Merkzeichen G Demenz

Eine Demenz kann die Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr nach den versorgungsmedizinischen Grundsätzen begründen, sodass in diesem Falle das Merkzeichen G zuzuerkennen ist.


Merkzeichen G bei Demenz


Landessozialgericht Berlin-Brandenburg 13. Senat
  09.02.2017
  L 13 SB 10/15
Juris


Tatbestand

Mit seiner Berufung wendet der Beklagte sich gegen die Verpflichtung zur Feststellung der gesundheitlichen Voraussetzungen für die Inanspruchnahme des Nachteilsausgleiches mit Merkzeichen G.

Der Beklage hatte bei der 1947 geborenen Klägerin mit Widerspruchsbescheid vom 22. Februar 1999 einen GdB von 40 festgestellt und dem folgende Funktionsbehinderungen zugrunde gelegt:

a) Wirbelsäulenverbiegung, degenerative Veränderungen der Brust-, Lenden- sowie der Halswirbelsäule, Schulterbeschwerden bds., Kniegelenksverschleiß, Fußfehlform, Fersensporn (GdB 30), b) depressive Neurose, psychovegetative Funktionsstörungen, Kopfschmerzen, Migräne (GdB 20), c) Krampfadern, Allergie, chronische Bronchitis (GdB 20).

Ferner hatte er eine dauernde Einbuße der körperlichen Beweglichkeit festgestellt. Auf einen Verschlimmerungsantrag der Klägerin hatte der Beklagte mit Bescheid vom 22. Mai 2003 den GdB auf 60 angehoben und dem eine Verschlimmerung der Funktionsbeeinträchtigung im Bereich des Skeletts auf einen Einzel-GdB von 40 sowie der psychischen Störungen der Klägerin auf einen Einzel-GdB auf ebenfalls 40 sowie eine Einzelbewertung des Migräneleidens mit einem GdB von 20 zugrunde gelegt.

Am 17. Mai 2011 stellte die Klägerin einen weiteren Verschlimmerungsantrag, mit dem sie die Zuerkennung auch des Merkzeichens G beantragte. Hierzu führte sie aus, sie sei sehr vergesslich und könne sich auf der Straße nicht orientieren. Darüber hinaus habe sie Seh- und Hörprobleme. Mit Bescheid vom 17. November 2011 setzte der Beklagte den GdB auf 70 hoch und legte dem folgende Funktionsbeeinträchtigungen zugrunde:

a) Wirbelsäulenverbiegung, degenerative Veränderungen der BWS, LWS sowie HWS, Bandscheibenschäden im LWS-Bereich mit Nervenwurzelreizerscheinungen, Kniegelenksverschleiß, Fußfehlform, Fersensporn, Osteoporose (GdB 40), b) depressive Neurose, Somatisierung, Anpassungsstörungen (GdB 40), c) Krampfadern, Allergie, chronische Bronchitis (GdB 20), d) Migräne (GdB 20), e) Heuschnupfen (GdB 10), f) Schwerhörigkeit mit Ohrgeräuschen (GdB 30), g) wiederkehrende Nesselsucht (GdB 10), sowie h) Bluthochdruck, Herzrhythmusstörungen und Gleichgewichtsstörungen (GdB 20).

Die Zuerkennung des Merkzeichens G lehnte er indes ab.

Den hiergegen gerichteten Widerspruch begründete die Verfahrensbevollmächtigte der Klägerin ausschließlich in Bezug auf die Versagung des Merkzeichens G. Mit Widerspruchsbescheid vom 20. August 2012 wies der Beklagte den Widerspruch zurück, wobei er auch ausführte, warum seines Erachtens ein höherer GdB als 70 nicht beansprucht werden könne.

Mit der am 18. September 2012 erhobenen Klage hat die Klägerin beantragt, „den Beklagten zu verpflichten, festzustellen, dass bei der Klägerin der Grad der Behinderung für die Wirbelsäulenverbiegung, degenerative Veränderungen der BWS, LWS sowie der HWS, Bandscheibenschäden im LWS-Bereich mit Nervenwurzelreizerscheinungen, Kniegelenksverschleiß, Fußfehlform, Fersensporn und Osteoporose mindestens 50 beträgt und die gesundheitlichen Voraussetzungen für die Eintragung des Merkzeichens G vorliegen“.

Das Sozialgericht hat Befundberichte eingeholt und ein Gutachten des Facharztes für Allgemeinmedizin sowie für physikalische und rehabilitative Medizin Dr. S eingeholt, der die Klägerin am 16. Oktober 2013 untersucht hat und in seinem Gutachten vom 3. Dezember 2013 zu der Einschätzung gelangt ist, bei der Klägerin bestünden folgende Funktionsstörungen:

1. Funktionsstörungen bei Verschleiß der Hals-, Brust- und Lendenwirbelsäule; Hinweise auf Knochenentkalkung (Osteoporose) (GdB 20), 2. Kniegelenkverschleiß, Fußfehlform, Fersensporn, Krampfaderleiden (GdB 10), 3. Depressionen, Somatisierungsstörungen, subjektiv empfundene Herzrhythmusstörungen, Kopfschmerzsymptomatik, Gleichgewichtsstörungen (GdB 40), 4. Hörminderung, Ohrgeräusche (Tinnitus) (GdB 30), 5. Bluthochdruckerkrankung (GdB 10), 6. Hautallergie, Juckreiz (GdB 10).

Unter Berücksichtigung des Wirbelsäulenleidens, der Hörminderung und des psychischen Leidens sei der Gesamt-GdB auf 50 zu bemessen. Das Gangbild der Klägerin hat er als normal und unauffällig beschrieben. Hinsichtlich der Beurteilung des psychischen Leidens hat der Sachverständige ein fachpsychiatrisches Zusatzgutachten unter Zuhilfenahme eines Sprachmittlers angeregt.

Das Sozialgericht hat daraufhin weiter Beweis erhoben durch Einholung eines Gutachtens der Fachärztin für Psychiatrie T, die die Klägerin am 2. und 15. Juli 2014 unter Zuhilfenahme einer Sprachmittlerin untersucht hat und in ihrem Gutachten vom 4. September 2014 zu der Einschätzung gelangt ist, die Klägerin leide an einer Demenz mit Gedächtnisstörung und Beeinträchtigung der Exekutivfunktionen. Diese sei nach ihrer Einschätzung mit einem GdB von 70 zu bewerten, es handele sich um Hirnschäden mit psychischen Störungen mittelgradig (im Alltag sich deutlich auswirkend). Der Gesamt-GdB sei unter Berücksichtigung der durch den Sachverständigen S. weiter festgestellten Funktionsbeeinträchtigungen auf 80 festzusetzen. Ihres Erachtens sei die Gehfähigkeit der Klägerin durch eine Orientierungsstörung beeinträchtigt. Sie sei nicht in der Lage, ohne erhebliche Schwierigkeiten, Wegstrecken im Ortsverkehr, die üblicherweise noch zu Fuß zurückgelegt werden, zurückzulegen. Zwar könne sie 2000 Meter innerhalb von etwa 30 bis 40 Minuten zu Fuß zurücklegen, doch sei sie aufgrund ihrer erheblichen Gedächtnisstörungen, die sich in Orientierungsstörungen äußerten, nicht im Stande, sich zielgerichtet im besagten Zeitraum zu bewegen. Der Beklagte ist der Einschätzung der Sachverständigen insoweit entgegengetreten, als seines Erachtens die psychische Funktionsbeeinträchtigung mit einem GdB von maximal 60 bewertet werden könne. Bei geistigen Behinderungen sei eine erhebliche Beeinträchtigung der Gehfähigkeit bei einem GdB unter 80 nur in besonders gelagerten Einzelfällen möglich, wofür hier keine Anhaltspunkte gegeben seien. Mit ergänzender Stellungnahme vom 7. November 2014 hat die Sachverständige an ihrer Einschätzung festgehalten und ausgeführt, bei der Klägerin zeige sich gegenwärtig ein Krankheitsbild, das in seiner Gesamtheit zwar im Vergleich zu anderen Krankheitsfällen der gleichen Gruppe nicht als ein Fall der schweren Demenz einzuschätzen sei. Die Bewegungsfähigkeit der Klägerin bzw. deren Einschränkung berechtige indes bereits jetzt zu einer Einschätzung des Grades der Behinderung auf 70.

Mit Gerichtsbescheid vom 2. Januar 2015 hat das Sozialgericht den Beklagten unter Abänderung seines Bescheides vom 17. November 2011 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 20. August 2012 verurteilt, bei der Klägerin einen GdB von 80 sowie das Vorliegen der gesundheitlichen Voraussetzungen für die Eintragung des Merkzeichens G jeweils ab Juli 2014 festzustellen und im Übrigen die Klage abgewiesen. Eine Kostenerstattung hat es der Klägerin nicht zugesprochen. Zur Begründung hat das Sozialgericht ausgeführt, das Begehren der Klägerin sei sinngemäß dahingehend zu verstehen, dass sie die Feststellung eines GdB von 80 und das Vorliegen der gesundheitlichen Voraussetzungen für die Eintragung des Merkzeichens G festgestellt wissen wolle. Der so verstandene Antrag sei überwiegend begründet, wenn auch nicht im Hinblick auf den Zeitpunkt der begehrten Zuerkennung, da insoweit die Demenz erst im Zeitpunkt der Untersuchung durch die Sachverständige Tals gesichert angenommen werden könne. In den Entscheidungsgründen finden sich Ausführungen zur Höhe des Gesamt-GdB an keiner Stelle, ebenso wenig finden sich Ausführungen zur Höhe des Grades der Behinderung auf dem psychiatrischen Fachgebiet. Hinsichtlich des Merkzeichens G hat das Sozialgericht ausgeführt, zwar komme bei geistigen Behinderungen mit einem GdB unter 80 die Zuerkennung des Merkzeichens G nur in besonders gelagerten Einzelfällen in Betracht, ein solcher sei hier jedoch in Übereinstimmung mit den Feststellungen der Sachverständigen T gegeben. Insbesondere sei es möglich, einen mobilitätslimitierenden Teil-GdB aus einer Kombination der körperlichen sich auf die Bewegungsfähigkeit negativ auswirkenden Funktionsbeeinträchtigungen und der psychischen Leiden zu bilden, darüber hinaus sei die besondere Wechselwirkung zwischen der festgestellten Schwerhörigkeit mit Ohrgeräuschen und den psychisch bedingten Orientierungsstörungen in Betracht zu nehmen und festzustellen, dass eine wechselseitige erhebliche Verstärkung der Orientierungsstörungen zu verzeichnen sei. Dies rechtfertige die Annahme einer erheblichen Gehbehinderung.

Mit der hiergegen gerichteten Berufung bringt der Beklagte vor, ein höherer GdB als 70 sei medizinisch nicht zu begründen und ergebe sich auch nicht aus den eingeholten Gutachten. So überzeuge das Gutachten der Sachverständigen T insoweit nicht, als keine psychologische Leistungsbeurteilung zur Beurteilung der demenziellen Symptomatik vorgenommen worden sei. Näher liegend, als eine Demenz, sei hier die Annahme einer so genannten Pseudo-Demenz im Rahmen einer depressiven Störung. Bei einer Demenz, die eine alltagsrelevante mittelgradige Funktionsbeeinträchtigung aufweise, müsste eine entsprechende ambulante oder stationäre organische Diagnostik durchgeführt worden sein. Auch seien Befund-Diskrepanzen gegenüber dem Gutachten des Sachverständigen Dr. S festzustellen, der eine Einschränkung der Konzentrationsfähigkeit nicht habe feststellen können. Auch das Gedächtnis der Klägerin beschreibe er als weitestgehend normal. Nach Ansicht des versorgungsärztlichen Dienstes des Beklagten sei die psychische Beschwerdesymptomatik der Klägerin maximal mit einem GdB von 40 zu bewerten und die Zuerkennung des Merkzeichens G auf psychiatrischer Grundlage nicht gerechtfertigt. Hinsichtlich der Höhe des GdB haben die Beteiligten übereinstimmend das Verfahren für erledigt erklärt.

Der Beklagte beantragt,

den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Berlin vom 2. Januar 2015 aufzuheben und die Klage abzuweisen, soweit der Rechtsstreit nicht erledigt ist.

Die Klägerin beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf den gesamten Inhalt der Streitakte sowie des beigezogenen Verwaltungsvorganges des Beklagten Bezug genommen. Er ist Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen.


Entscheidungsgründe

Die Berufung des Beklagten ist zulässig, in dem nach übereinstimmender Erledigungserklärung allein verbliebenen Klagegegenstand Feststellung der gesundheitlichen Voraussetzungen für die Zuerkennung des Merkzeichens G jedoch nicht begründet.

Zu Recht hat das Sozialgericht den Beklagten zur Feststellung jener Voraussetzungen verpflichtet. Gemäß § 145 Abs. 1 Satz 1 Sozialgesetzbuch / Neuntes Buch (SGB IX) haben schwerbehinderte Menschen, die infolge ihrer Behinderung in ihrer Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr erheblich beeinträchtigt sind, Anspruch auf unentgeltliche Beförderung. Alternativ können sie nach § 3a Abs. 2 Kraftfahrzeugsteuergesetz eine Ermäßigung der Kraftfahrzeugsteuer um 50 v. H. beanspruchen. Über das Vorliegen der damit angesprochenen gesundheitlichen Merkmale treffen die für die Durchführung des Bundesversorgungsgesetzes zuständigen Behörden die erforderlichen Feststellungen (§ 69 Abs. 1 und 4 SGB IX).

Nach § 146 Abs. 1 Satz 1 SGB IX ist in seiner Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr erheblich beeinträchtigt, wer infolge einer Einschränkung des Gehvermögens nicht ohne erhebliche Schwierigkeiten oder nicht ohne Gefahr für sich oder andere Wegstrecken im Ortsverkehr zurückzulegen vermag, die üblicherweise noch zu Fuß zurückgelegt werden. Bei der Prüfung der Frage, ob diese Voraussetzungen erfüllt sind, kommt es nicht auf die konkreten örtlichen Verhältnisse des Einzelfalles an, sondern darauf, welche Wegstrecken allgemein – d.h. altersunabhängig von nichtbehinderten Menschen – noch zu Fuß zurückgelegt werden. Als ortsübliche Wegstrecke in diesem Sinne gilt eine Strecke von etwa zwei Kilometern, die in etwa einer halben Stunde zurückgelegt wird (Bundessozialgericht -BSG-, Urteil vom 10. Dezember 1987, 9a RVs 11/87, BSGE 62, 273 = SozR 3870 § 60 Nr. 2). Allerdings ist es für die Zuerkennung des Merkzeichens „G“ nicht ausreichend, dass diese Wegstrecke nicht in dem genannten Zeitraum bewältigt werden kann. Das Gesetz fordert in § 145 Abs. 1 Satz 1, § 146 Abs. 1 Satz 1 SGB IX darüber hinaus, dass Ursache der beeinträchtigten Bewegungsfähigkeit eine Behinderung des schwerbehinderten Menschen sein und diese Behinderung dessen Gehvermögen einschränken muss (sog. „doppelte Kausalität“, siehe BSG, Urteil vom 24. April 2008 – B 9/9a SB 7/06 R –, SozR 4-3250 § 146 Nr. 1). Hierzu hatte das Bundessozialgericht die Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertenrecht (AHP) herangezogen, die in Nr. 30 Abs. 3 bis 5 Regelfälle beschrieben, bei denen nach dem allgemein anerkannten Stand der medizinischen Erkenntnisse die gesundheitlichen Voraussetzungen für das Merkzeichen "G" als erfüllt anzusehen waren und die bei der Beurteilung einer dort nicht erwähnten Behinderung als Vergleichsmaßstab dienen konnten (so BSG, Urteil vom 13. August 1997, – 9 RVs 1/96 –, SozR 3-3870 § 60 Nr. 2). Nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts gaben die AHP an, welche Funktionsstörungen in welcher Ausprägung vorliegen mussten, bevor angenommen werden konnte, dass ein Behinderter infolge einer Einschränkung des Gehvermögens "in seiner Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr erheblich beeinträchtigt ist". Damit wurde dem Umstand Rechnung getragen, dass das menschliche Gehvermögen keine statische Messgröße ist, sondern von verschiedenen Faktoren geprägt und variiert wird. Darunter sind neben den anatomischen Gegebenheiten des Körpers, also Körperbau und etwaige Behinderungen, vor allem der Trainingszustand, die Tagesform, Witterungseinflüsse, die Art des Gehens (ökonomische Beanspruchung der Muskulatur, Gehtempo und Rhythmus) sowie Persönlichkeitsmerkmale, vor allem die Motivation, zu nennen. Von diesen Faktoren filterten die AHP all jene heraus, die nach dem Gesetz außer Betracht zu bleiben haben, weil sie die Bewegungsfähigkeit des schwerbehinderten Menschen im Straßenverkehr nicht infolge einer behinderungsbedingten Einschränkung seines Gehvermögens, sondern möglicherweise aus anderen Gründen erheblich beeinträchtigen (vgl. BSG, Urteil vom 13. August 1997, a.a.O.).

Diese Grundsätze gelten auch auf der Grundlage der in der Anlage zu der am 1. Januar 2009 in Kraft getretenen Versorgungsmedizin-Verordnung (VersMedV) vom 10. Dezember 2008 (BGBl. I S. 2412) festgelegten „Versorgungsmedizinischen Grundsätze“ weiter, und zwar unabhängig davon, ob – wie überwiegend vertreten wird (so Dau, jurisPR-SozR 4/2009, Anm. 4; Oppermann, in: Hauck/Noftz, GK SGB, Loseblattwerk Stand: 2013, Rn. 36a zu § 69 SGB IX; LSG Baden-Württemberg, seit Urteil vom 23. Juli 2010 – L 8 SB 3119/08 – in ständiger Rechtsprechung, zuletzt Urteil vom 24. Januar 2014 – L 8 SB 2723/13 –; LSG für das Land Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 16. Dezember 2009 – L 10 SB 39/09 –; offen gelassen von: LSG für das Land Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 16. Oktober 2013 – L 10 SB 154/12 –; LSG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 19. Dezember 2011 – L 13 SB 12/08 –) – die Vorschriften über die Voraussetzungen des Merkzeichens „G“ in Teil D Nr. 1d bis 1f der Anlage zu § 2 VersMedV mangels gesetzlicher Ermächtigungsgrundlage nichtig sind. Denn die in den AHP aufgestellten Kriterien wurden über Jahre hinweg sowohl von der Verwaltung als auch von den Gerichten in ständiger Übung angewandt, weshalb die Voraussetzungen für die Zuerkennung des Merkzeichens "G" als gewohnheitsrechtlich anerkannt zu betrachten sind (so auch LSG für das Land Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 16. Dezember 2009 – L 10 SB 39/09 –). Hinzu kommt, dass mit ihrer Verrechtlichung durch die VersMedV keine Änderung des Rechtszustandes beabsichtigt war, da sie materiell die Regelungen zum Merkzeichen „G“ unverändert aus den AHP übernommen hat. Den genannten Bedenken hat der Gesetzgeber inzwischen mit dem Gesetz vom 7. Januar 2015 (BGBl. II S. 15) Rechnung getragen, indem er in § 70 Abs. 2 SGB IX mit Wirkung ab 15. Januar 2015 das Bundesministerium für Arbeit und Soziales ermächtigt hat, durch Rechtsverordnung mit Zustimmung des Bundesrates die Grundsätze aufzustellen, die für die medizinische Bewertung des Grades der Behinderung und die medizinischen Voraussetzungen für die Vergabe von Merkzeichen maßgebend sind, die nach Bundesrecht im Schwerbehindertenausweis einzutragen sind. Nach Ansicht des Bundessozialgerichts (Urteil vom 11. August 2015 –B 9 SB 1/14 R –, SozR 4-3250 § 69 Nr. 21) verbleibt es für eine Übergangszeit bis zum Erlass einer neuen Rechtsverordnung bei der bisherigen Rechtslage (vgl. § 159 Abs. 7 SGB IX; hierzu BT-Drucks 18/3190, S. 5).

Die Aufzählung der Regelbeispiele in Teil D Nr. 1d bis Nr. 1f der Anlage zu § 2 VersMedV enthält indes keine abschließende Listung der in Betracht kommenden Behinderungen aus dem Formenkreis einzelner medizinischer Fachrichtungen: Anspruch auf den Nachteilsausgleich G hat – über die genannten Regelbeispiele hinausgehend – vielmehr auch der schwerbehinderte Mensch, der nach Prüfung des einzelnen Falles aufgrund anderer Erkrankungen mit gleich schweren Auswirkungen auf die Gehfunktion und die zumutbare Wegstrecke dem beispielhaft aufgeführten Personenkreis gleichzustellen ist (siehe BSG, Urteil vom 11. August 2015 – B 9 SB 1/14 R –, SozR 4-3250 § 69 Nr. 21). Denn der umfassende Behindertenbegriff im Sinne des § 2 Abs. 1 Satz 1 SGB IX gebietet im Lichte des verfassungsrechtlichen als auch des unmittelbar anwendbaren UN-konventions-rechtlichen Diskriminierungsverbots (Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG; Art. 5 Abs. 2 UN-BRK) die Einbeziehung aller körperlichen, geistigen und seelischen Beeinträchtigungen. Den nicht erwähnten Behinderungen sind die Regelbeispiele als Vergleichsmaßstab zur Seite zu stellen (vgl. BSG, Urteil vom 11. August 2015 a.a.O. unter Hinweis auf das Urteil vom 13.8.1997 – 9 RVs 1/96 –, SozR 3-3870 § 60 Nr. 2).

Gemessen an diesen Maßstäben ist die Klägerin erheblich gehbehindert. Die VersMedV enthält in ihrer Anlage zu § 2 (Versorgungsmedizinische Grundsätze-VMG) in Teil D 1f folgende Konkretisierung: Bei geistig behinderten Menschen sind entsprechende Störungen der Orientierungsfähigkeit vorauszusetzen, wenn die behinderten Menschen sich im Straßenverkehr sich auf Wegen, die sie nicht täglich benutzen, nur schwer zurechtfinden können. Unter diesen Umständen ist eine erhebliche Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit bei geistigen Behinderungen mit einem GdB von 100 immer und mit einem GdB von 80 oder 90 in den meisten Fällen zu bejahen. Bei einem GdB unter 80 kommt eine solche Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit nur in besonders gelagerten Einzelfällen in Betracht. Um einen solchen Fall handelt es sich hier. Die Sachverständige T hat bei der Klägerin unter Annahme eines Einzel-GdB von 70 für die Demenz die Voraussetzungen für die Zuerkennung des Merkzeichens G angenommen und insoweit darauf abgestellt, dass die Klägerin unter erheblichen Gedächtnisstörungen litte, die sich bei ihr in Orientierungsstörungen manifestierten, weshalb sie nicht zielgerichtet Wegstrecken zu Fuß zurücklegen könne. Insoweit hat sie in ihrer Anamnese festgestellt, bei der Klägerin bestehe eine eindeutige Merkschwäche für neue Inhalte, z.B. lebenswichtige Daten, Zahlen oder Preise. Die zeitliche Ordnung sei bei ihr erheblich gestört mit einer deutlichen Störung des Alt- und Neugedächtnisses. Das Konzentrationsvermögen der Klägerin sei stark herabgesetzt. Sie verliere im öffentlichen Straßenraum die Orientierung und gerate in Panik. Diese Feststellungen der Sachverständigen im Jahr 2014 entsprechen der Selbstbeschreibung der Klägerin in ihrem Neufeststellungsantrag aus dem Jahr 2011. Sie lassen sich ohne weiteres unter die gesetzliche Vorgabe in § 146 Abs. 1 Satz 1 SGB IX subsumieren, denn es liegt auf der Hand, dass die Klägerin sich wegen der Merk- und Orientierungsstörungen im Straßenverkehr in Gefahr für sich selbst brächte.

Ohne Erfolg beruft sich der Beklagte darauf, dass die von der Sachverständigen festgestellten Defizite bei der Klägerin nicht bereits von dem zuvor zum Sachverständigen bestellten Arzt Dr. S festgestellt worden seien und insofern allenfalls eine behandelbare Pseudo-Demenz vorliege. Der Einwand geht bereits deshalb fehl, weil der Sachverständige Dr. S sich der Unzulänglichkeit seiner Erkenntnismöglichkeiten auf psychischem Gebiet bewusst war und deshalb ausdrücklich eine insoweit fachkundige Begutachtung unter Zuhilfenahme einer von ihm nicht in Anspruch genommenen Sprachmittlerin angeregt hat. Darüber hinaus ist für die Zuerkennung eines GdB wie auch für die Feststellung der gesundheitlichen Voraussetzungen eines Nachteilsausgleiches auf den jeweiligen Zustand des Betroffenen abzustellen, ohne dass es auf Möglichkeiten einer Verbesserung bei Inanspruchnahme möglicher Behandlung ankäme.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG und berücksichtigt den Grad des wechselseitigen Unterliegens. Gründe für eine Zulassung der Revision gem. § 160 Abs. 2 SGG sind nicht ersichtlich.



Versorgungsmedizinische Grundsätze
in der Fassung der 5. Verordnung zur Änderung der Versorgungsmedizin-Verordnung