Bedenken gegen die Zulässigkeit eines Neufeststellungsantrages während eines GdB-Herabsetzungsverfahrens bestehen nicht. Er kann sogar während des Herabsetzungsverfahrens im Einzelfall auch sinnvoll sein. Denn zum einen hält er die Möglichkeit offen, den GdB über die ursprüngliche Feststellung hinaus geltend zu machen. Er vermeidet andererseits auch die im Rahmen der reinen Anfechtungsklage nach § 54 Abs 1 S 1 Alt 1 SGG notwendige, aber in der Praxis mitunter missliche Einengung der Prüfung der gesundheitlichen Verhältnisse auf einen Zeitraum zwischen Geltung der Herabsenkung des GdB und Erlass des Widerspruchsbescheides. Denn durch die Verknüpfung der reinen Anfechtungs- mit der kombinierten Anfechtungs- und Verpflichtungsklage erreicht der Betroffene, dass auch die gesundheitlichen Verhältnisse bis zur letzten mündlichen Verhandlung in der Tatsacheninstanz in den Blick zu nehmen sind.


Landessozialgericht Berlin-Brandenburg 11. Senat
20.08.2020
L 11 SB 226/18
Juris



Leitsatz

1. Bedenken gegen die Zulässigkeit eines Neufeststellungsantrages während eines GdB-Herabsetzungsverfahrens bestehen nicht. Er kann sogar während des Herabsetzungsverfahrens im Einzelfall auch sinnvoll sein. Denn zum einen hält er die Möglichkeit offen, den GdB über die ursprüngliche Feststellung hinaus geltend zu machen. Er vermeidet andererseits auch die im Rahmen der reinen Anfechtungsklage nach § 54 Abs 1 S 1 Alt 1 SGG notwendige, aber in der Praxis mitunter missliche Einengung der Prüfung der gesundheitlichen Verhältnisse auf einen Zeitraum zwischen Geltung der Herabsenkung des GdB und Erlass des Widerspruchsbescheides. Denn durch die Verknüpfung der reinen Anfechtungs- mit der kombinierten Anfechtungs- und Verpflichtungsklage erreicht der Betroffene, dass auch die gesundheitlichen Verhältnisse bis zur letzten mündlichen Verhandlung in der Tatsacheninstanz in den Blick zu nehmen sind.

2. Es ist sogar möglich, während des Herabsetzungsverfahrens einen Antrag auf Feststellung eines GdB zu stellen, der bereits festgestellt war. Allerdings stehen reine Anfechtungs- und kombinierte Anfechtungs- und Verpflichtungsklage in diesem Fall in einem Verhältnis eines Haupt- und Hilfsantrages. Denn während der Betroffene sein hauptsächliches Begehren, den Erhalt des GdB ab dem Zeitpunkt der Herabsetzung, bereits mit der reinen Anfechtungsklage zu erreichen vermag, kann die kombinierte Anfechtungs- und Verpflichtungsklage erst für die Zeit helfen, die von der reinen Anfechtungsklage nicht mehr gedeckt ist, also für die Zeit nach Erlass des Widerspruchsbescheides.

3. Zur Frage, ob ein Anerkenntnisurteil bei der reinen Anfechtungsklage überhaupt möglich ist (hier offengelassen).

4. Maßgeblich für die Beurteilung der Rechtmäßigkeit eines GdB-Herabsetzungsbescheides ist regelmäßig der Zeitraum zwischen Bekanntgabe des Bescheides und des Widerspruchsbescheides.


Tatbestand

Die Klägerin begehrt die Feststellung eines Grades der Behinderung (GdB) von 50.

Bei der 1951 geborenen Klägerin wurde 2008 eine Brustkrebserkrankung rechts festgestellt. Der Tumor wurde im Oktober 2008 entfernt. Anschließend wurde die Klägerin mittels einer antihormonellen Therapie behandelt und bestrahlt. Mit Bescheid vom 3. Februar 2009 stellte der Beklagte zugunsten der Klägerin den GdB mit 60 fest, wobei er die Brustkrebserkrankung mit einem Einzel-GdB von 50 sowie Anpassungsstörungen und psychosomatische Störungen mit einem Einzel-GdB von 20 bewertete bei einem weiteren Einzel-GdB von 10.

Am 24. Mai 2013 ging bei dem Beklagten ein Neufeststellungsantrag der Klägerin ein. Der Beklagte ermittelte medizinisch und hörte die Klägerin mit Schreiben vom 30. Oktober 2013 über seine Absicht an, den GdB auf 20 abzusenken. Die Klägerin widersprach dem und forderte mit ihrem Schreiben vom 8. November 2013 neben Merkzeichen auch die „Aufstockung des GdB“.

Mit Bescheid vom 5. Dezember 2013, zur Post gegeben am Folgetag, stellte der Beklagte unter entsprechender Aufhebung des Bescheides vom 3. Februar 2009 den GdB nur noch mit 20 fest wegen Anpassungsstörungen, psychosomatischer Störungen (Einzel-GdB 20), eines Teilverlustes der Brust (Einzel-GdB 10) und wegen degenerativer Veränderungen der Wirbelsäule (Einzel-GdB 10). In dem Bescheid führte der Beklagte auch aus, dass mit dieser Bescheiderteilung der Antrag vom 24. Mai 2013 erledigt sei. Dem hiergegen eingelegten Widerspruch half der Beklagte insoweit ab, als er den GdB mit Widerspruchsbescheid vom 23. April 2014 nunmehr mit 30 bewertete wegen folgender Funktionsbeeinträchtigungen und Einzel-GdB:

- Depression, Anpassungsstörungen, außergewöhnliche Schmerzreaktion, psychosomatische Störungen, Durchblutungsstörungen des Gehirns (30),

- degenerative Veränderungen der Wirbelsäule, Funktionsbehinderung der Wirbelsäule mit Nerven- und Muskelreizerscheinungen (20),

- Teilverlust der Brust (10),

- Bluthochdruck (10),

- Migräne (10),

- Funktionsbehinderung des Schultergelenkes, Funktionsbehinderung des Ellenbogengelenks (10),

- Funktionsbehinderung des Hüftgelenkes, Funktionsbehinderung des Kniegelenkes, Funktionsstörung durch Fußfehlform (10).

Im Übrigen wies der Beklagte den Widerspruch der Klägerin zurück.

Hiergegen hat die Klägerin am 30. April 2014 Klage erhoben mit dem Begehren, sie als schwerbehinderten Menschen anzuerkennen. Sie hat ihre Klage insbesondere damit begründet, dass ihr psychisches Leiden unzureichend bewertet sei. Dabei sei zu beachten, dass sie im August 2012 einen Schlaganfall erlitten habe, woraus weitere Funktionsbeeinträchtigungen resultierten. Der Bluthochdruck und die Funktionsbehinderungen der unteren Extremitäten seien jeweils mit Einzel-GdB von 20 zu bewerten. Im Übrigen könne den Feststellungen des Beklagten gefolgt werden.

Das Sozialgericht hat Befundberichte eingeholt bei dem Orthopäden Dr. T, der Augenärztin Dr. J, der Frauenärztin E, dem Psychotherapeuten Dr. S, die Strahlenmedizinerin Dr. K und der Allgemeinmedizinerin G.

Das Sozialgericht hat bei dem Facharzt für Allgemeinmedizin und Facharzt für Physikalische und Rehabilitative Medizin Dr. S ein sozialmedizinisches Gutachten vom 16. Juli 2015 eingeholt, das dieser nach ambulanter Untersuchung der Klägerin am 7. Juli 2015 erstellt hat und in dem er zu der Einschätzung gelangt ist, der GdB sei mit 30 zu bewerten aufgrund folgender Funktionsbeeinträchtigungen und Einzel-GdB:

- Reaktive depressive Störung, psychosomatische Störungen, Hinweise auf Polyinsertionstendinose, Fibromyalgiesyndrom (30),

- Wirbelsäulenfunktionsstörungen bei Verschleiß (20),

- Brustdrüsenteilverlust rechts nach Ablauf der Heilungsbewährung, Operationsdatum Oktober 2008 (10),

- Bluthochdruck (10),

- Kopfschmerz/Migräne (10),

- Schulter-, Ellenbogen- und Handgelenkbeschwerden (10),

- Sehnenentzündung des großen Rollhügels (Trochantertendinose), Kniegelenkbeschwerden, Fußfehlform (10),

- abgelaufener Schlaganfall 2012 (10).

Hinsichtlich des psychischen Leidens hat der Sachverständige zum aktuellen Befund ausgeführt, dass die Stimmungslage als stark depressiv zu beschreiben sei. Der Affekt wirke deutlich reduziert. Die Schwingungsfähigkeit sei deutlich reduziert. Es seien erhebliche konkrete Ängste angegeben worden. Bei der Begutachtung seien bezüglich einer ängstlichen Reaktion leichte konkrete Alterationen festgestellt worden. Auf die Frage, ob körperlich aggressive Verhaltensreaktionen vorlägen, werde ein gelegentliches Hinwerfen von Gegenständen beschrieben. Bei der Begutachtung habe sich keine Aggressivität gezeigt. Auf die Frage, ob vermehrte verbal überschießende Reaktionen (Reizbarkeit) vorliegen würden, seien erhebliche verbale Reaktionen mit Schreien angegeben worden. Bei der Begutachtung habe sich keine Reizbarkeit gezeigt. Der Antrieb habe leicht reduziert gewirkt. Die Spontanmimik sei leicht reduziert. Die Spontanmotorik sei deutlich reduziert. Das Aktivitätsniveau erscheine leicht reduziert. Die Konzentrationsfähigkeit werde auf Befragung als leicht reduziert angegeben. Die Konzentrationsfähigkeit sei bei der Begutachtung als normal zu beschreiben. Entsprechendes gelte für das Kurzzeitgedächtnis. Das Langzeitgedächtnis werde als normal angegeben und sei auch bei der Begutachtung als normal zu beschreiben. Orientierungsstörungen lägen nicht vor. Der Gedankenablauf erscheine bei der Begutachtung normal. Wesentliche und unwesentliche Faktoren seien korrekt getrennt worden. Eine Einengung der Gedanken- und Gesprächsabläufe sei nicht festzustellen. Bei der jetzigen Begutachtung hätten sich keine Hinweise auf eine Verdeutlichung gefunden. Aggravation und Simulation könnten weitgehend ausgeschlossen werden. Bei der jetzigen Begutachtung hätten sich bei der Klägerin keine auffälligen Verhaltensweisen oder Reaktionen gezeigt. Es hätten sich aber deutliche Hinweise auf eine Somatisierungsstörung gefunden. Darüber hinaus fänden sich bei der Klägerin Hinweise auf eine doch deutliche Polyinsertionstendinose/ein Fibromyalgiesyndrom im Sinne eines qualifizierten Schmerz-Syndroms mit im Vordergrund stehenden psychischen Faktoren. Das psychische Leiden sei mit einem Einzel-GdB von 30 zu bewerten, wobei es sich insoweit um einen „starken“ Wert handelte.

Zur Wirbelsäule hat der Sachverständige ausgeführt, dass die Beweglichkeit an den drei Wirbelsäulenabschnitten jeweils nicht eingeschränkt sei. Insgesamt sei der Einzel-GdB von 20 nur „sehr schwach“. Dies basiere darauf, dass sich bei der Klägerin keine relevanten funktionellen Einschränkungen hätten objektivieren lassen. Die von ihr angegebenen Beschwerden und Schmerzen seien eher durch psychische und psychosomatische Alteration ausgelöst.

Die Klägerin hat gegen das Gutachten Einwände mit Schriftsatz vom 14. Dezember 2015 erhoben. Insbesondere seien dessen Bewertungen aus psychiatrischer und internistischer Sicht nicht nachzuvollziehen. In diesem Zusammenhang sei das psychische Leiden mindestens mit einem Einzel-GdB von 40 zu bewerten. Die Migräne sei mindestens mit einem Einzel-GdB von 30 zu bewerten.

Das Sozialgericht hat bei dem Facharzt für Neurologie und Psychiatrie Dr. A ein psychiatrisches Gutachten vom 14. März 2017 eingeholt, das dieser nach ambulanter Untersuchung der Klägerin am 10. März 2017 erstellt hat und in dem er zu der Einschätzung gelangt ist, der GdB bei der Klägerin sei mit 30 zu bewerten, wobei sich dieser GdB aus dem psychischen Leiden Angst und depressive Störung – gemischt - ergebe. Insgesamt hat der Sachverständige ausgeführt, dass die psychiatrische Diagnose laut internationalen Diagnosekriterien ein Zustandsbild beschreibe, in dem gleichzeitig Angst und Depression aufträten, wobei keine der beiden Störungen ein Ausmaß, das eine entsprechende Einzeldiagnose rechtfertige, erreiche. Dabei müssten vegetative Symptome wie Tremor, Herzklopfen, Mundtrockenheit und Magenbeschwerden zumindest vorübergehend vorhanden sein. Die psychische Symptomatik führe bei der Klägerin zu einer Einschränkung der Erlebnis- und Gestaltungsfähigkeit und sei mit einem Einzel-GdB von 30 bereits erschöpfend bemessen. Zusätzlich seien bei der Klägerin degenerative Veränderungen der Wirbelsäule festzustellen, die mit einem Einzel-GdB von 20 zu bewerten seien. Zudem bestünden bei der Klägerin degenerative Veränderungen der Gelenke der oberen und unteren Extremität im Sinne einer Polyarthrose, die mit einem Einzel-GdB von 10 zu bewerten seien. Zusätzlich sei bei der Klägerin eine Kopfschmerzerkrankung festzustellen, wobei Anteile einer klassischen Migräne seit vielen Jahren bestünden, aktuell in geringgradiger Ausprägung, zusätzlich bestehe ein Spannungskopfschmerz variabler Ausprägung. Die Kopfschmerzerkrankung sei mit einem Einzel-GdB von 10 zu bemessen. Entsprechendes gelte für das Mammakarzinom nach Ablauf der Heilungsbewährung, einen Bluthochdruck, einen abgelaufenen Schlaganfall, eine Sehminderung und eine medikamentös gut regulierte Diabeteserkrankung.

Auch gegen das Gutachten von Dr. A hat die Klägerin Einwände erhoben, die dem Sachverständigen zur ergänzenden Stellungnahme zugeleitet worden sind. In dieser vom 14. August 2017 hat der Sachverständige Dr. A im Wesentlichen erklärt, an seinen Einschätzungen festzuhalten. Auch Dr. S hat in einer von dem Sozialgericht eingeholten ergänzenden Stellungnahme vom 21. Februar 2018 im Wesentlichen erklärt, an seinen Einschätzungen festzuhalten.

Das Sozialgericht hat noch ein psychiatrisches-neurologisches Gutachten bei dem Arzt für Psychiatrie und Psychotherapie und Arzt für Neurologie Dr. T vom 24. Mai 2018 eingeholt, das dieser nach ambulanter Untersuchung der Klägerin vom selben Tag erstellt hat und in dem er zu der Einschätzung gelangt ist, der GdB bei der Klägerin sei mit 30 festzustellen. Dabei hat er bezogen auf sein Fachgebiet eine seelische Störung mit Depressivität, situationsgebundener Angst sowie somatoforme Reaktionen mit einem Einzel-GdB von 30 bewertet. Insoweit hat der Sachverständige erklärt, dass die Klägerin in ihrem lebensgeschichtlichen Verlauf wiederkehrend an reaktiv-depressiven Belastungsverfassungen erkrankt gewesen sei. Langandauernde niederfrequente nervenärztliche Behandlung sei erfolgt. Es bestehe ebenfalls langandauernd Höhenangst. Die Brustkrebserkrankung 2008 habe zu einer erheblichen psychischen Reaktion depressiven Gepräges geführt. Es bestehe eine dauerhafte Rezidivangst. Daneben bestünden seelische Belastungen aufgrund familiärer Gegebenheiten, diesbezüglich sei vorrangig die Erkrankung ihres Ehemannes zu nennen. Der Tod ihres Vaters 2016 habe ebenfalls Anlass für eine Verstärkung der reaktiv-depressiven Verfassung gegeben. Neben den seelischen Beschwerden bestünden langandauernde körperliche Beschwerden, vorrangig in Form von Kopfschmerzen. Die diesbezüglichen Beschwerden würden von der Klägerin nachhaltig betont. Die Kopfschmerzausprägung sei äußerst komplex und nur in einem sehr geringen Umfang für einen Migränekopfschmerz typisch. Eine somato-psychische Verknüpfung sei zu erkennen. Die Klägerin habe 2012 in T einen Kollapszustand durchgemacht. Es sei eine Hirndurchblutungsstörung diagnostiziert worden. Die neurologische Untersuchung habe kein Defizit erkennen lassen, das auf einen durchgemachten Schlaganfall hindeute. Seitens des neurologischen Fachgebietes fänden sich keine Auffälligkeiten. Schließlich seien Trugwahrnehmungen zu beachten, die nach dem Tod des Vaters aufgetreten seien. Relevante psychiatrische Einbußen resultierten daraus nicht. Es handele sich nicht um einen psychosenahen Zustand. Die Klägerin beklage subjektiv erhebliche gesundheitliche Einbußen. Daneben sei zu beachten, dass in ihrer Lebensgestaltung keine relevanten und schweren Funktionseinbußen zu konstatieren seien. Es handele sich um stärker behindernde Störungen mit einer wesentlichen Einschränkung der Erlebnis- und Gestaltungsfähigkeit.

Auch gegen das Gutachten von Dr. T hat die Klägerin Einwände erhoben. Insbesondere hat sie ausgeführt, ihre Migräne sei mit einem Einzel-GdB von 20 zu bewerten. Zusammen mit den übrigen psychischen Leiden ergebe sich ein Einzel-GdB von 40. Insgesamt sei sie als schwerbehinderter Mensch anzuerkennen.

Das Sozialgericht hat bei Dr. T eine ergänzende Stellungnahme vom 28. August 2018 eingeholt, der im Wesentlichen erklärt hat, an seiner Einschätzung festzuhalten.

Nach Anhörung der Beteiligten hat das Sozialgericht die Klage durch Gerichtsbescheid vom 11. Oktober 2018 abgewiesen. Es hat sich dabei vor allen Dingen auf die Feststellungen und Bewertungen der Sachverständigen gestützt. Das psychische Leiden sei mit einem Einzel-GdB von 30 angemessen bewertet. Nach den Feststellungen aller drei Sachverständigen sei die Klägerin in den Jahren 2015, 2017 und 2018 nicht als schwer depressive Person erschienen. So habe sich die Klägerin dem Sachverständigen Dr. T im Rahmen der gutachterlichen Exploration gepflegt, mit lebhafter Mimik, durchsetzungsstark und mit nicht gebundenen Körperbewegungen präsentiert, wobei der Sachverständige zusätzlich bemerkt habe, dass das äußere Erscheinungsbild der Klägerin jünger als das Lebensalter gewirkt habe. Die Klägerin sei in der Lage, offen von lebensgeschichtlichen Daten und Sachverhalten zu berichten. Die emotionale Schwingungsfähigkeit werde als ordnungsgemäß, das Antriebsverhalten als gut beschrieben. Die Klägerin sei in der Begutachtungssituation wach, bewusstseinsklar und zu allen Qualitäten sicher orientiert gewesen. Der Gedankengang sei weder inhaltlich noch formal gestört gewesen, auch die gedankliche Flexibilität sei gut gewesen. Zwar sei die Klägerin durch die seelische Erkrankung ihres Ehemannes und zuletzt den Tod des Vaters im Jahr 2016 belastet, aber sie habe gleichwohl in beruflicher Hinsicht eine sehr hohe Kontinuität erreicht und sei altersbedingt mit 64 Jahren nach einer ihr gesamtes Berufsleben dauernden Beschäftigung bei der Firma S ausgeschieden. Ihre soziale Einbindung sei nach wie vor gut, wenngleich in den zurückliegenden Jahren etwas geringer geworden aufgrund der Rückkehr von Freundinnen in die T. Ihre Verbundenheit mit der Heimatumgebung sei hoch, jährliche Fernreisen würden in das Sommerhaus nach I unternommen. Es bestehe zudem ein ausgezeichnetes Einvernehmen mit den Kindern und ein enger Kontakt zu den Enkelkindern. Auch die Alltagsgestaltung, wie sie im Gutachten von Dr. A von der Klägerin berichtet werde, spreche gegen einen höheren GdB. Die Klägerin verfüge insbesondere über einen regulären, gut strukturierten Tagesablauf mit sozialen Kontakten wie etwa den eigenen Ehemann oder der Tochter und der Enkeltochter, mit denen sie regelmäßig Spaziergänge unternehme.

Das Wirbelsäulenleiden sei mit einem Einzel-GdB von 20 in jedem Fall ausreichend bewertet. Die übrigen Einzel-GdB seien allenfalls mit je 10 zu bewerten. Dies gelte insbesondere auch für die von der Klägerin beklagte Migräne. Die von ihr jeweils gegenüber den Sachverständigen angegebenen Anfallsfrequenzen und –dauern erlaubten keine höhere Bewertung. Dr. T habe in seiner ergänzenden Stellungnahme sogar ausdrücklich darauf hingewiesen, dass sich trotz eingehender Kopfschmerzbefragung nicht einmal sicher auf einen typischen Migränekopfschmerz habe schließen lassen.

Gegen den ihr am 12. Oktober 2018 zugestellten Gerichtsbescheid hat die Klägerin am 17. Oktober 2018 Berufung eingelegt. Sie macht eine Halbseitenproblematik als Schlaganfallfolge mit einem Einzel-GdB von mindestens 30 geltend. Die Migräne sei mit einem Einzel-GdB von 20 zu bewerten. Der Spannungskopfschmerz als Folge des Schlaganfalls mit psychischen Einflüssen sei einzeln und in einer Gesamtbetrachtung bei der Bemessung des Gesamt-GdB zu berücksichtigen.

Auf Antrag der Klägerin nach § 109 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) hat der Senat bei dem Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie/Neurologie Prof. Dr. P ein fachpsychiatrisches Gutachten vom 17. Mai 2019 eingeholt, das dieser nach ambulanter Untersuchung der Klägerin am 16. Mai 2019 erstellt hat und in dem er zu der Einschätzung gelangt ist, der GdB betrage seit dem Zeitpunkt des Verschlimmerungsantrages 50 wegen einer psychischen Störung (Einzel-GdB 40), eines Kopfschmerzes (Einzel-GdB 20) und einer Funktionsbehinderung der Wirbelsäule (Einzel-GdB 20) bei weiteren sich nicht auf den Gesamt-GdB auswirkenden Einzel-GdB von je 10 (Funktionsbehinderung der rechten oberen Extremität, Funktionsbehinderung der unteren Extremitäten, Bluthochdruck, Diabetes mellitus, Sehbehinderung, Fettstoffwechselstörung). Für die Bewertung der aus Depression, Angststörung und Schmerzstörung bestehenden psychischen Störung komme es neben der globalen Schweregradeinschätzung der Störung auf die aus der Symptomatik resultierende Einschränkung der Erlebnis- und Gestaltungsfähigkeit sowie auf die aus der Störung resultierenden sozialen Anpassungsschwierigkeiten an. Die Gesamtschweregrade der psychischen Störung seien bezogen auf die Angststörung als mittelgradig bis schwer und bezogen auf die Depression und die Schmerzstörung jeweils als leicht bis mittelgradig zu bewerten. Die Erlebnis- und Gestaltungsfähigkeit werde unzweifelhaft durch das agoraphobe Vermeidungsverhalten und die depressionsbedingte Anhedonie und Antriebsschwäche wesentlich beeinträchtigt. Die Frage, ob die Kriterien einer mittelgradigen sozialen Anpassungsschwierigkeit erfüllt seien, sei wie folgt zu beantworten: Der berufliche Bereich sei gegenwärtig nicht beurteilen war, da die Klägerin seit 2015 berentet sei. Bis zum Erreichen des Rentenalters sei sie jedoch noch berufstätig gewesen. Weder der jetzigen Exploration, noch der Aktenlage sei zu entnehmen, dass die Klägerin beschwerdebedingt in ihrer Berufstätigkeit beeinträchtigt oder diesbezüglich gefährdet gewesen sei. Dieser Teilaspekt der sozialen Anpassungsschwierigkeiten sei demnach nicht erfüllt. Hinsichtlich des familiären und sozialen Bereiches bestehe kein Hinweis darauf, dass die innerfamiliären Beziehungen beschwerdebedingt beeinträchtigt seien. Das umfängliche soziale Rückzugsverhalten erfülle allerdings in diesem Teilaspekt die Kriterien einer mittelgradigen sozialen Anpassungsschwierigkeit. Insgesamt folge hieraus ein Einzel-GdB von 40. Die Diskrepanz zu den Einschätzungen der Vorgutachter erkläre sich aus der bislang nicht vollständigen diagnostischen Erfassung der komplexen Angststörung und ihrer fehlenden Quantifizierung. Auch die soziale Anpassungsfähigkeit sei bislang nicht differenziert beurteilt worden.

Die Migräne sei mit einem Einzel-GdB von 20 zu bewerten. Diese sei anhand der versorgungsmedizinischen Grundsätze als mittelgradig einzustufen, woraus sich ein GdB-Rahmen von 20 bis 40 ergebe. Angesichts des Umstandes, dass kein Kopfschmerztagebuch vorliege und frühere Angaben zur Migränehäufigkeit widersprüchlich gewesen seien, sei die Untergrenze zu wählen und die Migräne mit einem Einzel-GdB von 20 zu bewerten. Der zusätzlich bestehende, leicht ausgeprägte episodische Spannungskopfschmerz rechtfertige keinen Einzel-GdB von mehr als 10. Dies führe zu keiner weiteren Erhöhung des GdB für den Kopfschmerz.

Mit Schriftsatz vom 24. Juni 2019 hat der Beklagte ein Teilanerkenntnis dahingehend erklärt, dass der GdB ab Antragstellung mit 40 zu bewerten sei. Er ist dabei ausweislich der beigefügten versorgungsärztlichen Stellungnahme der Einschätzung des Sachverständigen Prof. Dr. P hinsichtlich der Bewertung des psychischen Leidens mit einem Einzel-GdB von 40 und der Migräne mit einem Einzel-GdB von 20 gefolgt. Ausweislich der versorgungsärztlichen Stellungnahme sei ein Gesamt-GdB von 50 aber nicht festzustellen. Denn bei den drei wesentlichen Gesundheitsstörungen spiele die Schmerzsymptomatik eine wesentliche Rolle, so dass zwischen den drei Leidenskomplexen eine Überlappung bestehe.

Die Klägerin hat das Teilanerkenntnis des Beklagten nicht angenommen.

Nach Anhörung der Beteiligten hat der Senat durch Beschluss vom 22. August 2019 den Rechtsstreit dem Berichterstatter gemäß § 153 Abs. 5 SGG übertragen.

Die Klägerin beantragt schriftlich,

den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Berlin vom 11. Oktober 2018 aufzuheben und den Beklagten unter Änderung des Bescheides vom 5. Dezember 2013 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 23. April 2014 zu verurteilen, zu ihren Gunsten den Grad der Behinderung mit 50 festzustellen.

Der Beklagte beantragt schriftlich und sinngemäß,

die Berufung über das abgegebene Teilanerkenntnis hinaus zurückzuweisen.

Er ist der Auffassung, dass der Gesamt-GdB nur mit 40 zu bewerten sei.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts wird auf den Inhalt der Gerichtsakte sowie die die Klägerin betreffenden Verwaltungsvorgänge des Beklagten Bezug genommen.


Entscheidungsgründe

Die Berufung, über die der Senat im Einverständnis der Beteiligten gemäß § 153 Abs. 1 i. V. m. § 124 Abs. 2 SGG durch Urteil ohne mündliche Verhandlung entscheidet, ist zulässig und begründet.

Der Senat hat allerdings davon abgesehen, hinsichtlich der Feststellung eines GdB von 40 ein Teilanerkenntnisurteil zu erlassen, obwohl sich der Beklagte mit seinem Schriftsatz vom 24. Juni 2019 zu einer entsprechenden Feststellung ab Antragstellung bereit erklärt hat. Ob hier aber ein Teilanerkenntnisurteil ergehen kann, erscheint problematisch. Denn einschlägig ist vorliegend in erster Linie die reine Anfechtungsklage im Sinne des § 54 Abs. 1 Satz 1 1. Alt. SGG.

Der streitige Bescheid enthält vorliegend zwei Verfügungssätze. Zum einen hat der Beklagte den Bescheid vom 3. Februar 2009 teilweise aufgehoben, als er den GdB von 60 auf 20 abgesenkt hat. Zum anderen hat er aber auch den Neufeststellungsantrag der Klägerin vom 24. Mai 2013 abgelehnt, was auch der Umstand erhellt, dass der Beklagte in seinem Bescheid vom 5. Dezember 2013 ausdrücklich ausgeführt hat, der Neufeststellungsantrag finde mit der Bescheiderteilung seine Erledigung.

Bedenken gegen die Zulässigkeit eines solchen Neufeststellungsantrages bestehen nicht. Er kann sogar während des Herabsetzungsverfahrens im Einzelfall auch sinnvoll sein. Denn zum einen hält er die Möglichkeit offen, den GdB über die ursprüngliche Feststellung hinaus – vorliegend also einen GdB von mehr als 60 - geltend zu machen. Er vermeidet andererseits auch die im Rahmen der reinen Anfechtungsklage nach § 54 Abs. 1 Satz 1 1. Alt. SGG notwendige, aber in der Praxis mitunter missliche Einengung der Prüfung der gesundheitlichen Verhältnisse auf einen Zeitraum zwischen Geltung der Herabsenkung des GdB und Erlass des Widerspruchsbescheides. Denn durch die Verknüpfung der reinen Anfechtungs- mit der kombinierten Anfechtungs- und Verpflichtungsklage erreicht der Betroffene, dass auch die gesundheitlichen Verhältnisse bis zur letzten mündlichen Verhandlung in der Tatsacheninstanz in den Blick zu nehmen sind. So verstanden ist es sogar möglich, einen Antrag auf Feststellung eines GdB zu stellen, der bereits festgestellt war, vorliegend also eines GdB von 60. Allerdings stehen reine Anfechtungs- und kombinierte Anfechtungs- und Verpflichtungsklage in diesem Fall in einem Verhältnis eines Haupt- und Hilfsantrages. Denn während der Betroffene sein hauptsächliches Begehren, den Erhalt des GdB ab dem Zeitpunkt der Herabsetzung, bereits mit der reinen Anfechtungsklage zu erreichen vermag, kann die kombinierte Anfechtungs- und Verpflichtungsklage erst für die Zeit helfen, die von der reinen Anfechtungsklage nicht mehr gedeckt ist, also für die Zeit nach Erlass des Widerspruchsbescheides.

Wenn nun der Beklagte vorliegend anerkannt hat, der GdB sei „ab Antragstellung“ mit 40 festzustellen, ist diese Erklärung im Lichte der vorstehenden Ausführungen auslegungsbedürftig. Denn der Neufeststellungsantrag datiert bereits auf den 24. Mai 2013. Wenn der Beklagte der Klägerin den GdB von 40 ab diesem Zeitpunkt zugestehen möchte, übersieht er, dass sie tatsächlich zu diesem Zeitpunkt noch einen GdB von 60 innehatte. Denn der Absenkungsbescheid datiert auf den 5. Dezember 2013. Bei Absendung am Folgetag und Auslegung dahingehend, dass er erst ab Bekanntgabe gelten soll (vgl. Urteil des Senats vom 13. August 2019 - L 11 SB 156/18 – juris), galt die Absenkung des GdB auf 20 erst ab dem 9. Dezember 2013 (vgl. § 37 Abs. 2 Satz 1 des Zehnten Buches Sozialgesetzbuch ). Bei dieser Sachlage ist das Teilanerkenntnis des Beklagten sachgerecht dahingehend auszulegen, dass der GdB von 40 ab dem 9. Dezember 2013 gelten soll.

Ein Teilanerkenntnisurteil nach § 202 SGG in Verbindung mit § 307 Satz 1 der Zivilprozessordnung (ZPO) hat der Senat hier trotzdem nicht ausgesprochen. Es war hier nicht notwendig, weil der angefochtene Bescheid des Beklagten insoweit aufzuheben ist, als mit ihm ein GdB unter 50 festgestellt worden ist, was noch auszuführen ist. Der Senat geht somit ohnehin über das Teilanerkenntnis des Beklagten hinaus, so dass ein Teilanerkenntnisurteil hier jedenfalls nicht notwendig erscheint. Dahinstehen kann daher, ob ein Anerkenntnisurteil bei der reinen Anfechtungsklage überhaupt möglich ist. Im Verwaltungsprozess ist dies streitig. Während das Bundesverwaltungsgericht die Vorschrift des § 307 ZPO im Anfechtungsprozess für nicht entsprechend anwendbar hält (Urteil vom 26. Februar 1981 - 3 C 6/80 – juris), vertritt etwa das Verwaltungsgericht Freiburg die gegenteilige Auffassung (Urteil vom 1. Juli 2020 - 1 K 2730/19 – juris; so auch Landessozialgericht Berlin-Brandenburg, Urteil vom 18. September 2013 – L 10 AS 1195/13 – n. v.). Mit der Anfechtungsklage, so das Verwaltungsgericht Freiburg, werde ein Aufhebungsanspruch geltend gemacht, dem die Beklagten der Sache nach auch gemäß §§ 48, 49 des Landesverwaltungsverfahrensgesetzes nachkommen und den sie dementsprechend auch anerkennen könnten. Ob letztgenanntes Argument überzeugt, erscheint fraglich. Dagegen mag sprechen, dass ein Aufhebungsurteil im reinen Anfechtungsprozess ein Gestaltungsurteil ist, während das Anerkenntnisurteil auf ein entsprechendes Verhalten des Anerkennenden gerichtet ist. Das sei anhand des vorliegenden Falles erläutert: Soll der Tenor lauten, dass der Beklagte zur entsprechenden Aufhebung seines Aufhebungsbescheides verurteilt wird? Dann läge kein Gestaltungstenor vor, der Tenor des Teilanerkenntnisurteils würde sich von dem bei streitiger Entscheidung also unterscheiden. Oder soll der Tenor unmittelbar die Aufhebung des Aufhebungsbescheides aussprechen? Dann läge zwar ein Gestaltungstenor vor, der Beklagte würde aber – anders als beim „normalen“ Anerkenntnisurteil – zu keinem Verhalten verpflichtet.

Dies alles kann hier dahinstehen. Die als reine Anfechtungsklage zulässige Klage ist im Sinne des auf Erhalt eines GdB von 50 beschränkten Antrages begründet. Der Bescheid des Beklagten vom 5. Dezember 2013 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 23. April 2014 ist rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten, soweit der Beklagte mit ihm den GdB auf unter 50 abgesenkt hat.

Rechtsgrundlage für den angefochtenen Bescheid, gegen den formelle Bedenken nicht bestehen, ist hier § 48 Abs. 1 Satz 1 SGB X. Danach ist ein Verwaltungsakt mit Dauerwirkung im Wege einer gebundenen Entscheidung mit Wirkung für die Zukunft aufzuheben, soweit in den tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnissen, die bei seinem Erlass vorgelegen haben, eine wesentliche Änderung eintritt. Die Voraussetzungen des § 48 Abs. 1 Satz 1 SGB X liegen hier nicht insoweit vor, als der Beklagte den GdB zutreffend auf unter 50 abgesenkt hat. Maßgeblich für die Beurteilung der Rechtmäßigkeit des angefochtenen Bescheides ist – wie bereits skizziert - dabei der Zeitraum zwischen Bekanntgabe des Bescheides und des Widerspruchsbescheides (vgl. dazu eingehend Urteil des Senats vom 6. November 2014 - L 11 SB 178/10 – juris), hier nach Maßgabe des § 37 Abs. 2 Satz 1 SGB X zwischen dem 9. Dezember 2013 und dem 27. April 2014.

Nach § 69 Abs. 1 Satz 1 des Neunten Buches Sozialgesetzbuch (SGB IX) in der hier noch anzuwendenden Fassung (aF) stellen die für die Durchführung des Bundesversorgungsgesetzes (BVG) zuständigen Behörden das Vorliegen einer Behinderung und den Grad der Behinderung fest, wobei nach § 69 Abs. 1 Satz 6 SGB IX aF eine Feststellung nur zu treffen ist, wenn ein GdB von wenigstens 20 vorliegt. Im hier maßgeblichen Prüfungszeitraum wie auch bei der Beurteilung der Feststellung mit Bescheid vom 24. März 2010 ist auf die in der Anlage zu § 2 der Verordnung zur Durchführung des § 1 Abs. 1 und 3, des § 30 Abs. 1 und des § 35 Abs. 1 BVG - Versorgungsmedizin-Verordnung (VersMedV) - vom 10. Dezember 2008 (BGBl. I Seite 2412) festgelegten „versorgungsmedizinischen Grundsätze“ zurückzugreifen, die bis zum maßgeblichen Prüfungszeitraum durch die Verordnungen vom 1. März 2010 (BGBl. I Seite 249), 14. Juli 2010 (BGBl. I Seite 928), vom 17. Dezember 2010 (BGBl. I Seite 2124), vom 28. Oktober 2011 (BGBl. I Seite 2153), vom 11. Oktober 2012 (BGBl. I Seite 2122) Änderungen erfahren haben.

Einzel-GdB sind regelmäßig entsprechend den genannten Maßstäben als Grad der Behinderung in Zehnergraden entsprechend den Maßstäben des § 30 Abs. 1 BVG zu bestimmen. Für die Bildung des Gesamt-GdB bei Vorliegen mehrerer Funktionsbeeinträchtigungen sind nach § 69 Abs. 3 SGB IX aF die Auswirkungen der Beeinträchtigungen in ihrer Gesamtheit unter Berücksichtigung ihrer wechselseitigen Beziehungen zueinander zu ermitteln, wobei sich nach Teil A Nr. 3 a) der Anlage zu § 2 VersMedV die Anwendung jeglicher Rechenmethode verbietet. Vielmehr ist zu prüfen, ob und inwieweit die Auswirkungen der einzelnen Behinderungen voneinander unabhängig sind und ganz verschiedene Bereiche im Ablauf des täglichen Lebens betreffen oder ob und inwieweit sich die Auswirkungen der Behinderungen überschneiden oder gegenseitig verstärken. Dabei ist in der Regel von einer Funktionsbeeinträchtigung auszugehen, die den höchsten Einzel-GdB bedingt und dann im Hinblick auf alle weiteren Funktionsbeeinträchtigungen zu prüfen, ob und inwieweit hierdurch das Ausmaß der Behinderung größer wird, ob also wegen der weiteren Funktionsbeeinträchtigungen dem ersten Grad 10 oder 20 oder mehr Punkte hinzuzufügen sind, um der Behinderung insgesamt gerecht zu werden, wobei die einzelnen Werte jedoch nicht addiert werden dürfen. Leichte Gesundheitsstörungen, die nur einen GdB-Grad von 10 bedingen, führen grundsätzlich nicht zu einer Zunahme des Ausmaßes der Gesamtbeeinträchtigung; auch bei leichten Funktionsstörungen mit einem GdB-Grad von 20 ist es vielfach nicht gerechtfertigt, auf eine wesentliche Zunahme des Ausmaßes der Behinderung zu schließen (Teil A Nr. 3 d) aa) – ee) der Anlage zu § 2 VersMedV).

Der GdB bei der Klägerin war durch Bescheid 3. Februar 2009 zutreffend mit 60 bewertet worden bei Einzel-GdB von 50 für die Brustkrebserkrankung in Heilungsbewährung (Teil B Nr. 14.1 der Anlage zu § 2 VersMedV) und 20 für das seelische Leiden (Teil B Nr. 3.7 der Anlage zu § 2 VersMedV).

Eine Neubewertung des GdB war vorliegend aufgrund des Ablaufs der Heilungsbewährung grundsätzlich zulässig (vgl. Teil A Nr. 7b der Anlage zu § 2 VersMedV). Nach Teil B Nr. 1 c der Anlage zu § 2 VersMedV beträgt der Zeitraum des Abwartens einer Heilungsbewährung in der Regel fünf Jahre. Nach Teil B Nr. 14.1 der Anlage zu § 2 VersMedV ist nach Entfernung eines malignen Brustdrüsentumors - wie bei der Klägerin im Oktober 2008 geschehen - in den ersten fünf Jahren eine Heilungsbewährung abzuwarten. Maßgeblicher Bezugspunkt für den Beginn der Heilungsbewährung ist der Zeitpunkt, an dem die Geschwulst durch Operation oder andere Primärtherapie als beseitigt angesehen werden kann; eine zusätzliche adjuvante Therapie hat keinen Einfluss auf den Beginn der Heilungsbewährung. Mithin war der Zeitraum der Heilungsbewährung zum Zeitpunkt der Wirksamkeit der hier streitigen Aufhebungsentscheidung abgelaufen und war eine Neubewertung des GdB jedenfalls auch ab diesem Zeitpunkt grundsätzlich zulässig.

Im maßgeblichen Prüfungszeitraum vom 9. Dezember 2013 bis zum 27. April 2014 lag bei der Klägerin ein GdB von 50 vor. Der Senat kann sich dabei hinsichtlich der medizinischen Bewertung kurz fassen. Denn der Beklagte ist ausweislich der vorgelegten versorgungsärztlichen Stellungnahme vom 13. Juni 2019 der Einschätzung des Sachverständigen Prof. Dr. P hinsichtlich der Einzel-GdB letztlich gefolgt, soweit es die hier besonders maßgeblichen Einzel-GdB von 40 für das psychische Leiden, 20 für die Migräne und 20 für das Wirbelsäulenleiden betrifft. Dass den Einschätzungen der Sachverständigen Dr. S, Dr. A und Dr. T nicht zu folgen ist, soweit sie von einem Einzel-GdB von 30 für das seelische Leiden ausgehen (Dr. S hat allerdings einen „starken“ Wert von 30 angenommen), nimmt demnach nunmehr auch der Beklagte an und zwar zu Recht. Denn insbesondere Dr. A und Dr. T berücksichtigen nur unzureichend die doch erheblichen Angstzustände der Klägerin, die von Prof. Dr. P eingehend und überzeugend begründet als mittelgradig bis schwer eingeschätzt worden ist. Die Funktionsbeeinträchtigungen, die daraus resultieren, sind erheblich. Zu nennen sind Angstzustände bei Konfrontation mit Menschenmengen, in engen geschlossenen Räumen, aber auch zu Hause, und demgemäß die Vermeidung der Nutzung öffentlicher Verkehrsmittel und der Nichtbesuch etwa von Kinos, Gaststätten, Volksfesten etc. Zudem ist der Klägerin die Nutzung eines Fahrstuhles und der Einkauf in Supermärkten nur in Begleitung möglich. Zusammen mit den Funktionsbeeinträchtigungen, die aus einer Depression und einer Schmerzstörung folgen, ist ein Einzel-GdB von 40 hier angemessen. Auch dass daneben eine Migräne mit einem Einzel-GdB von 20 zu berücksichtigen ist, nimmt der Beklagte mittlerweile an. Dabei ist hier entsprechend den Ausführungen von Prof. Dr. P von einer Migräne mit mittelgradiger Verlaufsform auszugehen, die nach Teil B Nr. 2.3 der Anlage zu § 2 VersMedV mit einem Einzel-GdB nicht unter 20 zu bewerten ist. Daneben sind das Wirbelsäulenleiden nach Teil B Nr. 18.9 der Anlage zu § 2 VersMedV mit einem Einzel-GdB von 20 und diverse Einzel-GdB von 10 zu berücksichtigen.

In der Gesamtschau ist hier ausnahmsweise der höchste Einzel-GdB von 40 für das seelische Leiden durch den Einzel-GdB von 20 für die Migräne auf 50 zu erhöhen. Eine Überlappung in den Auswirkungen der Leiden sieht der Senat entgegen der versorgungsärztlichen Stellungnahme des Beklagten nicht. Dabei ist zu berücksichtigen, dass die von Prof. Dr. P im Rahmen des seelischen Leidens herangezogene Schmerzstörung die Schmerzen jenseits der Kopfschmerzen bewertet. Es handelt sich hier um multiple anhaltende Schmerzen im Bereich der rechten Thoraxwand, der Lendenregion, beider Hüften, des linken Knies und der Zehen. Die Auswirkungen der Migräne treten also zu den übrigen Schmerzen (und sonstigen Funktionsbeeinträchtigungen) noch hinzu. Deren Auswirkungen erachtet der Senat als erheblich und zwar ungeachtet dessen, ob die Migränefrequenz im Sommer mindestens ein Mal in der Woche mit einer Dauer von ein bis drei Tagen (Prof. Dr. P) oder mit drei bis vier Anfällen in der Woche bei einer Dauer zwischen vier und zwölf Stunden (Dr. T) beträgt.

Obsiegt die Klägerin demnach bereits mit der reinen Anfechtungsklage, muss der Senat auf den hilfsweise erhobenen Verpflichtungsantrag nicht eingehen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Die Revision war nicht zuzulassen, weil ein Grund hierfür gemäß § 160 Abs. 2 Nr. 1 und 2 SGG nicht vorliegt.



Versorgungsmedizinische Grundsätze
in der Fassung der 5. Verordnung zur Änderung der Versorgungsmedizin-Verordnung