Merkzeichen B   an Diabetes erkranktes Kind

Die Zuerkennung des Merkzeichens H bei einem Kind, das an einem insulinpflichtigen Diabetes mellitus leidet, bedingt nur in Ausnahmefällen auch die Zuerkennung des Merkzeichens B.


Merkzeichen B   Diabetes


Bayerisches Landessozialgericht 3. Senat
  28.07.2014
  L 3 SB 195/13
Juris


Leitsatz

Die Zuerkennung des Merkzeichens H bei einem Kind, das an einem insulinpflichtigen Diabetes mellitus leidet, bedingt nur in (hier nicht gegebenen) Ausnahmefällen auch die Zuerkennung des Merkzeichens B. Denn die latente Gefahr des Erleidens hypoglykämischer Schocks ist hinsichtlich des Merkzeichens B nicht ausreichend, um die Notwendigkeit einer ständigen Begleitung bei der Benutzung von öffentlichen Verkehrsmitteln zu begründen.

Für die Beurteilung, ob die Voraussetzungen des Nachteils B bei einem behinderten Kind vorliegen, sind vielmehr dieselben Kriterien wie bei einem Erwachsenen maßgebend.


Tatbestand

Die 2007 geborene kindliche Klägerin ist schwerbehindert im Sinne von §§ 2 Abs. 2, 69 Abs. 1 Sozialgesetzbuch Neuntes Buch - Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen (SGB IX). Zwischen den Beteiligten ist die Feststellung des Merkzeichens "B" im Sinne von § 146 Abs. 2 SGB IX streitig.

Die Klägerin leidet an einem Diabetes mellitus, der mit Diät und Insulin einstellbar ist. Auf den Erstantrag vom 03.03.2010 stellte der Beklagte mit Bescheid vom 05.05.2010 einen Grad der Behinderung (GdB) von 50 fest, ebenso die gesundheitlichen Voraussetzungen für das Merkzeichen "H". Mit Bescheid vom 12.09.2012 wurde die Feststellung der gesundheitlichen Voraussetzungen für das Merkzeichen "B" abgelehnt.

Auf den weiteren Antrag vom 04.10.2012 lehnte der Beklagte mit Bescheid vom 10.10.2012 die Feststellung der gesundheitlichen Voraussetzungen für die Merkzeichen "G" und "B" ab. Im Hinblick auf beide beantragte Merkzeichen sei darauf hinzuweisen, dass bei Kindern und Jugendlichen für die Beurteilung dieselben Kriterien wie bei Erwachsenen mit gleichen Gesundheitsstörungen maßgebend seien.

Der gesetzliche Vertreter der Klägerin beantragte mit Widerspruch vom 15.10.2012 die Zuerkennung des Merkzeichens "B". Seine schwerbehinderte Tochter sei unter 16 Jahre alt und bedürfe wegen des Diabetes mellitus der ständigen Begleitung.

Der Beklagte wies den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 15.01.2013 zurück. Ein Kind mit einem insulinpflichtigen Diabetes mellitus habe nur unter den gleichen Bedingungen wie ein Erwachsener Anspruch auf den Nachteilsausgleich "B". Tagsüber auftretende, häufige hypoglykämische Schockzustände, die eine Begleitung bei der Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel erforderlich machen würden, seien durch die ärztlichen Unterlagen nicht nachgewiesen. Hypoglykämien seien nicht beschrieben.

Die Bevollmächtigten der Klägerin haben mit Klage zum Sozialgericht München (SG) vom 15.02.2013 beantragt, das Merkzeichen "B" zuzuerkennen.

Das SG hat die Schwerbehinderten-Akten des Beklagten beigezogen und Dr. M. zum ärztlichen Sachverständigen bestellt. Dieser ist mit fachinternistischem Gutachten vom 29.04.2013 zu dem Ergebnis gekommen, dass bei der Allgemeininspektion keine Auffälligkeiten bestanden haben. Das altersentsprechend gesund aussehende Kind hat äußerlich keine Symptome gravierender Gesundheitsstörungen im Bereich der inneren Organe und des Bewegungsapparates geboten. Es ist örtlich und zeitlich für das Alter ausreichend orientiert gewesen. Der Gang und das Bewegungsbild sind nicht erkennbar gestört gewesen. Auch psychisch ist es altersentsprechend unauffällig gewesen. Dennoch sei das Merkzeichen "B" zuzuerkennen. Im vorliegenden Fall bestehe eine so schwerwiegende Erkrankung mit einer hochgradigen Gefährdung durch Unterzuckerung, dass eine ständige Begleitung medizinisch indiziert sei.

Dr. S. hat mit internistisch-versorgungsärztlicher Stellungnahme vom 16.05.2013 entgegnet, durch die Zuerkennung des Merkzeichens "H" sei bereits festgestellt worden, dass das Kind aufgrund der Erkrankung als "hilflos" anzusehen sei und deshalb eine Hilfsperson/Begleitperson benötige, um die Zuckerkrankheit zu überwachen. Hinsichtlich des Merkzeichens "B" sei entscheidend, ob Erwachsene mit der gleichen Gesundheitsstörung regelmäßig eine Begleitung bei der Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel benötigten. Dies sei vorliegend nicht der Fall. Dr. M. hat mit Stellungnahme vom 25.06.2013 darauf hingewiesen, die potentiell lebensbedrohlichen Zustände der Unterzuckerung sollten nicht einfach unerfahrenen Mitreisenden in öffentlichen Verkehrsmitteln überlassen werden. Hier seien Begleitpersonen notwendig, die mit solchen Krisensituationen vertraut seien.

Nach Anhörung hat das SG mit Gerichtsbescheid vom 01.10.2013 ausgesprochen: Der Bescheid vom 10.10.2012 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 15.01.2013 wird aufgehoben und der Beklagte verpflichtet, bei der Klägerin ab Antragstellung das Merkzeichen "B" zuzuerkennen. Hierbei hat sich das SG auf die Ausführungen des Sachverständigen Dr. M. mit Gutachten vom 29.04.2013 und ergänzender Stellungnahme vom 25.06.2013 gestützt.

Der Beklagte hebt mit Berufung vom 23.10.2013 hervor, die Argumentation, die bei Diabetes mellitus quasi regelhaft zur Zuerkennung des Merkzeichens "B" jedenfalls bei Kindern führe, gehe fehl. Dem latenten Hilfebedarf der Klägerin werde durch die Zuerkennung des Merkzeichens "H" Rechnung getragen, das gerade bei Kindern nach seinen Voraussetzungen insoweit eine generalisierende Betrachtungsweise zulasse. Das Merkzeichen "B" stehe jedoch nicht zu. Tatsächlich aufgetretene bzw. konkret drohende hypoglykämische Schocks in der Vergangenheit hätten bei der Klägerin aufgrund der verwaltungsseitig betriebenen Sachverhaltsermittlung definitiv ausgeschlossen werden können.

Der Senat zieht die Schwerbehinderten-Akten des Beklagten bei und überträgt mit Beschluss vom 13.11.2013 die Berufung dem Berichterstatter, der zusammen mit den ehrenamtlichen Richtern über die Berufung zu entscheiden hat.

Die Bevollmächtigten der Klägerin übermitteln das Diabetes-Tagebuch für den Zeitraum 12.10.2012 bis 28.11.2013. Dr. L. weist mit versorgungsärztlicher Stellungnahme vom 17.02.2014 darauf hin, dass in dem genannten Zeitraum nur zwei sicher schwere, einer Fremdhilfe bedürfenden Hypoglykämien am 22.12.2012 und 25.03.2013 belegt seien. An sechs weiteren Tagen seien grenzwertige Werte dokumentiert.

Die gerichtlich bestellte Sachverständige Dr. D. kommt mit Gutachten vom 28.04.2014 zu dem Ergebnis, dass die Merkzeichen "G" und "B" nicht zuständen. Das Blutzuckertagebuch vom 12.10.2012 bis 28.11.2013 habe insgesamt 17 Unterzuckerungen mit Werten von weniger als 50 mg/dl und davon vier Unterzuckerungen mit Werten von weniger als 40 mg/dl gezeigt, die möglicherweise auch bei einem Erwachsenen fremde Hilfe bei der Bewältigung der Hypoglykämien erfordern könnten. Diese Befundlage sei nicht gleichzusetzen mit hirnorganischen Anfällen mittlerer Anfallshäufigkeit.

In Berücksichtigung der von den Bevollmächtigten der Klägerin mit Schriftsatz vom 20.06.2014 aufgeworfenen medizinischen und rechtlichen Fragen weist Dr. D. mit ergänzender Stellungnahme vom 01.07.2014 darauf hin, ein erwachsener Diabetiker mit gleicher Stoffwechsellage, bei dem möglicherweise viermal fremde Hilfe bei Hypoglykämien erforderlich gewesen sein könnte, in einem Zeitraum von zwölf Monaten, zuletzt am 07.07.2013, also zuletzt vor acht Monaten, sei durchaus in der Lage, sich im öffentlichen Straßenverkehr und bei Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel, sowohl beim Ein- und Aussteigen, als auch während der Fahrt sicher zu verhalten. Anzumerken sei, dass ein erwachsener Diabetiker mit der Stoffwechsellage, wie sie bei der kindlichen Klägerin vorliege, auch einen PKW führen dürfe, wenn er sich entsprechend vorbereite. Die weitergehenden Fragen der Klägerbevollmächtigten seien rechtlicher Natur und nicht von sachverständiger Seite aus zu beantworten.

Die Bevollmächtigten der Klägerin haben mit Schriftsatz vom 20.06.2014 insbesondere darauf hingewiesen, sollte der Klägerin das Merkzeichen "B" verweigert werden, würde dies letztendlich eine unzulässige Diskriminierung wegen ihres jugendlichen Alters darstellen. Die "Versorgungsmedizinischen Grundsätze" seien insoweit nicht mehr anwendbar. Sollte, wie gefordert, tatsächlich bei der Beurteilung des Vorliegens des Merkzeichens "B" bei Säuglingen und Kleinkindern nicht der Vergleich mit gleichaltrigen Nichtbehinderten zugrunde gelegt werden, sondern der Vergleich mit festgestellten Gesundheitsstörungen bei Erwachsenen, so habe dies das absurde und sicherlich nicht gewollte Ergebnis zur Folge, dass trotz wesentlich höheren Schutzbedürfnisses das Kleinkind im Vergleich zum Erwachsenen deutlich schlechter gestellt werden würde.

In der mündlichen Verhandlung vom 28.07.2011 stellt der Bevollmächtigte des Beklagten den Antrag,

den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts München vom 01.10.2013 aufzuheben und die Klage gegen den Bescheid vom 10.10.2012 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 15.01.2013 abzuweisen.

Der Bevollmächtigte der Klägerin beantragt,

die Berufung des Beklagten zurückzuweisen.

Zur Ergänzung des Sachverhalts wird auf den Inhalt der beigezogenen Schwerbehinderten-Akten des Beklagten sowie die Gerichtsakten beider Instanzen Bezug genommen.


Entscheidungsgründe

Die form- und fristgerecht eingelegte Berufung des Beklagten ist gemäß §§ 143, 144 und 151 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) zulässig und begründet. Der Senat hat mit Beschluss vom 13.11.2013 die Berufung dem Berichterstatter übertragen, der zusammen mit den ehrenamtlichen Richtern über die Berufung zu entscheiden hat (§§ 105 Abs. 1, 153 Abs. 5 SGG).

Der Gerichtsbescheid des Sozialgerichts München (SG) vom 01.10.2013 ist aufzuheben und die Klage gegen den Bescheid vom 10.10.2012 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 15.01.2013 ist abzuweisen. Die Klägerin hat keinen Anspruch auf Feststellung der gesundheitlichen Voraussetzungen für die Zuerkennung des Merkzeichens "B" im Sinne von § 146 Abs. 2 SGB IX.

Zur Mitnahme einer Begleitperson sind schwerbehinderte Menschen berechtigt, die bei der Benutzung von öffentlichen Verkehrsmitteln infolge ihrer Behinderung regelmäßig auf Hilfe angewiesen sind (§ 146 Abs. 2 Satz 1 SGB IX). Zu berücksichtigen ist hierbei, dass Menschen behindert sind, wenn ihre körperliche Funktion, geistige Fähigkeit oder seelische Gesundheit mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate von dem für das Lebensalter typischen Zustand abweichen und daher ihre Teilhabe am Leben in der Gesellschaft beeinträchtigt ist (§ 2 Abs. 1 Satz 1 SGB IX). Nach dem Willen des Gesetzgebers führen alterstypische Beeinträchtigungen somit nicht zu einem Nachteilsausgleich im Sinne des Schwerbehindertenrechts.

Dies hat das Bundessozialgericht (BSG) bereits mit Urteil vom 12.02.1997 - 9 RVs 1/95 (SozR 3-3870 § 4 Nr. 18; BSGE 80, 97 ff.; Breithaupt 1997, 797 ff.) hinsichtlich des dort streitigen Nachteilsausgleichs "RF" bestätigt: Behinderungsbedingt und damit nach dem Schwerbehindertenrecht auszugleichen sind in der Regel nur solche Nachteile, die einen gleichaltrigen Nichtbehinderten typischerweise nicht treffen. Ob das der Fall ist, ist nach dem Zweck des Nachteilsausgleichs zu beurteilen. Bei einem behinderten Kleinkind können die gesundheitlichen Voraussetzungen für den Nachteilsausgleich "RF" grundsätzlich nicht vor Vollendung des zweiten Lebensjahres vorliegen.

In Fortführung dieser Rechtsprechung hat das Landessozialgericht für das Land Nordrhein-Westfalen mit Urteil vom 28.05.1998 - L 7 SB 140/97 (juris) zur Frage der Zuerkennung der Merkzeichen "G" und "B" bei einem dreijährigen an Diabetes mellitus erkrankten Kind ausgeführt: Zur Annahme einer erheblichen Einschränkung der Bewegungsfähigkeit genügt es nicht, dass der Behinderte jederzeit mit der Möglichkeit einer gravierenden Einschränkung der Bewegungsfähigkeit durch das Auftreten eines entsprechenden akuten Zustandes rechnen muss. Vielmehr ist die tatsächliche Feststellung einer dauerhaften Einschränkung und nicht nur die theoretische oder gegebenenfalls sogar wenig wahrscheinliche Möglichkeit ihres jederzeitigen Eintretens in Form eines Notfalles erforderlich. Deshalb muss bei einem Anfallsleiden aufgrund der hohen Anfallsfrequenz die abstrakte Gefahr zu einer konkreten geworden sein, deren Eintritt aufgrund objektiver Kriterien, z.B. wegen der Anfallshäufigkeit oder wegen früheren Auftretens zahlreicher Anfälle überwiegend im Freien, jederzeit gut möglich erscheinen. Bei einem behinderten Kleinkind ist bei der Beurteilung, ob die Voraussetzungen des Nachteilsausgleiches "G" vorliegen, als Vergleichsmaßstab nicht auf den Gesundheitszustand eines gleichaltrigen gesunden Kleinkindes abzustellen. Vielmehr ist entscheidend, ob die bei dem Kleinkind festgestellten Gesundheitsstörungen bei einem Erwachsenen die Zuerkennung des Nachteilsausgleichs "G" rechtfertigen würden, also die Gesundheitsstörungen die entsprechenden Funktionen eines erwachsenen Behinderten im erforderlichen Ausmaß beeinträchtigen würden. Für die Beurteilung, ob die Voraussetzungen des Nachteilsausgleichs "B" bei einem behinderten Kleinkind vorliegen, sind dieselben Kriterien wie bei einem Erwachsenen anzunehmen.

Auch hinsichtlich des hier streitigen Merkzeichens "B" sind gemäß § 69 Abs. 1 Satz 5 SGB IX in Verbindung mit § 30 Abs. 1 und 16 des Bundesversorgungsgesetzes (BVG) die "Versorgungsmedizinischen Grundsätze" (Anlage zu § 2 Versorgungsmedizin-Verordnung in der jeweiligen Fassung) zugrunde zu legen. Sie haben die vormals geltenden "Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertenrecht 1996 ff., 2008" mit Wirkung zum 01.01.2009 abgelöst.

Die "Versorgungsmedizinischen Grundsätze" entsprechen auch in Teil D Rz. 2 den gesetzlichen Vorgaben in §§ 146 Abs. 2, 2 Abs. 1 SGB IX und der hierzu ergangenen Rechtsprechung, wenn dort normiert ist: Für die unentgeltliche Beförderung einer Begleitperson ist nach dem SGB IX die Berechtigung für eine ständige Begleitung zu beurteilen. Auch bei Säuglingen und Kleinkindern ist die gutachtliche Beurteilung der Berechtigung für eine ständige Begleitung erforderlich. Für die Beurteilung sind dieselben Kriterien wie bei Erwachsenen mit gleichen Gesundheitsstörungen maßgebend. Es ist nicht zu prüfen, ob tatsächlich diesbezüglich behinderungsbedingte Nachteile vorliegen oder behinderungsbedingte Mehraufwendungen entstehen. Eine Berechtigung für eine ständige Begleitung ist bei schwerbehinderten Menschen (bei denen die Voraussetzungen für die Merkzeichen "G", "GL" oder "H" vorliegen) gegeben, die bei der Benutzung von öffentlichen Verkehrsmitteln infolge ihrer Behinderung regelmäßig auf fremde Hilfe angewiesen sind. Dementsprechend ist zu beachten, ob sie bei der Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel regelmäßig auf fremde Hilfe beim Ein- und Aussteigen oder während der Fahrt des Verkehrsmittels angewiesen sind oder ob Hilfen zum Ausgleich von Orientierungsstörungen (z.B. bei Sehbehinderung, geistiger Behinderung) erforderlich sind. Die Berechtigung für eine ständige Begleitung ist anzunehmen bei Querschnittsgelähmten, Ohnhändern, Blinden und Sehbehinderten, Hörbehinderten, geistig behinderten Menschen und Anfallskranken, bei denen die Annahme einer erheblichen Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr gerechtfertigt ist.

Hiervon ausgehend hat die Sachverständige Dr. D. mit internistischem Fachgutachten vom 28.04.2014 das vorgelegte Diabetestagebuch für den Zeitraum 12.10.2012 bis 28.11.2013 ausgewertet. Das Blutzuckertagebuch vom 12.10.2012 bis 28.11.2013 zeigt insgesamt 17 Unterzuckerungen mit Werten von weniger als 50 mg/dl und davon 4 Unterzuckerungen mit Werten von weniger als 40 mg/dl, die möglicherweise auch bei einem Erwachsenen fremde Hilfe bei Bewältigung der Hypoglykämien erfordern könnten. Die Sachverständige Dr. D. weist darauf hin, dass die kindliche Klägerin an einem Diabetes mellitus mit schwankender, jedoch weitgehend stabiler Stoffwechsellage mit häufigen leichteren Hypoglykämien leidet, jedoch seltenen schwerwiegenden Hypoglykämien, die bei einem Erwachsenen mit entsprechender Stoffwechsellage fremde Hilfe erfordern würden. Die kindliche Klägerin habe unter der kompetenten und umsichtigen Betreuung durch ihre Eltern mit engmaschigen Blutzuckerkontrollen bislang keine eigenständig nicht kontrollierbaren Unterzuckerungen, keine comatösen Zustände und keine Ohnmachtsanfälle erlitten.

In Beantwortung der medizinischen Fragen, die die Bevollmächtigten der Klägerin mit Schriftsatz vom 20.06.2014 gestellt haben, hat die Sachverständige Dr. D. mit Stellungnahme vom 01.07.2014 ergänzend ausgeführt, dem kinderärztlichen Befund des Dr. D. vom 22.03.2010 ist zu entnehmen, dass vier- bis sechsmal täglich Insulin gespritzt und regelmäßig Blutzucker gemessen wird. Ausdrücklich wird angegeben, dass eine körperliche Beeinträchtigung nicht vorliegt und die kindliche Klägerin an allen Aktivitäten des sozialen und täglichen Lebens teilnehmen kann. Dem pädiatrischen /diabetologischen Befund von Prof. Dr. K. vom 31.01.2012 ist zu entnehmen, dass leichte Hypoglykämien auftraten, die Insulindosierung optimal ist. Dem Blutzuckertagebuch ist zu entnehmen, dass seit 20.07.2013 bei täglich mehrfachen Blutzuckermessungen (bis zu zwölf Messungen) am Tag keine Unterzuckerungen von weniger als 50 mg/dl aufgetreten sind. Im Zeitraum von mehr als einem Jahr sind somit vier Hypoglykämien aufgetreten, zumeist in Zusammenhang mit besonderen Situationen, Untersuchungen. Dem Blutzuckertagebuch ist nicht zu entnehmen, ob bzw. wann Infekte oder Magen-Darm-Probleme komplizierend hinzugetreten sind. Ein erwachsener Diabetiker mit dieser Stoffwechsellage, bei dem möglicherweise viermal fremde Hilfe bei Hypoglykämien erforderlich gewesen sein könnte, in einem Zeitraum von zwölf Monaten, zuletzt am 07.07.2013, also zuletzt vor acht Monaten, ist durchaus in der Lage, sich im öffentlichen Straßenverkehr und bei Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel, sowohl beim Ein- und Aussteigen, als auch während der Fahrt sicher zu verhalten. Eine Vergleichbarkeit mit epileptischen Anfällen mittlerer Häufigkeit ist nicht gegeben. Darüber hinaus ist anzumerken, dass ein erwachsener Diabetiker mit der Stoffwechsellage, wie sie bei der kindlichen Klägerin vorliegt, bei entsprechender Vorbereitung auch einen PKW fahren dürfe.

Dementsprechend ist die kindliche Klägerin bei der Benutzung von öffentlichen Verkehrsmitteln infolge ihrer Behinderung nicht regelmäßig auf Hilfe im Sinne von § 146 Abs. 2 Satz 1 SGB IX angewiesen. Das Merkzeichen "B" steht ihr nicht zu.

Soweit die Bevollmächtigten der Klägerin hierin eine unzulässige Diskriminierung wegen ihres jugendlichen Alters sehen, ist dies nicht durchgreifend. Es ist nicht zu beanstanden, dass der Gesetzgeber in § 2 Abs. 1 Satz 1 SGB IX normiert hat, dass Menschen behindert sind, wenn ihre körperliche Funktion, geistige Fähigkeit oder seelische Gesundheit mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate von dem für das Lebensalter typischen Zustand abweichen und daher ihre Teilhabe am Leben in der Gesellschaft beeinträchtigt ist. Denn Säuglinge und Kleinkinder sind in natürlich verstandenem Wortsinne grundsätzlich hilflos, ohne dass ihnen jedoch das Merkzeichen "H" im Sinne von § 33b Einkommensteuergesetz (EStG) zusteht. Im Falle der kindlichen Klägerin resultiert die Zuerkennung des Merkzeichens "H" aus der Erkrankung Diabetes mellitus, die im Alter bis zu 16 Jahren dem generellen, latent vorhandenen Hilfebedarf der Klägerin Rechnung trägt. Insoweit gehen die "Versorgungsmedizinischen Grundsätze" in Teil A Rz. 5 von einer generalisierenden Betrachtungsweise aus. Hinsichtlich weiterer Merkzeichen (hier des streitigen Merkzeichens "B") kommt es jedoch auf einen konkreten, regelmäßigen Hilfebedarf bei der Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel an, welcher nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme nicht vorliegt.

Insoweit geht der erstinstanzlich gehörte Sachverständige Dr. M. mit fachinternistischem Gutachten vom 29.04.2013 und ergänzender Stellungnahme vom 25.06.2013 nicht von den rechtlich normierten Vorgaben aus, sondern von medizinisch Wünschenswertem.

Im Übrigen ist anzumerken, dass auch in anderen Rechtsgebieten wie z.B. dem Pflegeversicherungsrecht (§ 15 Abs. 2 SGB XI) das Problem bekannt ist, das Kinder einen "natürlichen" Hilfebedarf haben. Wenn der Gesetzgeber im Rahmen des Schwerbehindertenrechts hierfür keine gesonderten Nachteilsausgleiche vorsieht (vgl. § 2 Abs. 1 Satz 1 SGB IX), stellt dies keinen Verstoß gegen höherrangiges Recht dar. Insbesondere ist das in Art. 20 Abs. 1 Grundgesetz (GG) normierte Sozialstaatsprinzip nicht verletzt. Entsprechendes gilt für die UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen (BGBl. 2008, 2. Teil, S. 1499 ff.).

Weiterhin setzt die Zuerkennung des Merkzeichens "B" regelmäßig das Vorliegen einer erheblichen Gehbehinderung (= Merkzeichen "G" im Sinne von §146 Abs. 1 SGB IX) voraus (vgl. BSG, Urteil vom 11.11.1987 - 9a RVs 6/86 in Thannheiser/Wende/ Zech, Handbuch des Bundesversorgungsrechts, BSG-Rspr. § 59 SchwbG/§ 145 SGB IX Seite 1; BSG, Urteil vom 12.11.1996 - 9 RVs 5/95 zur Entziehung der Merkzeichen "B" und "G" wegen Änderung der Verhältnisse in SozR 3-1300 § 48 Nr. 57; BSGE 79, 223 ff.; Breithaupt 1997, 457 ff.). Insoweit hat die gerichtlich bestellte Sachverständige Dr. D. mit internistischem Fachgutachten vom 28.04.2014 auch ausgeführt, dass die kindliche Klägerin nicht erheblich gehbehindert im Sinne von § 146 Abs. 1 SGB IX ist.

Nach alledem ist der Gerichtsbescheid des Sozialgerichts München vom 01.10.2013 aufzuheben und die Klage gegen den Bescheid vom 10.10.2012 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 15.01.2013 abzuweisen.

Die Entscheidung über die Kosten beruht auf §§ 183, 193 SGG.

Gründe für die Zulassung der Revision liegen nicht vor (§ 160 Abs. 2 Nrn. 1 und 2 SGG).



Versorungsmedizinische Grundsätze
in der Fassung der 5. Verordnung zur Änderung der Versorgungsmedizin-Verordnung