Bemessung des Gesamt-Grades der Behinderung bei GdB 50 für psychische Erkrankung und Vorliegen von weiteren Beeinträchtigungen.

Landessozialgericht Hamburg 3. Senat
  19.05.2022
  L 3 SB 7/19
Juris


Tatbestand

Mit ihrer Berufung begehrt die Klägerin noch die Feststellung eines Grades der Behinderung (im Folgenden: GdB) von mindestens 70.

Auf Antrag der am xxxxx 1953 geborenen Klägerin vom 21. Februar 1977 nach dem Schwerbehindertengesetz stellte das Versorgungsamt H. nach Einholung einer gutachtlichen Stellungnahme mit Bescheid vom 22. Juni 1978 einen Grad der Minderung der Erwerbsfähigkeit von 30 v.H. für den Verlust des Endgliedes des dritten Fingers und den Verlust des Endgliedes und Mittelgliedes des vierten Fingers der linken Hand mit erheblicher Bewegungseinschränkung nach Explosionsverletzung fest.

Am 4. März 2015 beantragte die Klägerin die Neufeststellung ihres GdB. Hierzu gab sie an, dass sie während ihrer Kindheit Gewalterfahrungen gemacht habe und seit 2004 zu 100 % erwerbsunfähig sei. In einer von ihr beigefügten Anlage benannte sie als Gesundheitsstörungen u.a. Bluthochdruck, Erschöpfung, Antriebslosigkeit, Schlafstörungen, Alpträume, Konzentrationsstörungen, Schreib- und Leseblockaden, Schwierigkeiten bei Wortfindungen, fehlende Belastbarkeit, Schmerzen am ganzen Körper, Appetitlosigkeit, Verdauungsstörungen mit Durchfall und Harninkontinenz sowie einen Blähbauch.

Nach Einholung von Befund- und Behandlungsberichten der die Klägerin behandelnden Ärzte Dr. E. (Neurologie/Psychiatrie) und S. (Allgemeinmedizin) sowie Auswertung derselben durch den Arzt für Neurologie und Psychiatrie Prof. Dr. H1 stellte die vormalige Beklagte (_____) mit Neufeststellungsbescheid vom 24. Juni 2015 bei der Klägerin einen Gesamt-GdB von 40 fest. Hierbei berücksichtigte sie die Bewegungseinschränkung der linken Hand nach Explosionsverletzung weiterhin mit einem Teil-GdB von 30. Festgestellt wurde zudem eine psychische Störung mit einem Teil-GdB von 30.

Hiergegen legte die Klägerin am 23. Juli 2015 Widerspruch ein. Sie beanstandete, dass die Beklagte weder Unterlagen der Rentenkasse, der AOK H. noch ihren eigenen Bericht der traumatisierten Kindheit und Jugend berücksichtigt habe. Sie habe seit ihrem Säuglingsalter immer wieder extreme Gewalterfahrungen gemacht, Misshandlungen und Grausamkeiten erlitten und sei durch ihre eigene Mutter akut in Lebensgefahr gebracht worden (schwere sexuelle Übergriffe, Hunger, Ausgrenzung i der Familie). Sie sei in allen Bereichen verwahrlost. Ihr seit Jahren anhaltend sehr schlechter Gesundheitszustand sei mit einem GdB von 30 bei Weitem unterbewertet.

Die vormalige Beklagte forderte im Anschluss einen weiteren Befund- und Behandlungsbericht von Dr. E. sowie das im Auftrag der Deutschen Rentenversicherung Bund erstattete Gutachten des Dr. B. vom 30. März 2010 an. Der Gutachter hatte die Klägerin zuvor im Jahr 2006 untersucht und in beiden Gutachten die Diagnosen einer emotional-instabilen Persönlichkeitsstörung sowie einer dissoziativen Störung gestellt. Er führte weiter aus, dass sich die psychopathologischen Auffälligkeiten im Vergleich zu denen im Jahr 2006 teilweise abgeschwächt hätten, im Grundsatz aber weiterhin nachweisbar seien und das abstruse Denken, Fühlen und Erleben der Klägerin weiterhin in erheblichem Maße prägten. Die Klägerin komme zwar auf einfachem Niveau mit der Regelung ihres Alltags zurecht, sei aber unter arbeitsmarkttypischen Bedingungen weiterhin nicht ausreichend konkurrenzfähig.

Nach Auswertung der Befunde durch den Dr. S1 (Neurologie und Psychiatrie, Stellungnahme vom 8.12.2015) und Dr. M. (Neurologie und Psychiatrie, Stellungnahme vom 20.1.2016) bewertete die Beklagte die psychische Störung der Klägerin mit einem Teil-GdB von 50 und erhöhte den Gesamt-GdB der Klägerin auf Grundlage der gutachtlichen Stellungnahmen mit Widerspruchsbescheid vom 1. Februar 2016 auf 60.

Am 3. März 2016 erhob die Klägerin Klage zum Sozialgericht Hamburg. Sie verfolgte ihr Begehren auf Feststellung eines höheren GdB sowie des Merkzeichens G weiter. Insbesondere aufgrund ihrer psychischen Erkrankungen liege ein GdB von mindestens 70 vor. Des Weiteren nannte die Klägerin in Form einer Auflistung eine Vielzahl von Gesundheitsstörungen, an denen sie leide.

Die vormalige Beklagte nahm Bezug auf die angefochtenen Bescheide und führte unter Bezugnahme auf eine neuerliche gutachtliche Stellungnahme von Prof. Dr. H1 vom 7.3.2017 (Bl. 54 f. der Gerichtsakte) nochmals aus, dass sich ihrer Auffassung nach ein höherer GdB als 60 nicht begründen lasse.

Das Sozialgericht holte Befund- und Behandlungsberichte der die Klägerin behandelnden Ärzt:innen ein (Bl. 32 ff. der Gerichtsakte) und zog die Gutachtenakte der Deutschen Rentenversicherung Nord bei. Nachdem die Klägerin an ihren jetzigen Wohnort verzogen ist, holte das Gericht des Weiteren ein Sachverständigengutachten des Facharztes für Neurologie, Psychiatrie und Psychotherapie Dr. D. vom 21. November 2017 (Bl. 99 ff. der Gerichtsakte) ein. Im Rahmen der Untersuchung durch den Sachverständigen gab die Klägerin zur ihrer Tagesgestaltung an, gerne informative Sendungen im Fernsehen anzusehen, Text zu schreiben, zu lesen, Handarbeiten durchzuführen, zu backen, zu kochen, ihre Blumen zu versorgen und zu malen. Der Sachverständige führte aus, dass die Klägerin trotz der erheblichen Umständlichkeit im Denken und dem detaillierten Ausschmücken und der dramatisierenden Darstellung von Lebensereignissen im Alltag eine ausreichende adäquate Entschluss- und Urteilsfähigkeit besitze. Dr. D. diagnostizierte bei der Klägerin eine emotional-instabile Persönlichkeitsstörung mit vorwiegend histrionischen und neurasthenischen Anteilen und einer posttraumatischen Belastungsstörung (im Folgenden: PTBS) sowie ausgeprägteren sozialen Anpassungsschwierigkeiten. Es bestehe dadurch eine verminderte psychische Belastbarkeit bei erhöhter Irritierbarkeit und reduzierter Frustrationstoleranz. Die Ergebnisse der durchgeführten Tests hätten eine erhebliche Labilität der Klägerin – einhergehend mit vielen Problemen und körperlichen Beschwerden – bei gleichzeitig bestehender erhöhter Erregbarkeit und Lebensunzufriedenheit ergeben. Andererseits lägen bei der Klägerin ein hoher Intelligenzgrad und eine etwas überdurchschnittliche Konzentrationsfähigkeit vor, sodass es der Klägerin durchaus möglich sein sollte, ihre Alltagsangelegenheiten zu überblicken und zu regeln. Trotz der Beschwerdesymptomatik bestehe jedoch noch eine soziale Alltagskompetenz, sodass die Bewertung von Prof. Dr. H1 geteilt werde, dass die psychische Störung mit einem Teil-GdB von 50, die Verletzungsfolgen der linken Hand mit einem Teil-GdB von 30 und der Gesamt-GdB mit 60 einzuschätzen sein. Ein höherer GdB als 60 sei nicht zu vertreten.

Das Sozialgericht wies die Klage mit Gerichtsbescheid vom 5. Februar 2019 ab. Soweit die Klägerin die Feststellung des gesundheitlichen Merkmals „G“ begehre, sei die Klage unzulässig, weil es an dem erforderlichen Vorverfahren fehle. Die Zulässigkeit der Klage ließe sich auch nicht im Wege einer Klageänderung herbeiführen. Bezüglich der Feststellung des GdB sei die Klage zwar zulässig, aber nicht begründet. Die Klägerin habe keinen Anspruch auf Feststellung eines höheren GdB als 60. Rechtsgrundlage des Begehrens sei § 48 Sozialgesetzbuch Zehntes Buch (SGB X) in Verbindung mit § 152 Abs. 1 Satz 1 Sozialgesetzbuch Neuntes Buch (SGB IX). Der Änderung des psychischen Zustandes der Klägerin habe die Beklagte mit dem Widerspruchsbescheid Rechnung getragen. Im Übrigen schließe sich die Kammer aber den Feststellungen des Sachverständigen Dr. D. sowie den versorgungsärztlichen Einschätzungen von Dr. M. und Prof. H1 an, dass ein höherer GdB als 50 für die psychische Erkrankung der Klägerin nicht in Betracht komme. Auch stationäre Therapien seien seit 1993 nicht mehr erforderlich gewesen. Insoweit erscheine die Bewertung der psychischen Störung als schwere Störung mit mittelgradigen sozialen Anpassungsstörungen im unteren Bereich der dafür in Ziffer 3.7 der Anlage zu § 2 Versorgungsmedizin-Verordnung vorgesehenen Spanne (50-70) angemessen und ausreichend. Schließlich sei auch die Bildung eines Gesamt-GdB von 60 nicht rechtsfehlerhaft.

Gegen den ihr am 11. Februar 2019 zugestellten Gerichtsbescheid hat die Klägerin am 11. März 2019 Berufung eingelegt. Das Begehren, die Voraussetzungen des Merkzeichens „G“ festzustellen, werde nicht weiterverfolgt. Sie habe aber Anspruch auf Feststellung eines höheren GdB als 60. Es müsse eine traumapsychologische Begutachtung erfolgen. Ihr Gesundheitszustand verschlechtere sich. Sie leide unter deutlichen Einschränkungen der Alltagsbelastbarkeit, die nicht altersadäquat seien. Der gesamte Bewegungsapparat sei stark eingeschränkt. Zudem leide sie unter einem chronifizierten „Schmerzsymptom“, u.a. aufgrund einer Spinalkanalstenose. Aufgrund der Schmerzen sei ein GdB von 30-40 gerechtfertigt. Des Weiteren liege eine mittelschwere Schlafapnoe vor. Zu beachten seien ferner Herz-/Kreislauferkrankungen. Der rechten Hand fehle die Kraft und Beweglichkeit sowie „Geschicklichkeit und Motorik“. Therapeutische Maßnahmen hätten nicht zur Besserung beigetragen. Es bestehe zudem ein Harninkontinenzleiden.

Die Klägerin beantragt,

den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Hamburg vom 5. Februar 2019 aufzuheben und den Beklagten unter Abänderung des Bescheides vom 24. Juni 2015 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 1. Februar 2016 zu verpflichten, bei ihr einen GdB von mindestens 70 festzustellen.

Der Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Sie bezieht sich auf den Inhalt des angefochtenen Gerichtsbescheides sowie die angefochtenen Bescheide der vormaligen Beklagten. Nach der im Berufungsverfahren eingeholten versorgungsärztlichen Stellungnahme des Dr. L. vom 15. Januar 2020 (Bl. 387 der Gerichtsakte) sei der Gesamt-GdB bei der Klägerin weiterhin mit 60 angemessen beurteilt. Eine zusätzlich aufgetretene Schlafregulationsstörung sei mit einem Teil-GdB von 10 angemessen bewertet. Eine Schilddrüsenfunktionsstörung nach operativer Behandlung bedinge keinen Einzel-GdB von wenigstens 10. Auch mit Blick auf eine notwendige Ergänzung der Leidensbezeichnung aufgrund eines Fingerverschleißes lasse sich hieraus kein höherer GdB ableiten. Ein zwischenzeitlich erfolgte Darmpolyentfernung und einer Divertikelbildung bedinge jeweils keinen Einzel-GdB von 10. Bei gegebenen Überschneidungen ergebe sich kein höherer Gesamt-GdB.

Das Gericht hat Befund- und Behandlungsberichte der die Klägerin behandelnden Ärzte eingeholt (Blatt 300 ff. der Gerichtsakte). Zudem hat es Beweis erhoben durch Einholung eines Sachverständigengutachtens des Dr. K.. In seinem Gutachten vom 23. September 2020 (Bl. 409 ff. der Gerichtsakte) benannte der Sachverständige auf internistischem Fachgebiet eine arterielle Hypertonie, mit Betablocker eingestellt und ohne Langzeitschäden. Bezogen auf den Magen-Darm-Trakt bestehe ein Zustand nach Entfernung eines kleinen Darmpolypen und Darmdivertikels. Gastroenterologische Einschränkungen seien nicht erkennbar. Es liege zudem ein Schlafapnoesyndrom vor, welches gemäß Messung leichten bis mittleren Grades ohne relevante Sauerstoffentsättigung sei. Eine nasale Überdruckbeatmung sei bei der Klägerin absolut möglich, werde von der Klägerin aber nicht gewünscht. Hier sei ein schwacher GdB von 20 zu beschreiben. Auf orthopädischem Gebiet bestehe eine gewisse lumbale Degeneration der unteren Wirbelsäule, bei der es sich um eine nur leicht altersüberschreitende Veränderung handele. Die funktionellen Auswirkungen seien gering und mit einem GdB von 10 zu bemessen. Nach einem Explosionstrauma in den 90er Jahren liege ein Verlust von einem Finger vor. In Abwesenheit weiterer Funktionseinschränkungen sei hierfür ein GdB von 10 anzusetzen. Es bestehe zudem eine Daumengelenkssattelarthrose und Handgelenksarthrose an der rechten Hand, allerdings ohne passive Bewegungseinschränkungen sowie ohne Versteifung. Hierfür sei ein GdB von 10 anzuerkennen. Auf neurologischen Fachgebiet seien zentralnervöse Ausfallerscheinungen nicht vorhanden. Der neurologische Untersuchungsbefund sei normal ohne wurzelbezogene sensible oder motorische Reiz- oder Ausfallerscheinungen. Es habe sich klinisch kein Anhalt für eine Polyneuropathie ergeben. Zudem ergebe sich kein Anhaltspunkt für ein Karpaltunnelsyndrom bei Kribbeln in der rechten Hand. Passend hierzu seien die Nervenleitgeschwindigkeit des N. medianus, N. tibialis und N. suralis normal, die Tibialis-SEP seien seitengleich normal. Das vordiagnostizierte Restless-Legs-Syndrom sei in leichterer Form und untypisch geschildert worden. Es sei mit einem GdB von 10 zu bewerten. Auf psychiatrischem Fachgebiet liege im Vordergrund stehend eine Persönlichkeitsstörung vor. Gemäß den Achse-A-Eingangskriterien und der Symptomatik liege keine PTBS vor. Es handele sich um eine seit langen Jahren bestehende Persönlichkeitsstörung mit emotional-instabilen und dissoziativen Anteilen. Psychodynamisch imponiere hier ein histrionisch dissoziativer Verarbeitungsmodus. Es liege eine stärker behindernde Störung mit wesentlicher Einschränkung der Erlebnis- und Gestaltungsfähigkeit und relevanter Entwicklung somatoformer Symptome (Ganzkörperschmerz und Reizdarm), darüber hinaus dissoziativen Erinnerungsveränderungen vor. Insgesamt resultierten daraus Einschränkungen, die mit einem GdB von 40 adäquat abgebildet seien. Da allerdings auch gewisse soziale Anpassungsschwierigkeiten berücksichtigt werden müssten, könne bei sehr weiter Auslegung ein GdB von 50 bejaht werden. Dies vor dem Hintergrund, dass auch depressive Episoden vorhanden gewesen seien, aktuell aber nicht mehr. Der Gesamt-GdB sei unter Berücksichtigung aller Störungen mit 60 adäquat abgebildet. Es sei darauf hinzuweisen, dass die einzelnen Behinderungen sehr relevant durch die psychische Störung moduliert seien und sich insbesondere die Schmerzen und der Reizdarm im Sinne der somatoformen Störung mit der Persönlichkeitsstörung überlappten. Eine Verstärkung der Störungen untereinander liege nicht vor. Weitere Gutachten seien nicht erforderlich.

Zum Gutachten hat die Klägerin u.a. ausgeführt, dass bei ihr eine mittelschwere Schlafapnoe vorliege, die mit einem Teil-GdB von 50 zu bemessen sei. Sie habe auch Schmerzen und Probleme beim Laufen. Der GdB von 10 hierfür sei zu niedrig angesetzt. Für das Restless-Legs-Syndrom sei ein GdB von 20 anzusetzen. Sie ist der Auffassung, dass eine PTBS vorliege. Depressive Episoden lägen auch gegenwärtig vor. Es könne nicht von einer Leichtigkeit des Störungsprofils ausgegangen werden.

In seiner ergänzenden Stellungnahme vom 19. Februar 2021 hat der Sachverständige ausgeführt, das bei der Klägerin gegebene Schlafapnoesyndrom sei leichtgradig ausgeprägt. Eine PTBS sei nicht zu kodieren, weil es zum einen an einem akuten schweren Lebensereignis fehle und zum anderen keine Symptome einer PTBS feststellbar seien. Es bestehe vielmehr eine längere subjektive Belastung durch das Gerichtsverfahren. Die Klägerin sei in der Lage, ihre Hände zielgerichtet einzusetzen.

Mit Beschluss vom 24. Juni 2019 hat der Senat die Berufung auf den Berichterstatter übertragen, der zusammen mit den ehrenamtlichen Richtern entscheidet.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakte sowie den Inhalt der beigezogenen Verwaltungsakte nachgewiesen, die sämtlich Gegenstand der mündlichen Verhandlung und Entscheidungsfindung gewesen sind.


Entscheidungsgründe

Die zulässige, insbesondere form- und fristgerecht (vgl. § 151 Abs. 1 Sozialgerichtsgesetz [SGG]) eingelegte Berufung ist unbegründet.

Das Sozialgericht hat die Klage auf Feststellung eines GdB von mindestens 70 zu Recht abgewiesen, denn der Bescheid der Beklagten vom 24. Juni 2015 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 1. Februar 2016 ist rechtmäßig und verletzt die Klägerin nicht in ihren Rechten. Die Voraussetzungen für das Vorliegen eines Gesamt-GdB höher als 60 konnten auch im Berufungsverfahren nicht festgestellt werden.

Rechtsgrundlage für die Feststellung eines höheren GdB ist § 48 SGB X in Verbindung mit § 152 Abs. 1 SGB IX in der zum 1. Januar 2018 in Kraft getretenen Neufassung durch das Gesetz zur Stärkung der Teilhabe und Selbstbestimmung von Menschen mit Behinderungen vom 23.12.2016 (Bundesteilhabegesetz – BTHG, BGBl. I 2016, 3234). Mangels spezieller Übergangsregelungen im BTHG, welche die Fortgeltung des vorherigen Rechts über den 31. Dezember 2017 hinaus anordnen, ist zur Bestimmung des anwendbaren Rechts auf die Grundsätze intertemporalen Rechts zu rekurrieren (vgl. BSG, Urt. v. 10.12.1991 – 1/3 RK 9/90, juris; BSG, Urt. v. 4.9.2013 – B 10 EG 6/12 R, SozR 4-7837 § 2 Nr. 24; Stölting/Greiser, SGb 2015, 135, 136). Ihnen zufolge richtet sich die Beurteilung eines Sachverhalts im Falle einer ablehnenden Entscheidung der Verwaltung, wenn ein/e Kläger/in einen zukunftsoffenen Anspruch gegenüber der Verwaltung geltend macht, nach dem Recht, welches zur Zeit der anspruchsbegründenden Ereignisse oder Umstände gegolten hat bzw. gilt. Daher ist in einem Fall wie dem hier vorliegenden – Geltendmachung eines höheren GdB für die Zukunft im Wege einer statthaften Anfechtungs- und Verpflichtungsklage – über den gesamten Sachverhalt bis zur letzten mündlichen Verhandlung zu entscheiden. Änderungen der Sach- und Rechtslage, die im Laufe des gerichtlichen Verfahrens eintreten, sind damit zu berücksichtigen (st. Rspr. des BSG, vgl. z.B. BSG, Urt. v. 12.4.2000 – B 9 SB 3/99 R, SozR 3-3870 § 3 Nr. 9; Groß in: Berchtold, SGG, 6. Aufl. 2021, § 54 Rn. 47; Stölting/Greiser, SGb 2015, 135, 136 und 139). Das Begehren der Klägerin auf Zuerkennung eines höheren GdB richtet sich daher nach den zum Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung geltenden Rechtsvorschriften, mithin u.a. den Vorschriften des SGB IX ab dem 1. Januar 2018. Randnummer26 Gemäß § 48 Abs. 1 Satz 1 SGB X ist, soweit in den tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnissen, die bei Erlass eines Verwaltungsaktes mit Dauerwirkung vorgelegen haben, eine wesentliche Änderung eintritt, der Verwaltungsakt mit Wirkung für die Zukunft aufzuheben. Von einer solchen Änderung wäre im hier zu beurteilenden Fall auszugehen, wenn sich der Gesundheitszustand der Klägerin für einen Zeitraum von mehr als sechs Monaten verschlechtert hätte oder ein solchermaßen dauerhafter Zustand anzuhalten drohte und daraus eine Erhöhung des Gesamt-GdB um wenigstens 10 folgen würde (vgl. BSG, Urt. v. 11.11.2004 – B 9 SB 1/03 R, juris; Anlage VersMedV Teil A Ziff. 7 lit. a)). Gemäß § 48 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 SGB X soll der Verwaltungsakt mit Wirkung vom Zeitpunkt der Änderung der Verhältnisse aufgehoben werden, soweit die Änderung zugunsten des Betroffenen erfolgt. In den gesundheitlichen Verhältnissen der Klägerin ist seit Erlass des Widerspruchsbescheides vom 1. Februar 2016 jedoch keine wesentliche Änderung in diesem Sinne eingetreten.

Nach § 152 Abs. 1 und Abs. 3 SGB IX in der seit dem 1. Januar 2018 gültigen Fassung stellen die für die Durchführung des Bundesversorgungsgesetzes (BVG) zuständigen Behörden – in Nordrhein-Westfalen ist dies der Beklagte – auf Antrag eines behinderten Menschen das Vorliegen einer Behinderung und den GdB in einem besonderen Verfahren fest (§ 152 Abs. 1 Satz 1 SGB IX). Als GdB werden dabei die Auswirkungen auf die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft nach Zehnergraden abgestuft festgestellt (§ 152 Abs. 1 Satz 5 SGB IX). Aus dem GdB ist nicht auf das Ausmaß der Leistungsfähigkeit eines Menschen zu schließen. Vielmehr ist der GdB grundsätzlich unabhängig von einem ausgeübten oder angestrebten Beruf zu beurteilen. Für die Bewertung des GdB gelten gemäß § 241 Abs. 5 SGB IX die Maßstäbe des § 30 Abs. 1 BVG und der auf Grundlage des § 30 Abs. 16 BVG erlassenen Rechtsverordnungen entsprechend, weil eine Verordnung nach § 152 Abs. 2 SGB IX bisher nicht erlassen worden ist. Damit ist die Verordnung zur Durchführung des § 1 Abs. 1 und 3, des § 30 Abs. 1 und des § 35 Abs. 1 BVG (Versorgungsmedizin-Verordnung – VersMedV) einschließlich der „Versorgungsmedizinischen Grundsätze“ (Anlage zu § 2 VersMedV) weiterhin entsprechend heranzuziehen.

Nach Maßgabe dieser Bestimmungen kann bei der Klägerin ein GdB von mehr als 60 nicht festgestellt werden. Vielmehr ist ein GdB von 60 angesichts der bei der Klägerin vorliegenden Gesundheitsstörungen als angemessen anzusehen.

Diese Feststellung trifft das Gericht nach eigener Prüfung der Sach- und Rechtslage auf Basis der Sachverständigengutachten von Dr. D., Dr. K., des von der Deutschen Rentenversicherung beigezogenen Gutachtens von Dr. B. sowie sämtlicher vorliegenden Befund- und Behandlungsunterlagen der die Klägerin behandelnden Ärzt:innen. Die Sachverständigen haben sich in ihren nach ambulanter Untersuchung der Klägerin erstatteten Gutachten ausführlich und sorgfältig mit sämtlichen vorhandenen Befund- und Behandlungsunterlagen der die Klägerin behandelnden Ärzt:innen auseinandergesetzt und diese gründlich ausgewertet. Sie sind aufgrund voneinander unabhängiger Untersuchung zu praktisch demselben Ergebnis gelangt. Auf psychiatrisch-neurologischem Fachgebiet imponieren eine emotional-instabile Persönlichkeitsstörung mit vorwiegend histrionischen und neurasthenischen Anteilen sowie ausgeprägte soziale Anpassungsschwierigkeiten. Für Neurosen, Persönlichkeitsstörungen und Folgen psychischer Traumen, die zu stärkeren Behinderungen führen, ist in Fällen wesentlicher Einschränkungen der Erlebnis- und Gestaltungsfähigkeit (z.B. ausgeprägte depressive, hypochondrische, asthenische, phobische oder somatoforme Störungen) ein Teil-GdB von 30-40 vorgesehen (Anlage VersMedV Teil B Ziff. 3.7). Im Falle schwerer Störungen mit mittelgradigen sozialen Anpassungsschwierigkeiten ist für den anzuerkennenden Teil-GdB eine Spanne von 50-70 vorgesehen. Die bei der Klägerin vorliegende Persönlichkeitsstörung geht mit einer wesentlichen Beeinträchtigung der Erlebnis- und Gestaltungsfähigkeit einher, wie die Sachverständigen Dr. K. und Dr. D. nach Untersuchung und Auswertung der vorliegenden Befundberichte überzeugend herausgearbeitet haben. Dr. K. hat einen Teil-GdB von 50 bei „großzügiger“ Einschätzung noch für angemessen erachtet, dies auch unter Berücksichtigung in der Vergangenheit vorliegender depressiver Episoden. Aus den vorliegenden Unterlagen ist zudem ersichtlich, dass die Klägerin soziale Anpassungsschwierigkeiten hat. Sie ist aber – auch nach ihren eigenen Schilderungen – durchaus noch in der Lage, einer ganzen Reihe von Alltagsbeschäftigungen nachzugehen, die nicht darauf schließen lassen, dass Störungen jenseits einer wesentlichen Einschränkung der Erlebnis- und Gestaltungsfähigkeit und/oder sogar schwere soziale Anpassungsschwierigkeiten vorliegen. Das bei der Klägerin verbliebene Funktionsniveau im privaten Bereich ist, worauf die Sachverständigen Dr. D. und Dr. K., denen sich das Gericht hinsichtlich ihrer Beurteilung nach eigener Prüfung der Sachlage anschließt, noch in ausreichendem Maße gegeben, um Alltagsangelegenheiten zu überblicken und zu regeln. Dies deckt sich mit der Einschätzung in den versorgungsärztlichen Stellungnahmen. Auch aus den Befund- und Behandlungsberichten der die Klägerin behandelnden Ärzt:innen ist keine Einschätzung ersichtlich, die hiervon signifikant abweicht. Angesichts dessen kann eine Einschätzung des Teil-GdB nur im mittleren Bereich der in der VersMedV vorgesehenen Spannbreite für die Bewertung psychischer Störungen erfolgen. Ein Teil-GdB für die psychische Störung von 50, wie im Rahmen des Widerspruchsverfahrens vom Beklagten anerkannt, ist angemessen, eine höhere Einstufung zum Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung nicht angezeigt.

Das von der Klägerin geklagte sog. „Restless-Legs-Syndrom“ bedingt keinen Einzel-GdB von wenigstens 10, denn es besteht allenfalls in leichter Form. Eine formale Abklärung dieses Leidens ist nicht erkennbar. Die Klägerin nimmt diesbezüglich keine Therapieangebote wahr. Es werden allein abends Relaxia-Tropfen eingenommen. Wesentliche Funktionsbeeinträchtigungen liegen nicht vor. Aus dem von ihr in der Gutachtensituation bei Dr. D. geschilderten Tagesablauf ist erkennbar, dass sie trotz teilweise beschriebener Beschwerden (Einschlafen der Füße und Beine und auch Schwellung des rechten Fußes) neben anderen Aktivitäten größere Strecken zu Fuß zurücklegt.

Auf orthopädischem Fachgebiet bestehen eine Bewegungseinschränkung der linken Hand nach Explosionsverletzung, ein Fingergelenkverschleiß und Beeinträchtigungen der Wirbelsäule.

Der Verlust des Fingers nach Explosionsverletzung mit einhergehender Bewegungseinschränkung ist bereits mit Bescheid vom 22. Juni 1978 mit einer Minderung der Erwerbsfähigkeit von 30 v.H., in den nachfolgenden Bescheiden mit einem Teil-GdB von 30 bewertet worden. In der VersMedV wird der Verlust eines Zeigefingers, Mittelfingers, Ringfingers oder Kleinfingers mit einem GdB von 10 bewertet (Anlage VersMedV Teil B Ziff. 18.13). In diesem Sinne ist auch die Bewertung des Sachverständigen Dr. K. zu verstehen. Da ein weiterer Finger der Klägerin von der Explosion betroffen war (Verlust einer Fingerkuppe), lässt sich bei großzügiger Betrachtung eine in der VersMedV für den Verlust von zwei Fingern vorgenommene Bewertung mit einem GdB von 30 aufrechterhalten.

Hinzutritt eine Daumengelenksattelarthrose sowie eine Handgelenkarthrose der rechten Hand. Ein GdB ist hierfür indes nicht abzuleiten, denn wesentliche Beeinträchtigungen folgen aus der Erkrankung nicht. Zum einen bestehen keine passiven Bewegungseinschränkungen der Hand bzw. der Gelenke, zum anderen liegen keine Versteifungen vor, wie der Sachverständige Dr. K. nach eigener Prüfung in seinem Gutachten ausgeführt hat. Auch in der versorgungsärztlichen Stellungnahme des Dr. L. vom 15. Januar 2020 wurde ebenfalls kein Einzel-GdB hierfür vergeben. Hiergegen spräche auch, dass die Klägerin ihre Hände durch aus zielgerichtet im Alltagsleben einsetzen kann. So hat die Klägerin etwa im Rahmen der Begutachtung durch Dr. D. und Dr. K. berichtet, dass sie gerne informative Sendungen im Fernsehen anschaue, Texte schreibe, lese, Handarbeiten durchführe, backe, koche, male und ihre Blumen versorge.

Zu diagnostizieren ist zudem eine lumbale Degeneration der unteren Wirbelsäule in leicht altersüberschreitender Form. Für Wirbelsäulenleiden dieser Art ist ein GdB von 10 vorgesehen (Anlage VersMedV Teil B Ziff. 18.9). Eine leichte Form ist im Falle der Klägerin zu bejahen, denn die funktionellen Auswirkungen sind als gering einzustufen. Das Gericht schließt sich insoweit den Ausführungen des Sachverständigen Dr. K. an. Sie stehen zudem in Einklang mit den übrigen ärztlichen Stellungnahmen.

Auf internistischem Fachgebiet bestehen ein Schlaf-Apnoe-Syndrom, eine Schilddrüsenfunktionsstörung, ein Bluthochdruckleiden sowie ein Zustand nach Darmpolyp- und divertikelentfernung.

Im Bereich der Atemwege und Lungen ist ein Schlaf-Apnoe-Syndrom zu diagnostizieren. Dieses ist von den behandelnden Ärzt:innen zuletzt als mit einer Beatmungsmaske behandelbar eingestuft worden. Dass eine solche Behandlung bislang unterblieben ist, beruht in erster Linie darauf, dass eine Behandlung mit einer Beatmungsmaske von der Klägerin nicht gewünscht wird. Dieser Umstand führt aber nicht dazu, dass eine nasale Überdruckbeatmung nicht durchführbar wäre. Nach den Versorgungsmedizinischen Grundsätzen rechtfertigt dies die Bewertung mit einem Teil-GdB von allenfalls 20 (Anlage VersMedV Teil B Ziff. 8.7). In der versorgungsärztlichen Stellungnahme des Dr. L. vom 15. Januar 2020 wird insoweit lediglich ein GdB von 10 angesetzt. Vor diesem Hintergrund erscheint die Annahme eines GdB von 20, wie vom Sachverständigen Dr. K. angenommen, als eine vorsichtige Einschätzung. Dieser vorsichtigen Auffassung des Sachverständigen schließt sich das Gericht nach eigener Prüfung der Sach- und Rechtslage an.

Die bei der Klägerin ebenfalls zu diagnostizierende Schilddrüsenfunktionsstörung findet keine Berücksichtigung. Schilddrüsenfunktionsstörungen sind gut behandelbar, so dass in der Regel anhaltende Beeinträchtigungen nicht zu erwarten sind (Anlage VersMedV Teil B Ziff. 15.6). So liegt es auch hier. Die Schilddrüsenfunktionsstörung der Klägerin ist operativ behandelt und bedingt für sich betrachtet keinen Einzel-GdB von wenigstens 10. Insoweit schließt sich das Gericht der Einstufung in der versorgungsärztlichen Stellungnahme des Dr. L. vom 15. Januar 2020 an.

Das diagnostizierte Bluthochdruckleiden (arterielle Hypertonie) findet ebenso wenig Berücksichtigung. Für Hypertonie in leichter Form ist ein GdB von 0-10 vorgesehen (Anlage VersMedV Teil B Ziff. 9.3). Bei der Klägerin liegt eine solche leichte Form vor. Das Bluthochdruckleiden ist mit einem Betablocker gut eingestellt. Langzeitschäden sind nicht dokumentiert. Eine relevante Funktionsbeeinträchtigung ist nicht ersichtlich. Insoweit schließt sich das Gericht den nachvollziehbaren Ausführungen des Sachverständigen Dr. K. an, die in Übereinstimmung mit den Befund- und Behandlungsberichten der die Klägerin behandelnden Ärzt:innen steht.

Soweit ein Zustand nach Darmpolyp- und Divertikelentfernung zu diagnostizieren ist, führt dies nicht zu einer Berücksichtigung dessen im Rahmen der Bewertung des GdB. Für chronische Darmbeschwerden ohne wesentliche Beschwerden und Auswirkungen ist ein Einzel-GdB von 0-10 vorgesehen (Anlage VersMedV Teil B Ziff. 10.2.2). Ein höherer GdB ist in Überstimmung mit den Ausführungen in der versorgungsärztlichen Stellungnahme des Dr. L. vom 15. Januar 2020 sowie des Sachverständigen Dr. K. nicht zu rechtfertigen, denn gastroenterologisch wurde keine organische Erklärung für Darminkontinenz gefunden bei koloskopisch normalem Analbereich. Urologisch wurde eine Begründung für eine Harninkontinenz nicht beschrieben. Organisch kann dieses Leiden nicht validiert werden. Eine relevante Inkontinenz ist den vorliegenden medizinischen Unterlagen nicht zu entnehmen. Bei Durchfall sind flüchtige Inkontinenzerscheinungen des Darms in funktioneller Form einem Reizdarm und damit eher dem Bereich psychischer Störungen zuzuordnen. Weitere behandlungsbedürftige Darmerkrankungen sind bei der Klägerin nicht erkennbar.

Ein höherer Gesamt-GdB als 60 ist angesichts des Vorstehenden nicht zu rechtfertigen. Bei der Ermittlung des Gesamt-GdB unter Berücksichtigung aller Funktionsbeeinträchtigungen dürfen die einzelnen Werte nicht addiert werden. Auch andere Rechenmethoden sind für die Bildung des Gesamt-GdB ungeeignet. Maßgebend sind vielmehr die Auswirklungen der einzelnen Funktionsbeeinträchtigungen in ihrer Gesamtheit unter Berücksichtigung ihrer wechselseitigen Beziehungen zueinander. Dabei ist regelmäßig von der Funktionsbeeinträchtigung auszugehen, welche den höchsten Teil-GdB bedingt, und dann mit Blick auf alle weiteren Funktionsbeeinträchtigungen zu prüfen, ob und ggf. inwieweit hierdurch das Ausmaß der Behinderung/en größer wird. Zu prüfen ist in diesem Rahmen insbesondere, ob wegen der bestehenden weiteren Funktionsbeeinträchtigungen dem ersten Teil-GdB 10 oder 20 oder sogar mehr Punkte hinzuzufügen sind, um der/den Behinderung/en insgesamt gerecht zu werden (Anlage VersMedV Teil A Ziff. 3 lit. c)). Um die Auswirkungen der Funktionsbeeinträchtigungen in ihrer Gesamtheit unter Berücksichtigung ihrer wechselseitigen Beziehungen zueinander beurteilen zu können, muss aus einer ärztlichen Gesamtschau heraus beachtet werden, dass die Beziehungen der Funktionsbeeinträchtigungen zueinander dergestalt sein können, dass sie sich z.B. überschneiden oder verstärken, aber auch unabhängig voneinander bestehen können (Anlage VersMedV Teil A Ziff. 3 lit. d) aa) bis dd)). Von Ausnahmefällen abgesehen, führen zusätzliche leichte Gesundheitsstörungen, die lediglich einen Teil-GdB von 10 bedingen, nicht zu einer Zunahme des Ausmaßes der Gesamtbeeinträchtigung. Dies ist selbst dann anzunehmen, wenn mehrere solcher leichten Gesundheitsbeeinträchtigungen nebeneinander bestehen. Auch bei leichten Funktionsbeeinträchtigungen mit einem Teil-GdB von 20 ist es vielfach nicht gerechtfertigt, auf eine wesentliche Zunahme des Ausmaßes der Behinderung im gesamten gesellschaftlichen Leben einer Person zu schließen (Anlage VersMedV Teil A Ziff. 3 lit. d) ee)).

Im hier zu beurteilenden Fall ist der höchste Teil-GdB von 50 für die psychische Störung zu vergeben. Darüber hinaus bestehen die oben bereits genannten und erörterten, gegenüber der psychischen Störung aber als leichter einzustufenden Gesundheitsbeeinträchtigungen, die – betrachtet nach den Funktionssystemen (vgl. Anlage VersMedV Teil A Ziff. 2 lit. e) – hinsichtlich der oberen und unteren Extremitäten mit einem Teil-GdB von 30, hinsichtlich aller übrigen Funktionssysteme nur mit jeweils 10 oder 20 zu bewerten sind. Der von sämtlichen Sachverständigen im gerichtlichen Verfahren angenommene und dem Gericht vorgeschlagene Gesamt-GdB von 60 ist angesichts der vorgenannten Maßstäbe als angemessen anzusehen. Hinsichtlich der geklagten Darmbeschwerden (Reizdarm), der psychischen (Schmerzverarbeitungs-)Störung und der Wirbelsäulenleiden kommt es zu Überschneidungen, die einer vollständigen Berücksichtigung der hierfür vergebenen Teil-GdB entgegenstehen. Das bei der Klägerin zu diagnostizierende Schlafapnoesyndrom ist prinzipiell kompensier- bzw. behandelbar und kann daher ebenfalls nicht vollwertig in den Gesamt-GdB einfließen. Zudem dürfte die Schlafregulationsstörung Überschneidungen mit der psychischen Grunderkrankung aufweisen, worauf in der versorgungsärztlichen Stellungnahme des Dr. L. vom 15. Januar 2020 zutreffend hingewiesen wird. Ein höherer Gesamt-GdB als 60, wie er von der Beklagten mit Widerspruchsbescheid vom 1. Dezember 2016 mit Wirkung vom 4. März 2015 festgestellt worden ist, kommt danach nicht in Betracht.

Der Anregung des Sachverständigen, ein traumapsychologisches Gutachten einzuholen, war nicht nachzukommen. Sowohl der Sachverständige Dr. D. als auch der Sachverständige Dr. K. haben sich in ihren Gutachten beide mit der Frage befasst, ob bei der Klägerin eine PTBS vorliegt. Im Ergebnis ist eine solche zu verneinen. Der Sachverständige Dr. K. hat dazu ausgeführt, dass es bereits an dem sog. A-Kriterium einer PTBS, d.h. einem traumatischen Erlebnis fehlt. Insbesondere sind die von der Klägerin vorgetragenen „frühestkindlichen Gewalterfahrungen“ und darüber hinaus solche, die sie noch vor dem Zeitpunkt ihrer eigenen Geburt erlebt haben will, weder nachgewiesen noch glaubhaft gemacht. Auch weitere Lebensumstände und Momente, welche unter Umständen als traumatische Erlebnisse eingestuft werden könnten, können nicht als nachgewiesen oder wenigstens glaubhaft gemacht angesehen werden. Für Schilderungen aus der frühesten Kindheit der Klägerin können Autosuggestionen im Sinne von Scheinerinnerungen nicht zurückgewiesen werden und ein Erlebnisbezug mit aussagepsychologischen Mitteln nicht mehr bejaht werden. Verwiesen wird insoweit auf die Ausführungen im der Klägerin bekannten und rechtskräftigen Beschluss des Senats vom 23. Mai 2019 in der Rechtssache L 3 VE 8/18.

Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 183, 193 SGG und folgt dem Ausgang des Rechtsstreits in der Hauptsache.

Die Revision war nicht zuzulassen, weil die gesetzlichen Voraussetzungen hierfür (vgl. § 160 SGG) nicht vorliegen.

Das Gericht konnte in der aus dem Rubrum ersichtlichen Besetzung entscheiden, weil der Senat die Berufung gemäß § 153 Abs. 5 SGG dem Berichterstatter übertragen hat, der gemeinsam mit den ehrenamtlichen Richtern entscheidet.



Versorungsmedizinische Grundsätze
in der Fassung der 5. Verordnung zur Änderung der Versorgungsmedizin-Verordnung