Die Beteiligten streiten über die Höhe des bei der Klägerin festzustellenden Grades der Behinderung (GdB).
Der Antrag der 1953 geborenen Klägerin auf Feststellung eines GdB war 2007 abgelehnt worden. Am 19. Februar 2013 stellte sie einen Änderungsantrag. Gegen den daraufhin ergangenen Bescheid vom 3. Mai 2013, mit dem der Beklagte bei ihr einen GdB von 20 feststellte, erhob die Klägerin Widerspruch. Nach weiteren Ermittlungen stellte der Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 30. Oktober 2013 einen GdB von 30 fest. Er ging hierbei von folgenden Funktionsbeeinträchtigungen aus:
1. Diabetes mellitus (Einzel-GdB von 30),
2. Polyneuropathie (Einzel-GdB von 10),
3. Bluthochdruck (Einzel-GdB von 10).
Mit ihrer Klage bei dem Sozialgericht Potsdam hat die Klägerin zunächst einen GdB von mindestens 50 begehrt. Das Sozialgericht hat Befundberichte der behandelnden Ärzte eingeholt und auf den Antrag der Klägerin nach § 109 Sozialgerichtsgesetz (SGG) den Facharzt für Innere Medizin und Diabetologen Dipl.-Med. H gehört. Im Gutachten vom 30. Dezember 2016 mit ergänzender Stellungnahme vom 23. Mai 2017 hat der Gutachter mit Wirkung vom 27. August 2014, dem Beginn der Insulintherapie, den Gesamt-GdB auf 50 eingeschätzt. Dem hat er folgende GdB-relevante Funktionsbeeinträchtigungen zugrunde gelegt:
1. Diabetes mellitus (ab 27. August 2014: Einzel-GdB von 40, zuvor 20),
2. Polyneuropathie (ab 14. April 2016: Einzel-GdB von 30, zuvor 20),
3. Nierenschäden (Einzel-GdB von 20),
4. koronare Herzkrankheit, Implantation eines Herzschrittmachers, arterieller Hypertonus (Einzel-GdB von 10).
In der mündlichen Verhandlung vom 13. Juni 2017 hat die Klägerin ihr Begehren auf die Feststellung eines GdB von 50 mit Wirkung ab 27. August 2014 beschränkt. Das Sozialgericht hat mit Urteil vom 13. Juni 2017 den Beklagten zur Feststellung eines GdB von 40 mit Wirkung ab 27. August 2014 verpflichtet und die Klage im Übrigen mit der Begründung abgewiesen, dass der Diabetes mellitus von diesem Zeitpunkt an mit einem Einzel-GdB von 30 und die Polyneuropathie mit einem Einzel-GdB von 20 zu bewerten seien. Der Beklagte hat diese Entscheidung mit Ausführungsbescheid vom 29. Juni 2017 umgesetzt.
Mit ihrer Berufung verfolgt die Klägerin ihr Begehren weiter.
Der Senat hat das Gutachten des Arztes für Allgemeinmedizin Dr. S vom 31. August 2018 mit ergänzender Stellungnahme vom 20. Februar 2019 eingeholt. Auf der Grundlage der gutachterlichen Untersuchung der Klägerin am 21. August 2018 hat der Sachverständige folgende Funktionseinschränkungen festgestellt:
1. Diabetes mellitus (Einzel-GdB von 30),
2. Polyneuropathie, Durchblutungsstörung der Beine mit Geschwürbildung an beiden Unterschenkeln, chronifiziert (Einzel-GdB von 30),
3. Nierenfunktionsstörungen 2. Grades (Einzel-GdB von 20),
4. Bluthochdruck, abgelaufener Herzinfarkt, Stentimplantation, Vorhandensein eines Herzschrittmachers (Einzel-GdB von 10).
Der Gutachter hat mit der Begründung, dass im Vergleich zu den Feststellungen des Sachverständigen H im Dezember 2016 die Nervenschädigung der unteren Extremitäten deutlich zugenommen habe, vorgeschlagen, mit Wirkung ab dem 21. August 2018 einen Gesamt-GdB von 50 festzustellen.
Die Klägerin beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Potsdam vom 13. Juni 2017 zu ändern sowie den Beklagten unter Änderung des Bescheides vom 3. Mai 2013 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 30. Oktober 2013 in der Fassung des Ausführungsbescheides vom 29. Juni 2017 zu verpflichten, bei ihr mit Wirkung ab dem 27. August 2014 einen Grad der Behinderung von 50 festzustellen.
Der Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Er hält bei der Klägerin einen Gesamt-GdB von 40 für ausreichend.
Dem Senat haben die Verwaltungsvorgänge des Beklagten vorgelegen. Diese waren Gegenstand der mündlichen Verhandlung. Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird Bezug genommen auf die Schriftsätze, das Protokoll und die Verwaltungsvorgänge des Beklagten.
Die zulässige Berufung der Klägerin ist begründet.
Die Klägerin hat Anspruch auf Festsetzung eines Gesamt-GdB von 50 mit Wirkung ab dem 27. August 2014.
Nach den §§ 2 Abs. 1, 69 Abs. 1 Sozialgesetzbuch, Neuntes Buch in der bis zum 31. Dezember 2017 geltenden Fassung (SGB IX a.F.) bzw. nach § 152 Abs. 1 Sozialgesetzbuch, Neuntes Buch in der am 1. Januar 2018 in Kraft getretenen Fassung (SGB IX n.F.) sind die Auswirkungen auf die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft nach Zehnergraden abgestuft zu bewerten. Hierbei sind die in der Anlage zur Versorgungsmedizin-Verordnung (VersMedV) vom 10. Dezember 2008 (BGBl. I S. 2412) festgelegten „Versorgungsmedizinischen Grundsätze“ (VMG) heranzuziehen.
Der Diabetes mellitus bei der Klägerin bedingt ab dem 27. August 2014 einen Einzel-GdB von 40. Nach B 15.1 Abs. 3 VMG erleiden an Diabetes erkrankten Menschen, deren Therapie eine Hypoglykämie auslösen kann, die mindestens einmal täglich eine dokumentierte Überprüfung des Blutzuckers selbst durchführen müssen und die durch weitere Einschnitte in der Lebensführung beeinträchtigt sind, je nach Ausmaß des Therapieaufwands und der Güte der Stoffwechseleinstellung eine stärkere Teilhabebeeinträchtigung, die innerhalb des GdB-Rahmens von 30 bis 40 zu bewerten ist. Vorliegend ist es nach der Überzeugung des Senats geboten, bei der Klägerin, die ihre Blutzuckerwerte zweimal am Tag messen und täglich nicht nur das Medikament Januvia in Tablettenform, sondern auch das Langzeitinsulin Lantus injizieren muss, für den Diabetes mellitus einen Einzel-GdB von 40 anzusetzen. Denn nach den medizinischen Feststellungen des Sachverständigen H kommt es durch die Insulintherapie nachts und bei leichter körperlicher Bewegung zu einem vermehrten Auftreten von Hypoglykämien. Nach diesen Unterzuckerungen fühlt sich die Klägerin noch über mehrere Stunden schwach und unwohl. Dem Vorschlag des Sachverständigen Dr. S, den Diabetes mellitus lediglich mit einem Einzel-GdB von 30 zu bewerten, folgt der Senat nicht. Denn der Gutachter hat einen Einzel-GdB von 40 mit der Begründung verneint, die Klägerin führe nicht täglich mindestens vier Blutzuckermessungen durch. Dieses Erfordernis besteht jedoch nach B 15.1 Abs. 3 VMG für die Vergabe eines Einzel-GdB von 50, die vorliegend nicht im Streit steht.
Der Einzel-GdB für die unteren Extremitäten betrug zunächst 20. Die von dem Sachverständigen Dr. S bei der Untersuchung vom 21. August 2018 festgestellte Zunahme der Nervenschädigung der unteren Extremitäten rechtfertigt die Bewertung der Polyneuropathie mit einem Einzel-GdB von 30 erst von diesem Zeitpunkt an. Der Senat konnte auf der Grundlage der im Verwaltungs- und im gerichtlichen Verfahren herangezogenen medizinischen Unterlagen und des Gutachtens des Internisten Dr. H nicht zur Überzeugung gelangen, dass die Funktionseinschränkungen an den unteren Extremitäten bereits zu einem früheren Zeitpunkt ein Ausmaß erreichte, das eine Bewertung mit einem Einzel-GdB von 30 rechtfertigte.
Die Gesundheitsstörungen der Nieren bedingen nach B 12.1.3 VMG einen Einzel-GdB von 20. Zwischen den Beteiligten steht zu Recht nicht im Streit, dass die Behinderungen der Klägerin im Funktionssystem Herz/Kreislauf mit einem Einzel-GdB von 10 zu bewerten sind.
Liegen – wie hier – mehrere Beeinträchtigungen am Leben in der Gesellschaft vor, ist der GdB gemäß § 69 Abs. 3 SGB IX a.F. bzw. § 152 Abs. 3 SGB IX n.F. nach den Auswirkungen der Beeinträchtigungen in ihrer Gesamtheit unter Berücksichtigung ihrer wechselseitigen Beziehungen festzustellen. Nach A 3c VMG ist bei der Beurteilung des Gesamt-GdB von der Funktionsstörung auszugehen, die den höchsten Einzel-GdB bedingt, und dann im Hinblick auf alle weiteren Funktionsbeeinträchtigungen zu prüfen, ob und inwieweit hierdurch das Ausmaß der Behinderung größer wird. Unter Berücksichtigung dieser Vorgaben ist bei der Klägerin mit Wirkung ab dem 27. August 2014 der Einzel-GdB von 40 für den Diabetes mellitus im Hinblick auf die funktionellen Einschränkungen durch die Polyneuropathie im Bereich der unteren Extremitäten um einen Zehnergrad auf 50 zu erhöhen (vgl. A 3d VMG).
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG. Sie berücksichtigt den Ausgang des Rechtsstreits. Die Voraussetzungen für die Zulassung der Revision (§ 160 Abs. 2 SGG) sind nicht erfüllt.