Kein Merkzeichen G für Couch-Potatos


Merkzeichen G   mangelnder Trainingszustand


Landessozialgericht Berlin-Brandenburg 13. Senat
  27.09.2018
  L 13 SB 89/16
Juris


Tatbestand

Mit ihrer Berufung begehrt die 1960 geborene Klägerin noch die Feststellung der gesundheitlichen Voraussetzungen für die Inanspruchnahme der Merkzeichen G und B seit Januar 2013.

Bei der Klägerin war mit Bescheid vom 30. September 2010 ein Grad der Behinderung (GdB) von 60 festgestellt worden, wobei der Beklagte folgende Funktionsbeeinträchtigungen festgestellt hatte und hierbei von dem aus dem jeweiligen Zusatz ersichtlichen Einzel-GdB ausgegangen war:

- Psychische Störungen (Neurosen), Kopfschmerz (50),

- Funktionsbehinderung der Wirbelsäule, muskuläre Verspannungen, Reiz- und Nervenwurzelreizerscheinungen der Wirbelsäule, Bandscheibenschäden (20),

- degenerative Hüftgelenkveränderungen bei Hüftfehlstellung beidseits, Funktionsbehinderung des Kniegelenks beidseits, chronisch-venöse Insuffizienz (Krampfaderleiden) des Beines links (20),

- Schwerhörigkeit beidseitig (20),

- Sehminderung (10) sowie

- Refluxkrankheit der Speiseröhre, Magengeschwürleiden (10).

Am 22. Januar 2013 beantragte die Klägerin die Neufeststellung des GdB und die Zuerkennung der Merkzeichen G und B. Hierzu gab sie an, sie habe konkret ständige Rückenschmerzen, insbesondere im HWS- und LWS-Bereich sowie starke Unterschenkelschmerzen mit und ohne Belastung sowie Schmerzen in der Hüfte und den Knien. Darüber hinaus leide sie unter Angst- und Panikattacken mit Schwindel, Orientierungsstörungen und Konzentrationsschwierigkeiten. Der Beklagte wertete von der Klägerin vorgelegte ärztliche Atteste aus und holte Befundberichte ein. Sodann lehnte er mit Bescheid vom 17. Juni 2013 sowohl die Neufeststellung des GdB wie auch die Zuerkennung der begehrten Merkzeichen ab. Mit Widerspruchsbescheid vom 13. Januar 2014 wies er den Widerspruch zurück.

Mit der am 6. Februar 2014 erhobenen Klage hat die Klägerin geltend gemacht, der Gesamt-GdB liege zu niedrig. Auch seien die Merkzeichen G und B zu Unrecht versagt worden. Wesentliches Leiden sei eine psychische Erkrankung mit mittelgradigen sozialen Anpassungsschwierigkeiten, aus der auch eine subjektiv verstärkte Schmerzwahrnehmung folge. Ihres Erachtens sei die Schmerzproblematik zwingend mehrfach in den jeweiligen Funktionssystemen zu berücksichtigen. Wegen ihrer orthopädischen Leiden müsse sie einen Rollator benutzen. Eine Gehstrecke von mehr als 500 Metern sei ihr nicht mehr zumutbar. Für längere Distanzen brauche sie mehrfache Erholungspausen. Neben der Einschränkung ihrer körperlichen Beweglichkeit sei auch ihre Orientierungsfähigkeit eingeschränkt, weshalb sie bei der Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel ständig auf fremde Hilfe angewiesen sei.

Das Sozialgericht hat zunächst Befundberichte eingeholt. Daraufhin hat der Beklagte mit Teilanerkenntnis vom 4. Mai 2015 wegen einer Verschlechterung der Hörbeeinträchtigung der Klägerin mit Wirkung ab dem 15. September 2014 einen Gesamt-GdB von 80 anerkannt und dem die Erhöhung des Einzel-GdB für den Hörschaden von 20 auf 50 zugrunde gelegt. Außerhalb des Streitgegenstandes hat er bei der Klägerin darüber hinaus die gesundheitlichen Voraussetzungen für die Nachteilsausgleiche mit Merkzeichen RF und VKS anerkannt. Das Teilanerkenntnis hat die Klägerin angenommen, im Übrigen aber ihr Begehren in Bezug auf die Merkzeichen G und B fortgeführt. Das Sozialgericht hat sodann Beweis erhoben durch Einholung eines Gutachtens des Facharztes für Allgemeinmedizin Dr. B, der in seinem Gutachten vom 6. November 2015 zu der Einschätzung gelangt ist, das Gangbild der Klägerin sei auch ohne den Rollator nicht beeinträchtigt. Sie könne sich sicher, zügig und ohne zu Hinken fortbewegen. Auch könne sie über mindestens zwei Etagen unproblematisch Treppen steigen. Die von ihm festgestellten körperlichen Leiden stünden einer Bewältigung der Wegstrecke von 2000 Metern innerhalb von ca. 30 Minuten nicht entgegen. Auch könne sie öffentliche Verkehrsmittel ohne Unterstützung nutzen. Inwieweit die von der Klägerin geltend gemachten Orientierungsstörungen aufzuklären seien, müsse das Gericht entscheiden. Insoweit falle auf, dass sowohl der Hausarzt, wie auch der die Klägerin behandelnde Nervenarzt derartige Beeinträchtigungen attestierten, sie zugleich aber zu allen Qualitäten als voll orientiert bezeichnet werde. Letzteres bestätige sich auch im Rahmen der durch ihn durchgeführten Untersuchung. Seines Erachtens seien keine relevanten kognitiven Defizite geschweige denn eine geistige Behinderung erkennbar.

Mit Urteil vom 27. Januar 2016 hat das Sozialgericht die Klage abgewiesen, soweit sie nicht durch angenommenes Teilanerkenntnis erledigt war. Ferner hat es dem Beklagten die Erstattung der außergerichtlichen Kosten der Klägerin zur Hälfte auferlegt. Zur Begründung hat das Sozialgericht ausgeführt, die Klägerin erfülle nicht die gesundheitlichen Voraussetzungen des Merkzeichens G. Insoweit ist es den Feststellungen des Sachverständigen Dr. B gefolgt.

Mit der Berufung hat die Klägerin ihr Begehren weiter verfolgt und geltend gemacht, der Sachverständige sei bereits nicht hinreichend qualifiziert, um das bei ihr bestehende Schmerzsyndrom zu gutachten. Darüber hinaus seinen die vom Sachverständigen vorgenommenen Untersuchungsverfahren, etwa durch Treppensteigen, objektiv ungeeignet, um die Wegefähigkeit in Bezug auf das Merkzeichen G zu beurteilen. Auf Antrag der Klägerin nach § 109 Sozialgerichtsgesetz hat der Senat Beweis erhoben durch Einholung eines Gutachtens des Facharztes für Innere Medizin und Psychosomatik und Psychotherapie Dr. Sch, der die Klägerin am 9. Juni 2017 untersucht hat und in seinem Gutachten vom 26. Juni 2017 zu der Einschätzung gelangt ist, die Klägerin sei nach seiner Überzeugung in der Lage, eine Strecke von ca. 2000 Metern zu Fuß zurückzulegen, allerdings werde sie hierfür überwiegend wahrscheinlich mehr als 30 Minuten benötigen. Hierfür gebe es vielfältige Gründe. So sei bei der Klägerin eine psycho-motorische Verlangsamung im Rahmen ihrer Depression festzustellen. Darüber hinaus zeige sie ein Schonverhalten, das in mangelnder Kondition resultiere. Darüber hinaus bestünden leichtgradige Funktionseinschränkungen an den großen Gelenken der unteren Extremitäten. In psychischer Hinsicht habe die Klägerin Schwierigkeiten, allein außer Haus zu gehen und Bus und Bahn zu nutzen. Dies sei erstmalig in einem Gutachten aus dem Dezember 2006 festgehalten worden. Im Laufe der darauffolgenden zehn Jahre scheine sich bei der Klägerin ein habituelles Schon- und Vermeidungsverhalten entwickelt zu haben. Nach Überzeugung des Sachverständigen seien diese Einschränkungen jedoch von der Klägerin überwindbar bzw. durch Training abzubauen. Seiner Einschätzung nach benötige die Klägerin nicht regelmäßig fremde Hilfe bei der Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel. Zwar verlasse sie das Haus und nutze auch Verkehrsmittel nicht ohne Begleitung, doch sei diese gewohnheitsmäßige Inanspruchnahme von Hilfe nicht durch somatische und psychische Leiden bzw. die Einschränkung des Gehvermögens begründet. Wegen der Einzelheiten wird auf das Gutachten Bezug genommen.

Die Klägerin beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 27. Januar 2016 zu ändern und den Beklagten unter Änderung seines Bescheides vom 17. Juni 2013 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 13. Januar 2014, in der Gestalt des Teilanerkenntnisses vom 4. Mai 2015 zu verpflichten, bei der Klägerin mit Wirkung ab dem 22. Januar 2013 die gesundheitlichen Voraussetzungen für die Inanspruchnahme der Nachteilsausgleiche mit Merkzeichen G und B festzustellen.

Der Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf den gesamten Inhalt der Streitakte sowie des beigezogenen Verwaltungsvorganges des Beklagten Bezug genommen. Er ist Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen.


Entscheidungsgründe

Die zulässige Berufung ist nicht begründet. Das Sozialgericht hat die Klage in Bezug auf die Merkzeichen G und B zu Recht abgewiesen, weil in der Person der Klägerin die Voraussetzungen für die Zuerkennung der geltend gemachten Nachteilsausgleiche nicht vorliegen.

Gemäß § 229 Abs. 1 Satz 1 SGB IX n.F. bzw. der insoweit wortgleichen Vorgängervorschrift ist in seiner Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr erheblich beeinträchtigt, wer infolge einer Einschränkung des Gehvermögens (auch durch innere Leiden oder infolge von Anfällen oder Störungen der Orientierungsfähigkeit), nicht ohne erhebliche Schwierigkeiten oder nicht ohne Gefahren für sich oder andere Wegstrecken im Ortsverkehr zurückzulegen vermag, die üblicherweise noch zu Fuß zurückgelegt werden. Als ortsübliche Wegstrecke in diesem Sinne gilt eine Strecke von etwa 2 km, die in etwa einer halben Stunde zurückgelegt wird. Allerdings ist es für die Zuerkennung des Merkzeichens G nicht ausreichend, dass diese Wegstrecke nicht in dem genannten Zeitraum bewältigt werden kann. Voraussetzung ist darüber hinaus, dass Ursache der beeinträchtigten Bewegungsfähigkeit eine Behinderung des schwerbehinderten Menschen sein und diese Behinderung dessen Gehvermögen einschränken muss. Allerdings ist das menschliche Gehvermögen keine statische Messgröße, sondern wird von verschiedenen Faktoren geprägt und variiert. Darunter sind neben den anatomischen Gegebenheiten des Körpers, also Körperbau und etwaige Behinderungen, vor allem der Trainingszustand, die Tagesform, Witterungseinflüsse, die Art des Gehens sowie Persönlichkeitsmerkmale, vor allem die Motivation zu nennen. Hiervon haben all jene Faktoren außer Betracht zu bleiben, die die Bewegungsfähigkeit des schwerbehinderten Menschen im Straßenverkehr nicht infolge einer behinderungsbedingten Einschränkung des Gehvermögens, sondern aus anderen Gründen erheblich beeinträchtigen (vgl. insgesamt: BSG, Urteil vom 13.08.1997, 9 RVs 1/96, Juris). Mit Urteil vom 11. August 2015 hat das Bundessozialgericht insoweit klargestellt, dass der umfassende Behindertenbegriff im Sinne des § 2 Abs. 1 SGB IX die Einbeziehung aller körperlichen, geistigen und seelischen Beeinträchtigungen in die vorgenannte Prüfung gebiete (BSG, Urteil vom 11.08.2015, B 9 SB 1/14 R, Juris). Unter Anlegung dieser Maßstäbe ist die Entscheidung des Sozialgerichts nicht zu beanstanden. Bereits der Sachverständige in erster Instanz hat dargelegt, dass es bei der Klägerin nach umfassender Untersuchung keine körperlichen Ursachen für eine Beeinträchtigung der Gehfähigkeit im Sinne von § 229 Abs. 1 Satz 1 SGB IX gebe. Ergänzend hierzu hat der im Berufungsverfahren nach § 109 Sozialgerichtsgesetz beauftragte Sachverständige festgestellt, die Klägerin sei in der Lage, Wegstrecken von 2000 Metern zu Fuß zurückzulegen, bedürfe hierbei jedoch überwiegend einer Zeit von mehr als 30 Minuten. Ab welcher Überschreitung dieser zeitlichen Grenze eine Zuerkennung des Merkzeichens G in Betracht kommt, bedarf hier keiner Entscheidung, denn der Sachverständige hat ebenso dargelegt, dass wesentlicher Umstand für das Überschreiten der 30 Minuten-Grenze im Falle der Klägerin deren schlechter Trainingszustand und ihre mangelnde Motivation sei und die Klägerin die Einschränkung durch Training überwinden bzw. abbauen könne. Hierbei handelt es sich um Umstände, die nach den oben angeführten Grundsätzen bei der Beurteilung der Gehwegbeschränkung außer Betracht zu bleiben haben. Dies schließt die Zuerkennung des Merkzeichens G aus.

Zu Recht hat das Sozialgericht ebenfalls die Zuerkennung des Merkzeichens B abgelehnt, denn die Klägerin hat auch insoweit keinen Anspruch. Maßgeblich ist nunmehr insoweit § 229 Abs. 2 Satz 1 SGB IX n.F. Danach sind zur Mitnahme einer Begleitperson schwerbehinderte Menschen berechtigt, die bei der Benutzung von öffentlichen Verkehrsmitteln infolge ihrer Behinderung regelmäßig auf Hilfe angewiesen sind. Auch insoweit folgt der Senat den übereinstimmenden Einschätzungen der Sachverständigen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG. Gründe für eine Zulassung der Revision gem. § 160 Abs. 2 SGG sind nicht ersichtlich.



Versorgungsmedizinische Grundsätze
in der Fassung der 5. Verordnung zur Änderung der Versorgungsmedizin-Verordnung