medizinischen Unterlagen berücksichtigen und würdigen, wissenschaftliche Grundsätze beachten und auch in Übereinstimmung mit den in den Versorgungsmedizinischen Grundsätzen gemachten Vorgaben stehen.

Soweit die Versorgungsärztin Dr. Be. eine Differenzierung zwischen einer bei der Klägerin vorliegenden „Depression, Somatisierungsstörung, chronisches Schmerzsyndrom“ und einem „chronisch degenerativen Wirbelsäulenleiden, Varicosis“ vorgenommen, hierfür Teil-GdB von 50 bzw. 30 vergeben und hieraus abgeleitet einen Gesamt-GdB von 70 für zutreffend gehalten hat, folgt der Senat dem nicht. Allgemein ist davon auszugehen, dass bei der Bewertung somatoformer Schmerzstörungen Teil B Nr. 3.7 (Neurosen, Persönlichkeitsstörungen, Folgen psychischer Traumen) heranzuziehen ist (vgl. Wendler, Versorgungsmedizinische Grundsätze – Kommentar, 8. Auflage 2017 Seite 158). Soweit Prof. Dr. D. in Übereinstimmung hiermit von einer „schweren psychischen Störung mit schweren sozialen Anpassungsschwierigkeiten“ ausgegangen ist und insoweit einen Teil-GdB von 80 angesetzt hat, ist dies unter Berücksichtigung des von Prof. Dr. D. eindrücklich beschriebenen nahezu vollständigen Rückzugs aus dem sozialen Umfeld vom Senat nicht zu beanstanden, wobei der Senat mit Prof. Dr. D. davon ausgeht, dass bei der Bewertung der chronischen Schmerzstörung das Wirbelsäulenleiden der Klägerin mit einzubeziehen ist. Im Übrigen stimmt die Bewertung des Gesamt-GdB durch Prof. Dr. D. auch mit der Beurteilung der Sachverständigen F. überein.

Allerdings kann der Einschätzung des Sachverständigen Prof. Dr. D. insoweit nicht gefolgt werden, als er einen Gesamt-GdB von 80 bereits ab dem Zeitpunkt der Stellung des Verschlimmerungsantrages (17.12.2012) befürwortet hat. Denn der Sachverständige Dr. E. hat auf der Grundlage der von ihm anlässlich der am 02.10.2015 durchgeführten ambulanten Untersuchung getroffenen Feststellungen noch einen Gesamt-GdB von 70 für zutreffend gehalten. Die Sachverständige F. hat einen Gesamt-GdB von 80 ab dem Datum der von ihr durchgeführten ambulanten Untersuchung (21.09.2017) vorgeschlagen. Dies steht in Übereinstimmung mit der ergänzenden Stellungnahme des Sachverständigen Prof. Dr. D., in der dieser u.a. ausgeführt hat, dass im Vergleich zu dem Vorgutachten des Sachverständigen Dr. E. aus dem Jahr 2015 die chronische Schmerzstörung mit somatischen und psychischen Faktoren die Lebensführung der Klägerin weitgehend übernommen habe. Der Nachweis eines Gesamt-GdB von 80 ist damit nach der Überzeugung des Senats erst ab dem Datum der Untersuchung durch die Sachverständige F. (21.09.2017) als geführt anzusehen. II.

Entgegen der Auffassung des Beklagten sind vorliegend weiter auch die Voraussetzungen für die Vergabe des gesundheitlichen Merkzeichens „G“ erfüllt, und zwar ebenfalls ab dem 21.09.2017.

Gemäß § 152 Abs. 4 SGB IX n.F. treffen die zuständigen Behörden die erforderlichen Feststellungen über weitere gesundheitliche Merkmale als Voraussetzung für die Inanspruchnahme von Nachteilsausgleichen.

Gemäß § 1 Abs. 1 der Schwerbehindertenausweisverordnung (SchwbAwV) in der Fassung des Art. 56 SGB IX vom 19.06.2001 (BGBl I S. 1046, 1131), geändert durch Art. 1 der Dritten Verordnung zur Änderung der SchwbAwV vom 07.06.2012 (BGBl I Seite 1275) sowie Art. 18 Abs. 3 und 19 Abs. 20 des Gesetzes vom 23.12.2016 (BGBl I Seite 3234), wird der Ausweis i.S.d. § 152 Abs. 5 SGB IX über die Eigenschaft als schwerbehinderter Mensch, den GdB und weitere gesundheitliche Merkmale, die Voraussetzung für die Inanspruchnahme von Rechten und Nachteilsausgleichen nach dem SGB IX oder nach anderen Vorschriften sind, nach dem in der Anlage zur SchwbAwV abgedruckten Muster 1 ausgestellt. Gemäß § 1 Abs. 2 SchwbAwV ist der Ausweis für schwerbehinderte Menschen, die das Recht auf unentgeltliche Beförderung im öffentlichen Personenverkehr in Anspruch nehmen können, durch einen halbseitigen orangefarbigen Flächenaufdruck gekennzeichnet. Nach § 3 Abs. 1 Nr. 7 SchwbAwV ist auf der Rückseite des Schwerbehindertenausweises das Merkzeichen „G" vorgedruckt, wenn der schwerbehinderte Mensch in seiner Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr erheblich beeinträchtigt i.S.d. § 229 Absatz 1 Satz 1 SGB IX n.F. oder entsprechender Vorschriften ist. Gem. § 228 Abs. 1 Satz 1 SGB IX n.F. sind schwerbehinderte Menschen, die u.a. infolge ihrer Behinderung in ihrer Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr erheblich beeinträchtigt sind, von Unternehmern, die öffentlichen Personennahverkehr betreiben, gegen Vorzeigen eines entsprechend gekennzeichneten Ausweises im Nahverkehr unentgeltlich zu befördern. Ob eine derartige erhebliche Beeinträchtigung in der Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr vorliegt, bestimmt sich nach der ergänzenden Definitionsnorm des § 229 Abs. 1 SGB IX n.F., wonach diese Voraussetzung bei demjenigen behinderten Menschen gegeben ist, der infolge einer Einschränkung des Gehvermögens (auch durch innere Leiden oder infolge von Anfällen oder von Störungen der Orientierungsfähigkeit) nicht ohne erhebliche Schwierigkeiten oder nicht ohne Gefahr für sich oder andere Wegstrecken im Ortsverkehr zurückzulegen vermag, die üblicherweise noch zu Fuß zurückgelegt werden. Der Nachweis der erheblichen Beeinträchtigung in der Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr kann bei schwerbehinderten Menschen mit einem GdB von wenigstens 80 nur mit einem Ausweis mit halbseitigem orangefarbenem Flächenaufdruck und eingetragenem Merkzeichen „G“ geführt werden, dessen Gültigkeit frühestens mit dem 01.04.1984 beginnt, oder auf dem ein entsprechender Änderungsvermerk eingetragen ist.

Nach Teil D Nr. 1 b der „Versorgungsmedizinischen Grundsätze“ ist bei der Prüfung der Frage, ob eine erhebliche Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr vorliegt, nicht auf die konkreten örtlichen Verhältnisse des Einzelfalles abzustellen, sondern darauf, welche Wegstrecken allgemein - d.h. altersunabhängig von nicht behinderten Menschen - noch zu Fuß zurückgelegt werden. Die Voraussetzungen für die Annahme einer erheblichen Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr infolge einer Einschränkung des Gehvermögens sind hierbei nach Teil D Nr. 1 d der „Versorgungsmedizinischen Grundsätze“ als erfüllt anzusehen, wenn auf die Gehfähigkeit sich auswirkende Funktionsstörungen der unteren Gliedmaßen und/oder der Lendenwirbelsäule bestehen, die für sich einen GdB um wenigstens 50 bedingen. Darüber hinaus können die Voraussetzungen bei Behinderungen an den unteren Gliedmaßen mit einem GdB unter 50 gegeben sein, wenn diese Behinderungen sich auf die Gehfähigkeit besonders auswirken, z.B. bei Versteifung des Hüft-, Knie- oder Fußgelenks in ungünstiger Stellung oder arteriellen Verschlusskrankheiten mit einem GdB von 40.

Auch beim Vorliegen innerer Leiden kommt es bei der Beurteilung entscheidend auf die Einschränkung des Gehvermögens an. Dementsprechend ist eine erhebliche Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit vor allem bei schwereren Herzschäden - mit Beeinträchtigungen der Herzleistung wenigstens nach Gruppe 3 in Teil B Nr. 9.1.1 der „Versorgungsmedizinischen Grundsätze“ - und bei Atembehinderungen mit dauernder Einschränkung der Lungenfunktion wenigstens mittleren Grades (Teil B Nr. 8.3 der „Versorgungsmedizinischen Grundsätze“) - anzunehmen. Auch bei anderen inneren Leiden mit einer schweren Beeinträchtigung der körperlichen Leistungsfähigkeit, z.B. chronische Niereninsuffizienz mit ausgeprägter Anämie, sind die Voraussetzungen als erfüllt anzusehen.

Nach der Rechtsprechung des BSG ist als Wegstrecke, die üblicherweise im Ortsverkehr noch zu Fuß zurückgelegt wird, eine solche von 2 km bei einer Fußwegdauer von einer halben Stunde zugrunde zu legen (vgl. BSG-Urteil vom 10.12.1987, Az.: 9a RVs 11/87 in Übereinstimmung mit Teil D Ziffer 1 b der „Versorgungsmedizinischen Grundsätze“).

Entgegen der Auffassung des Beklagten und des SG sind bei Zugrundelegung dieser Kriterien die Voraussetzungen zur Anerkennung des Merkzeichens „G“ vorliegend erfüllt, wobei sich der Senat auch insoweit maßgeblich auf die schlüssigen und überzeugenden Ausführungen des Sachverständigen Prof. Dr. D. stützt.

Der Sachverständige hat insoweit zusammenfassend ausgeführt, dass die mit der Klägerin durchgeführte Gangprobe gezeigt habe, dass sie mit Hilfe eines Rollators und gegebenenfalls auch Sitzpausen nicht in der Lage sei, eine Gehstrecke von 2 Km innerhalb einer halben Stunde zurückzulegen; die Klägerin habe für das Zurücklegen einer Gehstrecke von 40 m 1 Minute benötigt; damit schafft die Klägerin in einer halben Stunde (maximal) eine Gehstrecke von 1,2 km.

Soweit die Versorgungsärztin Dr. Be. – in Übereinstimmung mit der Argumentation des SG in dem angegriffenen Gerichtsbescheid – hiergegen eingewandt hat, die von der Klägerin angegebene eingeschränkte Mobilität lasse sich nicht durch die orthopädischen Befunde erklären, sondern sei überwiegend durch die psychischen Störungen (Angst, Depression) bedingt, ist dies an sich zwar zutreffend, führt aber nicht dazu, dass die Voraussetzungen für die Anerkennung des Merkzeichens „G“ von vornherein verneint werden müssen. Zu Recht hat der Sachverständige Prof. Dr. D. in seiner Stellungnahme insoweit ausgeführt, soweit Frau Dr. Be. behauptet habe, seine – Prof. Hä. – Ausführungen hätten die Anmerkungen des Vorgutachters Dr. E. bestätigt, dass die von der Klägerin angegebenen Mobilitätsstörungen nicht durch entsprechende Befunde hinreichend erklärt werden könnten, sei dies falsch. Er habe in seinem Gutachten ausgeführt, dass (sich) die Mobilitätsstörungen der Klägerin durch eine negative Wechselwirkung ihrer orthopädischen, internistischen und neurologischen Erkrankungen sowie ihrer seelischen Störung erklären ließen. Die Einschränkungen der Mobilität der Klägerin seien überwiegend, jedoch nicht ausschließlich durch ihre seelische Störung bedingt; auch eine psychische Störung als Mitursache einer Gangstörung sei ein Befund. Wie viele chronische Erkrankungen und die daraus resultierenden Behinderungen ließen sich die Erkrankungen der Klägerin nicht durch eine (einzige) Erkrankung (z.B. orthopädisch oder internistisch oder kardial/pulmonal) erklären, sondern nur durch Wechselwirkungen von Erkrankungen einordnen.

Dem Beklagten ist zuzugeben, dass Teil D Nr. 1 d der „Versorgungsmedizinischen Grundsätze“ auf den ersten Blick den Eindruck erweckt, dass nur bei Funktionsstörungen der unteren Gliedmaßen bzw. der Lendenwirbelsäule mit einem bestimmten Mindest-GdB die Voraussetzungen des Merkzeichens „G“ gegeben sein können. Dieser erste Eindruck relativiert sich aber bereits dadurch, dass in Teil D Nr. 1 d weiter internistische Leiden aufgeführt werden, wobei keine konkreten Einzel-GdB genannt werden, sondern ausgeführt wird, eine erhebliche Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit sei vor allem bei Herzschäden mit Beeinträchtigung der Herzleistung wenigstens nach Gruppe 3 und bei Atembehinderungen mit dauernder Einschränkung der Lungenfunktion wenigstens mittleren Grades anzunehmen. Weiter heißt es in Teil D Nr. 1 d, auch bei anderen inneren Leiden mit einer schweren Beeinträchtigung der körperlichen Leistungsfähigkeit, z.B. chronische Niereninsuffizienz mit ausgeprägter Anämie, seien die Voraussetzungen als erfüllt anzusehen. Zu berücksichtigen ist weiter, dass nach Teil D Nr. 1e hirnorganische Anfälle zur Anerkennung des Merkzeichens „G“ führen können, wobei ausgeführt wird, im Allgemeinen sei auf eine erhebliche Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit erst ab einer mittleren Anfallshäufigkeit mit einem GdS (bzw. GdB) von wenigstens 70 zu schließen, wenn die Anfälle überwiegend am Tage aufträten. In Teil D Nr. 1 f werden dann Störungen der Orientierungsfähigkeit aufgeführt, die ebenfalls zur Annahme einer erheblichen Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit führen können. Dies verdeutlicht, dass es sich bei den in Teil D Nr. 1 d aufgeführten Merkmalen lediglich um Regelbeispiele handelt, die keinesfalls eine abschließende Aufzählung darstellen (vgl. Wendler a.a.O. Seite 409; Landessozialgericht Schleswig-Holstein, Urteil vom 09.12.2014, Az.: L 2 SB 15/13; BSG-Urteil vom 11.08.2015, Az.: B 9 SB 1/14 R; LSG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 16.01.2014, Az.: L 13 SB 51/12 unter Hinweis auf BSG-Urteil vom 24.04.2008, Az.: B 9/9a SB 7/06 R m.w.N.; Urteil des Senats vom 23.10.2015, Az.: L 5 SB 8/15). Die Vergabe des Merkzeichens „G“ kommt daher auch bei einer Einschränkung des Gehvermögens aufgrund einer Kombination verschiedener Gesundheitsstörungen in Betracht (vgl. Wendler a.a.O. Seite 411; LSG Bayern, Urteil vom 28.01.1998, Az.: L 18 SB 112/96 m.w.N.; BSG-Urteil vom 24.04.2008, Az.: B 9/9a SB 7/06 R), und auch rein psychische Störungen, die sich spezifisch auf das Gehvermögen auswirken, ein Schmerzsyndrom oder ein Fibromyalgie-Syndrom können zu einer erheblichen Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr führen (so BSG-Urteil v. 11.08.2015 a.a.O. m.w.N.; Urteil des Senats vom 23.10.2015 a.a.O.).

Damit kommt es allein und entscheidend darauf an, ob der behinderte Mensch infolge einer behinderungsbedingten Einschränkung des Gehvermögens die maßgebliche innerörtliche Wegstrecke von 2 km noch innerhalb der durch die höchstrichterliche Rechtsprechung vorgegebene Richtzeit von einer halben Stunde noch zurücklegen kann oder nicht. Ist dies – wie vorliegend durch die Feststellungen der Sachverständigen F. und insbesondere Prof. Dr. D. überzeugend belegt worden ist – nicht mehr der Fall, sind die Voraussetzungen für die Anerkennung des gesundheitlichen Merkzeichens „G“ erfüllt.

Allerdings kann das Merkzeichen „G“ im vorliegenden Fall nicht bereits ab Antragstellung anerkannt werden. Denn nach den Ausführungen des Sachverständigen Prof. Dr. D. ist durch die von ihm und der Sachverständigen F. getroffenen Feststellungen belegt worden, dass im Vergleich zu dem Vorgutachten des Sachverständigen Dr. E. aus dem Jahr 2015 die chronische Schmerzstörung mit somatischen und psychischen Faktoren die Lebensführung der Klägerin weitgehend übernommen hat. Der Nachweis einer behinderungsbedingten Einschränkung des Gehvermögens in dem beschriebenen Sinn ist damit nach der Überzeugung des Senats erst ab der von der Sachverständigen F. vorgenommenen ambulanten Untersuchung am 21.09.2017 als geführt anzusehen, so dass eine Verurteilung des Beklagten zur Anerkennung des gesundheitlichen Merkzeichens „G“ auch erst ab diesem Zeitpunkt möglich war. III.

Auf die Berufung der Klägerin waren die angefochtenen Bescheide und der angegriffene Gerichtsbescheid demzufolge abzuändern und der Beklagte zu verurteilen, einen Gesamt-GdB von 80 sowie die gesundheitlichen Voraussetzungen für die Zuerkennung des gesundheitlichen Merkzeichens „G“ ab dem 21.09.2017 festzustellen. Die weitergehende Berufung war zurückzuweisen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Gründe für eine Zulassung der Revision (§ 160 Abs. 2 SGG) lagen nicht vor.



Versorungsmedizinische Grundsätze
in der Fassung der 5. Verordnung zur Änderung der Versorgungsmedizin-Verordnung