1. Bei der als Voraussetzung des Merkzeichens "G" in § 229 Abs 1 S 1 SGB IX genannten Wegstrecke, die üblicherweise zu Fuß zurückgelegt wird, kommt es nicht auf die empirisch festzustellende Gehgewohnheit des "normalen, nicht behinderten Durchschnittsbürgers" in der Nachbarschaft an, sondern auf die abstrakte Fähigkeit, noch solche Entfernungen zu Fuß zurückzulegen, für deren Überwindung normalerweise weder ein öffentliches noch ein privates Verkehrsmittel in Anspruch genommen wird, unabhängig davon, an welchem Ort diese Wegstrecke zurückgelegt wird.
2. Wer nur durch Wiederholung "auswendig" gelernte Wegstrecken zurückzulegen vermag, sich aber auf neuen Wegstrecken, also solchen, die er nicht täglich zurücklegt, nicht eigenständig orientieren kann, erfüllt regelmäßig die Voraussetzungen für das Merkzeichen "G".
3. Die Sätze 4 und 5 von Teil D Nr 1f) der Anlage zu § 2 VersMedV regeln GdB für eine geistige Behinderung, bei denen man von einer entsprechenden Störung der Orientierungsfähigkeit ausgehen darf: bei einem GdB von 100 ist dies unwiderleglich immer der Fall, bei einem GdB von 80 bis 90 regelmäßig (aber im Einzelfall widerleglich) und bei einem GdB unter 80 regelmäßig (aber im Einzelfall widerleglich) nicht. )


Landessozialgericht Berlin-Brandenburg 11. Senat
14.12.2020
L 11 SB 87/19
Juris



Leitsatz

1. Bei der als Voraussetzung des Merkzeichens "G" in § 229 Abs 1 S 1 SGB IX genannten Wegstrecke, die üblicherweise zu Fuß zurückgelegt wird, kommt es nicht auf die empirisch festzustellende Gehgewohnheit des "normalen, nicht behinderten Durchschnittsbürgers" in der Nachbarschaft an, sondern auf die abstrakte Fähigkeit, noch solche Entfernungen zu Fuß zurückzulegen, für deren Überwindung normalerweise weder ein öffentliches noch ein privates Verkehrsmittel in Anspruch genommen wird, unabhängig davon, an welchem Ort diese Wegstrecke zurückgelegt wird.

2. Wer nur durch Wiederholung "auswendig" gelernte Wegstrecken zurückzulegen vermag, sich aber auf neuen Wegstrecken, also solchen, die er nicht täglich zurücklegt, nicht eigenständig orientieren kann, erfüllt regelmäßig die Voraussetzungen für das Merkzeichen "G".

3. Die Sätze 4 und 5 von Teil D Nr 1f) der Anlage zu § 2 VersMedV regeln GdB für eine geistige Behinderung, bei denen man von einer entsprechenden Störung der Orientierungsfähigkeit ausgehen darf: bei einem GdB von 100 ist dies unwiderleglich immer der Fall, bei einem GdB von 80 bis 90 regelmäßig (aber im Einzelfall widerleglich) und bei einem GdB unter 80 regelmäßig (aber im Einzelfall widerleglich) nicht.


Tatbestand

Der Kläger begehrt die Feststellung des Vorliegens der gesundheitlichen Voraussetzungen für das Merkzeichen „G“ (erhebliche Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr).

Der 1986 geborene Kläger beantragte bei dem Beklagten am 7. April 2016 erstmals die Feststellung seines Behindertenstatus unter Angabe einer chronisch paranoiden Schizophrenie. Seinen Antrag hinsichtlich des Merkzeichens „G“ begründete der bereits bei Antragstellung durch seinen Berufsbetreuer vertretene Kläger damit, dass er aufgrund seiner erheblichen geistigen Beschränkung daran gehindert sei, sich in der Öffentlichkeit frei zu bewegen und zu orientieren. Seinem Antrag fügte er ein psychiatrisches Gutachten der Psychiaterin H vom 30. März 2012 bei, das für das Amtsgericht wegen der Frage der Betreuung des Klägers erstellt worden war. Die Gutachterin hatte erklärt, diagnostisch liege bei dem Kläger ein Residualzustand einer chronischen paranoiden Schizophrenie mit ausgeprägter Minus-Symptomatik vor. Aufgrund dieser seelischen Behinderung sei der Kläger nicht in der Lage, seine Angelegenheiten eigenverantwortlich und selbständig zu regeln, so dass er Betreuung für näher bezeichnete Bereiche benötige.

Nach medizinischen Ermittlungen stellte der Beklagte mit Bescheid vom 29. November 2016 den Grad der Behinderung (GdB) wegen einer seelischen Behinderung mit 50 fest, lehnte aber Merkzeichen, auch das eingangs genannte, ab. Wegen der Höhe des GdB und des Merkzeichens „G“ legte der Kläger Widerspruch ein und begründete diesen in Bezug auf das Merkzeichen damit, dass er krankheitsbedingt seine Wohnung fast nie ohne Begleitung verlasse. Dem Widerspruchsschreiben war eine Stellungnahme vom R H (H) vom 12. Dezember 2016 beigefügt, in welchem die Funktionseinschränkungen des Klägers im Alltag geschildert wurden. Demgemäß erledige der Kläger das Einkaufen selbst, neuen Anforderungen auch einfacher Art weiche er aus. So suche er einen weiter entfernt liegenden Markt auf, weil er sich dort auskenne und sich in dem näher gelegenen Markt nicht zurechtfinde. Er bewege sich wenig und gehe kaum aus dem Haus, ausgenommen zum Einkaufen und zum Snookerspiel (ein bis zwei mal in der Woche). Bezogen auf das Merkzeichen „G“ erklärte H, nach seinem Eindruck könne sich der Kläger außerhalb der von ihm gegangenen kurzen Wege nicht anhand von Himmelsrichtungen orientieren. Er, H, halte es für fraglich, ob der Kläger, wenn er allein im Stadtgebiet spazieren ginge, den Weg zurück zum Ausgangspunkt finden würde, jedenfalls geriete er dann in einen erheblichen Erregungszustand. Mit der mangelnden Orientierungsfähigkeit dürfte es auch zusammenhängen, dass der Kläger einen weiter entfernten Markt aufsuche. Mit Widerspruchsbescheid vom 16. Mai 2017 wies der Beklagte den Widerspruch des Klägers zurück.

Hiergegen hat der Kläger am 13. Juni 2017 Klage erhoben mit dem Begehren, einen höheren GdB und das Merkzeichen „G“ zu erhalten.

Das Sozialgericht hat bei der psychiatrischen Hochschulambulanz der Klinik und Hochschulambulanz für Psychiatrie und Psychotherapie der C einen Befundbericht eingeholt. Nach Auswertung desselben hat der Beklagte mit Schriftsatz vom 22. Oktober 2018 mit Wirkung ab dem 7. April 2016 einen GdB von 70 anerkannt. Dieses Teilanerkenntnis hat der Kläger zunächst nicht angenommen und eine weitere Stellungnahme von H zu den Gerichtsakten gereicht. Mit Schriftsatz vom 28. November 2018 hat er neben dem Merkzeichen „G“ einen GdB von 70 beantragt. Mit Schriftsatz vom 12. Februar 2019 hat der Kläger das Teilanerkenntnis zur Erledigung des Rechtsstreits hinsichtlich des GdB angenommen und erklärt, das Verfahren nur noch wegen den Merkzeichens „G“ fortzusetzen.

Die Annahme des Teilanerkenntnisses hat der zuständigen Kammer des Sozialgerichts bei Urteilsverkündung am 12. Februar 2019 nicht vorgelegen, so dass das Sozialgericht den Beklagten gemäß dessen Teilanerkenntnis zur Feststellung eines GdB von 70 verurteilt hat. Im Übrigen – hinsichtlich des Merkzeichens „G“ - hat es die Klage abgewiesen. Die Voraussetzungen für das Merkzeichen „G“ lägen nicht vor. Nach Teil D Nr. 1 f) der versorgungsmedizinischen Grundsätze seien bei geistig behinderten Menschen entsprechende Störungen der Orientierungsfähigkeit vorauszusetzen, wenn die behinderten Menschen sich im Straßenverkehr auf Wegen, die sie nicht täglich benutzen, nur schwer zurechtfinden könnten. Unter diesen Umständen sei eine erhebliche Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit bei geistigen Behinderungen mit einem GdB von 100 immer und mit einem GdB von 80 oder 90 in den meisten Fällen zu bejahen. Bei einem GdB unter 80 komme eine solche Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit nur in besonders gelagerten Einzelfällen in Betracht. Hier seien keine Umstände ersichtlich, die eine Abweichung von dieser Regel rechtfertigen könnten. Ein GdB von 80 liege beim Kläger nicht vor. Dass er sich nicht anhand Himmelsrichtungen orientieren könne, stelle keine krankhafte Abweichung dar, weil dies auch viele Menschen betreffe, die nicht geistig erkrankt seien.

Mit Ausführungsbescheid vom 8. April 2019 hat der Beklagte mit Wirkung ab dem 7. April 2016 den GdB mit 70 festgestellt.

Gegen das ihm am 15. März 2019 zugestellte Urteil hat der Kläger am 12. April 2019 Berufung eingelegt. Nachdem er mit der Berufungsschrift nur das Merkzeichen „G“ geltend gemacht hat, hat er mit Schriftsatz vom 15. Mai 2019 die Berufung auf einen GdB von 80 erstreckt.

Der Senat hat bei dem Facharzt für Neurologie und Psychiatrie und Sozialmediziner S ein psychiatrisch-neurologisches Gutachten vom 10. Dezember 2019 eingeholt, das dieser nach ambulanter Untersuchung des Klägers am 21. August 2019 erstellt hat und in dem er zu der Einschätzung gelangt ist, bei dem Kläger liege ein seelischer Zustand, welcher nicht nur auf einer vorübergehenden Beeinträchtigung beruhe, aufgrund eines langjährigen Krankheitsverlaufes einer paranoiden Schizophrenie mit schubförmig exazerbierenden Krankheitsepisoden, auf dem Hintergrund eines schizophrenen Residuums bei anhaltender medikamentös stabilisiert unterstützter unvollständiger Remission, vor. Diese seelische Behinderung sei mit einem GdB von 80 zu bewerten, da eine schwere Störung mit schweren sozialen Anpassungsschwierigkeiten vorliege. Infolge des langjährigen schizophrenen Krankheitsverlaufes und einer schweren Beeinträchtigung der Persönlichkeit infolge einer vielfältigen und über viele Jahre psychiatrisch wirkenden medikamentösen Therapie bestehe eine schwere und die Gesamtheit der Facetten der Persönlichkeit betreffende psychische Störung. Es habe sich eine Krankheitssymptomatik eines schizophrenen Residuums, eine Negativsymptomatik, eine Antriebsarmut, eine Adynamie und eine schwere Beeinträchtigung, ein Interesse über die chronifiziert-rituellen Umstände der Teilhabe an den Alltagsaktivitäten hinaus zu gestalten, entwickelt. Außerdem bestehe ein chronifiziertes paranoides Erleben, welches der Kläger aufgrund der langjährigen Krankheitsentwicklung und der medikamentös gemilderten Krankheits- und Wahndynamik in seine Fähigkeit der Lebensgestaltung integrieren könne, so dass keine intensive Krankheits- und Wahndynamik mehr zum Ausdruck gelangt sei. Der Kläger könne mit diesem paranoiden Erleben umgehen und dieses als Ausdruck eines für ihn unerklärlichen Phänomens, welches aus seiner Sicht der Realität entspreche, aber nach seiner Erfahrung nicht von der Allgemeinheit und den psychiatrischen Ärzten als Realität betrachtet werde, zuordnen. Infolge dessen vermeide er es tunlichst, hierüber zu sprechen. Dieses sei ihm aufgrund der medikamentös gemilderten Krankheits- und Wahndynamik möglich. Aufgrund der medikamentös gemilderten Krankheits- und Wahndynamik müsse er keine schizophren geleiteten Fehlverhaltensweisen mehr begehen, sondern er könne im Rahmen seiner chronifizierten Krankheitsauswirkung sein Leben möglichst ohne Stressfaktoren und Vermeidung von Life Events mit der regelmäßigen Hilfestellung von zwei Freunden und der infolge einer bedingten strukturierten Freizeitgestaltung auf einem beeinträchtigten psychosozialen aber stabilen psychischen Funktionsniveau wahrnehmen und gestalten. Es sei festzustellen, dass sich die psychische Behinderung mit den sich ergebenden Auswirkungen schwer beeinträchtigend auf sämtliche Bereiche der Lebensgestaltung und auf die Fähigkeiten des Betroffenen zur Teilnahme an der Lebensgestaltung auswirke. Es bestehe eine schwere Beeinträchtigung der Fähigkeit der Freizeitgestaltung, der Gestaltung von Hobbys, der Arbeitsfähigkeit, der partnerschaftlichen Beziehungsgestaltung und der sozialen Erlebnis- und Beziehungsgestaltung. Der Krankheitsverlauf und die Krankheitsauswirkung seien einer schweren Störung mit schweren sozialen Anpassungsschwierigkeiten zuzuordnen. Hierzu sei festzustellen, dass der Kläger an Krankheitsauswirkungen seine Fähigkeit der Lebensgestaltung betreffend in vielfältigen Lebensbereichen schwer beeinträchtigt sei und hieran leide, wie zum Beispiel, dass die weitere berufliche Tätigkeit ausgeschlossen sei, zudem schwerwiegende Probleme in der Familie und im Freundes- und Bekanntenkreis bestünden. Der Kläger sei zwar in der Lage, mit zwei Freunden seine Freizeit und seine Hobbys auf einem chronifiziert niedrigen psychosozialen Funktionsniveau mit zweimal in der Woche zum Snookerspielen bzw. zum Dartspielen zu gehen zu gestalten, sowie sich mit diesen Freunden kommunikativ zu unterhalten und in eine psychosoziale Interaktion zu gelangen, wobei dieses als chronifiziert ritueller psychisch stabilisierender Faktor zu bewerten sei. Darüber hinaus sei ihm infolge der chronifizierten und schweren schizophrenen Krankheitssymptome keine konstruktive Möglichkeit der freien Entfaltung seiner Persönlichkeit und seiner Lebensgestaltung möglich. Zum streitigen Merkzeichen hat der Sachverständige ausgeführt, der Kläger könne sich im Allgemeinen in seiner häuslichen Umgebung, auch mit dem Zurücklegen von Wegstrecken zu ihm bisher nicht bekannten Zielen, zutreffend orientieren und mit einer Hilfestellung sei er in der Lage, auch komplexere, neu auftretende und ungewohnte Wegstrecken zu bewältigen.

Mit Schriftsatz vom 13. Januar 2020 hat der Beklagte wegen einer seelischen Krankheit des Klägers einen GdB von 80 ab dem 7. April 2016 anerkannt und sich zur Übernahme der Hälfte der außergerichtlichen Kosten des Klägers bereit erklärt. Der Kläger hat dieses Teilanerkenntnis zur Erledigung des Rechtsstreits hinsichtlich des GdB angenommen. Im Übrigen hat er die Einholung einer ergänzenden Stellungnahme des Sachverständigen darüber angeregt, welche Hilfestellungen bei der Bewältigung von Wegstrecken gemeint seien und ab wann von einer komplexen und ungewohnten Wegstrecke auszugehen sei. Hierzu befragt, hat der Sachverständige unter dem 19. Februar 2020 ergänzend ausgeführt, unter komplexeren, neu auftretenden und ungewohnten Wegstrecken seien im Fall des Klägers solche zu verstehen, die von der Routine und der Regelmäßigkeit abweichen würden und zwar vielschichtiger, so dass nicht nur eine einfache Abweichung vorliege. Als Beispiel sei eine Wegstrecke zu nennen, welche für den Kläger eine Abweichung von der üblichen Routine und den bisher eingespielten Wegstrecken darstelle.

Der Kläger weist darauf hin, dass der GdB von 80 nunmehr unstreitig sei. Nach den Ausführungen des Sachverständigen und weil keine Anhaltspunkte für das Vorliegen eines besonders gelagerten Einzelfalles im Sinne des Teils D Nr. 1 f) der versorgungsmedizinischen Grundsätze vorlägen, sei hier vom Vorliegen der gesundheitlichen Voraussetzungen für das Merkzeichen „G“ auszugehen.

Der Kläger beantragt schriftlich,

das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 12. Februar 2019 abzuändern und den Beklagten unter entsprechender Aufhebung des Bescheides vom 29. November 2016 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 16. Mai 2017 zu verurteilen, zugunsten des Klägers mit Wirkung ab dem 7. April 2016 die gesundheitlichen Voraussetzungen für das Merkzeichen „G“ festzustellen.

Der Beklagte beantragt schriftlich,

die Berufung zurückzuweisen.

Der Kläger sei auch in der Lage, sich auf Wegstrecken zurechtzufinden, die er nicht täglich benutze. So habe er bei der Begutachtung angegeben, dass er einmal in der Woche zu Edeka sowie alle paar Tage zum Lottogeschäft oder zur Tankstelle gehe. Lediglich bei neuen Wegstrecken, die von der bisherigen Routine in vielschichtiger Weise abweichen würden, bedürfe er der Hilfe.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts wird auf den Inhalt der Gerichtsakte sowie die den Kläger betreffenden Verwaltungsvorgänge des Beklagten Bezug genommen.


Entscheidungsgründe

Der Senat kann ohne mündliche Verhandlung durch den Berichterstatter entscheiden, weil die Beteiligten zu dieser Entscheidungsform ihr Einverständnis erklärt haben, § 124 Abs. 2 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) i. V. m. § 155 Abs. 4 und Abs. 3 SGG.

Streitgegenstand ist vorliegend nur noch das Merkzeichen „G“, nachdem der Kläger das Teilanerkenntnis des Beklagten insoweit angenommen hat, vgl. § 101 Abs. 2 SGG. Daher sind der Bescheid des Beklagten vom 29. November 2016 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 16. Mai 2017, soweit er den GdB betrifft, und der Ausführungsbescheid des Beklagten vom 8. April 2019 hier nicht streitgegenständlich. Soweit das Sozialgericht über den GdB entschieden hat, hat der Senat folgerichtig hierüber ebenfalls nicht zu entscheiden. Allerdings hätte das Sozialgericht nicht über den GdB entscheiden dürfen. Denn der Kläger hat das Teilanerkenntnis des Beklagten am Tag des Termins zur mündlichen Verhandlung um 10:22 Uhr per Telefax angenommen. Dass die zuständige Kammer bei Beginn bis Ende des Termins von 11:15 bis 11:30 Uhr hierüber nicht in Kenntnis gesetzt worden ist, vermag daran nichts zu ändern. Damit war kein Raum für ein (Teil)Anerkenntnisurteil. Somit ist das Urteil des Sozialgerichts hinsichtlich des GdB nichtig, weil es entschieden hat, obwohl der Rechtsstreit zu diesem Zeitpunkt bereits erledigt und die Sache nicht mehr rechtshängig war (vgl. Urteil des Landessozialgerichts Sachsen-Anhalt vom 2. Januar 2019 - L 7 SB 30/18 – juris). Soweit zu erwägen ist, dass ein solches Scheinurteil grundsätzlich mit der Berufung angegriffen werden kann, um den von ihm ausgehenden Rechtsschein zu beseitigen, kommt dies hier schon deshalb nicht in Betracht, weil der Kläger nach weiterem Teilanerkenntnis des Beklagten während des Berufungsverfahrens den Rechtsstreit hinsichtlich des GdB – abermals – für erledigt erklärt hat. Die Beseitigung des Rechtsscheins des Urteils entspricht damit nicht dem Berufungsbegehren des Klägers. Daneben fehlt es aber ohnehin an einem den Kläger belastenden Rechtsschein, weil das Sozialgericht von einem auf einen GdB von 70 beschränkten Klagebegehren ausgegangen ist mit der Folge, dass es hinsichtlich des GdB an einer Klageabweisung fehlt.

Die zulässige Berufung ist begründet. Das Urteil des Sozialgerichts ist im noch streitigen Umfang unzutreffend. Die mit der Berufung weiterverfolgte Klage ist in Gestalt der kombinierten Anfechtungs- und Verpflichtungsklage im Sinne des § 54 Abs. 1 Satz 1 SGG zulässig und begründet. Der Bescheid des Beklagten vom 29. November 2016 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 16. Mai 2017 ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten, soweit er das allein noch streitige Merkzeichen „G“ ablehnt. Der Kläger hat gegen den Beklagten für die Zeit ab dem 7. April 2016 einen Anspruch auf Feststellung der gesundheitlichen Voraussetzungen für das Merkzeichen „G“.

Anspruchsgrundlage für die Feststellung des Vorliegens der gesundheitlichen Voraussetzungen für das Merkzeichen „G“ sind seit dem 1. Januar 2018 die §§ 159 Abs. 4 Satz 1, 228 Abs. 1 des Neunten Buches Sozialgesetzbuch (SGB IX; vorher §§ 69 Abs. 4, 145 Abs. 1 Satz 1 SGB IX). Danach hat die für die Durchführung des Bundesversorgungsgesetzes zuständige Behörde das Vorliegen der gesundheitlichen Voraussetzungen für das Merkzeichen „G“ festzustellen, wenn ein schwerbehinderter Mensch infolge seiner Behinderung in seiner Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr erheblich beeinträchtigt ist. Nach § 229 Abs. 1 Satz 1 SGB IX ist in seiner Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr erheblich beeinträchtigt, wer infolge einer Einschränkung des Gehvermögens (auch durch innere Leiden oder infolge von Anfällen oder von Störungen der Orientierungsfähigkeit) nicht ohne erhebliche Schwierigkeiten oder nicht ohne Gefahren für sich oder andere Wegstrecken im Ortsverkehr zurückzulegen vermag, die üblicherweise noch zu Fuß zurückgelegt werden. Mit diesen Bestimmungen fordert das Gesetz eine doppelte Kausalität. Denn Ursache der beeinträchtigenden Bewegungsfähigkeit muss eine Behinderung des schwerbehinderten Menschen sein und diese Behinderung muss sein Gehvermögen einschränken.

Die nähere Präzisierung des Personenkreises schwerbehinderter Menschen mit einer erheblichen Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr ergibt sich wiederum aus der Anlage zu § 2 der Versorgungsmedizin-Verordnung (VersMedV), die auch insoweit Verwaltung und Gerichte bindet. Die Grundsätze für die Feststellung der gesundheitlichen Voraussetzungen für das Merkzeichen „G“ ergeben sich aus Teil D Nr. 1 der Anlage zu § 2 VersMedV. Darin werden die bereits aus § 146 Abs. 1 Satz 1 SGB IX folgenden Grundsätze zunächst wiederholt. Darüber hinaus wird geregelt, dass es bei der Prüfung der Frage, ob die Voraussetzungen für das Merkzeichen „G“ vorliegen, nicht auf die konkreten örtlichen Verhältnisse des Einzelfalles ankommt, sondern darauf, welche Wegstrecken allgemein - d. h. altersunabhängig von nicht behinderten Menschen - noch zu Fuß zurückgelegt werden. Als ortsübliche Wegstrecke in diesem Sinne gilt eine Strecke von etwa 2 km, die in etwa einer halben Stunde zurückgelegt wird (vgl. insbesondere Teil D Nr. 1 b) der Anlage zu § 2 VersMedV).

Nähere Umschreibungen für einzelne Krankheitsbilder und Behinderungen, bei denen die gesundheitlichen Voraussetzungen für das Merkzeichen „G“ als erfüllt anzusehen sind, enthalten die Bestimmungen in Teil D Nr. 1 d) bis f) der Anlage zu § 2 VersMedV. Dort sind Regelfälle umschrieben, die angeben, welche Funktionsstörungen in welcher Ausprägung vorliegen müssen, bevor angenommen werden kann, dass ein behinderter Mensch infolge der Einschränkung des Gehvermögens „in seiner Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr erheblich beeinträchtigt ist“. Sie tragen damit dem Umstand Rechnung, dass das menschliche Gehvermögen keine statische Messgröße ist, sondern von verschiedenen Faktoren geprägt und variiert wird, zu denen neben den anatomischen Gegebenheiten des Körpers, also Körperbau und etwaige Behinderungen, vor allem der Trainingszustand, die Tagesform, Witterungseinflüsse, die Art des Gehens (ökonomische Beanspruchung der Muskulatur, Gehtempo und Rhythmus) sowie Persönlichkeitsmerkmale, vor allem die Motivation, gehören. Von all diesen Faktoren filtern die in Teil D Nr. 1 d) bis f) der Anlage zu § 2 VersMedV getroffenen Bestimmungen all jene heraus, die nach dem Gesetz außer Betracht zu bleiben haben, weil sie die Bewegungsfähigkeit des behinderten Menschen im Straßenverkehr nicht infolge einer behinderungsbedingten Einschränkung seines Gehvermögens, sondern möglicherweise aus anderen Gründen, erheblich beeinträchtigen (vgl. Bundessozialgericht, Urteil vom 24. April 2008 - B 9/9 a SB 7/06 R - juris).

Nach dem hier allein in Betracht kommenden Teil D Nr. 1 f) der Anlage zu § 2 VersMedV sind Störungen der Orientierungsfähigkeit, die zu einer erheblichen Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit führen, anzunehmen

- bei allen Sehbehinderungen mit einem GdB von wenigstens 70

- bei Sehbehinderungen, die einen GdB von 50 oder 60 bedingen, nur in Kombination mit erheblichen Störungen der Ausgleichsfunktion (z. B. hochgradige Schwerhörigkeit beiderseits, geistige Behinderung)

- bei Hörbehinderungen bei Taubheit oder an Taubheit grenzender Schwerhörigkeit im Kindesalter (in der Regel bis zum 16. Lebensjahr) oder

- im Erwachsenenalter bei diesen Hörstörungen in Kombination mit erheblichen Störungen der Ausgleichsfunktion (z. B. Sehbehinderung, geistige Behinderung).

Bei geistig behinderten Menschen sind entsprechende Störungen der Orientierungsfähigkeit vorauszusetzen, wenn die behinderten Menschen sich im Straßenverkehr auf Wegen, die sie nicht täglich benutzen, nur schwer zurechtfinden können. Unter diesen Umständen ist eine erhebliche Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit bei geistigen Behinderungen mit einem GdB von 100 immer und mit einem GdB von 80 oder 90 in den meisten Fällen zu bejahen. Bei einem GdB von unter 80 kommt eine solche Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit nur in besonders gelagerten Einzelfällen in Betracht.

Eine Seh- oder Hörbehinderung liegt hier nicht vor. Allerdings ist der Kläger ein geistig behinderter Mensch, der sich im Straßenverkehr auf Wegen, die er nicht täglich benutzt, nur schwer zurechtfinden kann. Dies folgt zur Überzeugung des Senats aus einer Gesamtschau der vorliegenden medizinischen Unterlagen, insbesondere aus dem Gutachten des Sachverständigen S, das auf einer ambulanten Untersuchung des Klägers sowie einer kritischen Würdigung der sonstigen medizinischen Unterlagen beruht und sowohl auf der Grundlage der herrschenden medizinischen Lehre als auch im Einklang mit den versorgungsmedizinischen Grundsätzen erstattet worden ist. Daraus ergibt sich, dass der Kläger eine neue Wegstrecke, welche für ihn eine Abweichung von der üblichen Routine und den bisher eingespielten Wegstrecken darstellt, nur mit Hilfestellung bewältigen kann. Aus dem Krankheitsbild des Klägers folgt, dass dieser auf niedrigem psychosozialen Funktionsniveau gewisse – gleichsam „ritualisierte“ – Aktivitäten entfalten kann, darüber hinaus ihm aber eine konstruktive Entfaltung seiner Persönlichkeit und der Lebensgestaltung nicht möglich ist. Dieser beschränkte Aktivitätsbereich spiegelt sich gleichsam in der Wegefähigkeit wider. So kann sich der Kläger auf solchen Wegstrecken orientieren, die Teil seiner durchritualisierten Lebensgestaltung sind. In diesem Sinne kann der Kläger allein den Supermarkt, ein Lottogeschäft und eine Tankstelle aufsuchen, hierbei handelt es sich gewissermaßen um durch Wiederholung „auswendig“ gelernte Wegstrecken, so dass es insoweit auch unmaßgeblich ist, dass der Kläger diese Strecken nicht täglich im Wortsinn zurücklegt, sondern gegebenenfalls auch nur einmal in der Woche. Auf neuen Wegstrecken, also solchen, die der Kläger nicht täglich zurücklegt, kann er sich dagegen nicht eigenständig orientieren. Dazu passt seine Angabe gegenüber dem Sachverständigen, nach der er sich mit der Zeit zurechtfinden könne, wenn er einmal wisse, wie er zurückkomme und er die Stadt kenne. Der Kläger ist mithin in der Lage, Wegstrecken mit der Zeit auswendig zu lernen, dagegen kann er sich auf Wegen, die er nicht täglich benutzt, nur schwer – eigentlich gar nicht – zurechtfinden. Damit erfüllt er aber die Voraussetzungen für das Merkzeichen „G“. Denn bei der als Voraussetzung dieses Nachteilsausgleichs in § 229 Abs. 1 Satz 1 SGB IX genannten Wegstrecke, die üblicherweise zu Fuß zurückgelegt wird, kommt es nicht auf die empirisch festzustellende Gehgewohnheit des „normalen, nicht behinderten Durchschnittsbürgers“ in der Nachbarschaft an, sondern auf die abstrakte Fähigkeit, noch solche Entfernungen zu Fuß zurückzulegen, für deren Überwindung normalerweise weder ein öffentliches noch ein privates Verkehrsmittel in Anspruch genommen wird, unabhängig davon, an welchem Ort diese Wegstrecke zurückgelegt wird (vgl. Landessozialgericht Rheinland-Pfalz, Urteil vom 6. November 1997 - L 4 Vs 46/96 – juris).

Bestätigt wird das Ergebnis durch den zutreffenden und zwischen den Beteiligten mittlerweile auch unstreitigen GdB von 80 nur für das psychische Leiden. Der insoweit einschlägige Wortlaut der versorgungsmedizinischen Grundsätze geht davon aus, dass „unter diesen Umständen“ – wenn sich der behinderte Mensch im Straßenverkehr auf Wegen, die er nicht täglich benutzt, nur schwer zurechtfinden kann - eine erhebliche Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit bei geistigen Behinderungen mit einem GdB von 100 immer und mit einem GdB von 80 oder 90 in den meisten Fällen zu bejahen ist. Dem Wortlaut nach wird der Anspruch des Klägers durch den für seine geistige Behinderung anerkannten GdB von 80 demnach gestützt, weil das Vorliegen eines von den „meisten Fällen“ abweichenden Ausnahmefalles nicht erkennbar ist. Daher kommt es vorliegend nicht entscheidend darauf an, dass die versorgungsmedizinischen Grundsätze, soweit sie gewisse GdB mit der Orientierungsfähigkeit zusammenführen, nicht sonderlich schlüssig erscheinen. Denn durch die Formulierung „unter diesen Umständen“ wird zumindest der Eindruck einer schwer zu rechtfertigenden Ungleichbehandlung erweckt. Danach sollen Menschen mit einer geistigen Behinderung mit einem GdB von 100 das Merkzeichen „G“ immer, mit einem GdB von 80 bis 90 meistens und mit einem GdB unter 80 nur ausnahmsweise erhalten, obwohl es dem Wortlaut der Vorschrift nach immer um einen behinderten Menschen geht („unter diesen Umständen“), der sich im Straßenverkehr auf Wegen, die er nicht täglich benutzt, nur schwer zurechtfinden kann. Sinnvoller wären die entsprechenden Regelungen in den versorgungsmedizinischen Grundsätzen wohl wie folgt auszulegen: Tatbestandsvoraussetzung ist stets, dass sich der (geistig) behinderte Mensch im Straßenverkehr auf Wegen, die er nicht täglich benutzt, nur schwer zurechtfinden kann. Ob das der Fall ist, wird sich häufig nicht ohne weiteres belegen lassen. Denn man kann schwerlich den behinderten Menschen an einem unbekannten Ort „aussetzen“, um zu sehen, ob und inwieweit er sich orientieren kann. Die Sätze 4 und 5 von Teil D Nr. 1 f) der Anlage zu § 2 VersMedV regeln daher GdB für eine geistige Behinderung, bei denen man von einer entsprechenden Störung der Orientierungsfähigkeit ausgehen darf: bei einem GdB von 100 ist dies unwiderleglich immer der Fall, bei einem GdB von 80 bis 90 regelmäßig (aber im Einzelfall widerleglich) und bei einem GdB unter 80 regelmäßig (aber im Einzelfall widerleglich) nicht. So verstanden würde der Kläger, bei dem für seine geistige Behinderung ein GdB von 80 anerkannt ist, einen Regelfall erfüllen und der Beklagte müsste dartun, warum ausnahmsweise im Fall des Klägers doch keine das Merkzeichen „G“ rechtfertigende Störung der Orientierungsfähigkeit vorliegt. Dass ihm dies vorliegend nicht gelingen kann, ergibt sich aus den vorstehenden Ausführungen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG. Eine volle Kostenerstattungspflicht des Beklagten kam hier nicht in Betracht. Zwar ist der Kläger mit seinem Begehren an sich voll durchgedrungen. Zu berücksichtigen ist aber, dass die Berufung des Klägers wegen der Höhe des GdB von Anfang an unzulässig war und zwar zum einen deshalb, weil aus den dargelegten Gründen der Rechtsstreit hinsichtlich des GdB bereits in der ersten Instanz durch angenommenes Teilanerkenntnis insoweit erledigt worden ist und zum anderen, weil der Kläger ursprünglich mit der Berufung nur das Merkzeichen „G“ geltend gemacht hat und die Erweiterung auf den GdB erst am 17. Mai 2019 und damit außerhalb der Berufungsfrist (§ 151 Abs. 1 SGG) erfolgt ist. Dass es hinsichtlich des GdB auch an einer berufungsfähigen Beschwer gefehlt hat, fällt daneben nicht ins Gewicht.

Gründe für eine Zulassung der Revision (§ 160 Abs. 2 SGG) liegen nicht vor.



Versorungsmedizinische Grundsätze
in der Fassung der 5. Verordnung zur Änderung der Versorgungsmedizin-Verordnung