Urteile zum Merkzeichen B

Leitsatz / Urteilsbegründung
Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen 13. Senat Entscheidungsdatum: 25.04.2018 Aktenzeichen: L 13 SB 127/16


JURIS

LS: 1. Die grundsätzliche Überlegung der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (vgl BSG vom 11.8.2015 - B 9 SB 1/14 R = SozR 4-3250 § 69 Nr 21, RdNr 21), der umfassende Behindertenbegriff im Sinne des § 2 Abs 1 S 1 SGB IX gebiete die Einbeziehung aller körperlichen, geistigen und seelischen Beeinträchtigungen, betrifft die Frage der Berechtigung des Merkzeichens B in gleicher Weise wie diejenige der Feststellung des Merkzeichens G.

2. Benötigt also ein behinderter Mensch infolge einer psychotischen Störung bei der Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel eine Begleitperson und ist anderenfalls aufgrund unüberwindbarer psychischer Beeinträchtigungen nicht zur Nutzung dieser Verkehrsmittel in der Lage, so ist diese Person mit den in den Regelfällen genannten Personen gleich zu behandeln.

Gründe: Unter Berücksichtigung der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG, Urteil vom 11. August 2015 – B 9 SB 1/14 R – juris Rn. 21) gebietet der umfassende Behindertenbegriff im Sinne des § 2 Abs. 1 Satz 1 SGB IX im Lichte sowohl des verfassungsrechtlichen als auch des unmittelbar anwendbaren UN-konventionsrechtlichen Diskriminierungsverbots (Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG; Art. 5 Abs. 2 UN-BRK, hierzu BSGE 110, 194 = SozR 4-1100 Art 3 Nr. 69 Rn. 31) die Einbeziehung aller körperlichen, geistigen und seelischen Beeinträchtigungen. Den nicht erwähnten Behinderungen sind die Regelbeispiele als Vergleichsmaßstab zur Seite zu stellen. Anspruch auf den Nachteilsausgleich G – der im dort zu entscheidenden Fall streitgegenständlich war – hat deshalb auch ein schwerbehinderter Mensch, der nach Prüfung des einzelnen Falles aufgrund anderer Erkrankungen als den in Teil D Nr. 1 d bis f VMG genannten Regelfällen dem beispielhaft aufgeführten Personenkreis mit gleich schweren Auswirkungen auf die Gehfunktion gleichzustellen ist (vgl. BSG a. a. O., ferner Urteil vom 13. August 1997 – 9 RVs 1/96 – SozR 3-3870 § 60 Nr. 2). Dies gilt auch für psychosomatische oder psychische Behinderungen und Krankheitsbilder.

Diese grundsätzlichen Überlegungen betreffen die Frage der Berechtigung des Merkzeichens B in gleicher Weise wie diejenige der Feststellung des Merkzeichens G. Benötigt also ein behinderter Mensch, so wie die Klägerin, infolge einer psychotischen Störung bei der Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel eine Begleitperson und ist anderenfalls aufgrund unüberwindbarer psychischer Beeinträchtigungen nicht zur Nutzung dieser Verkehrsmittel in der Lage, so ist diese Person mit den in den Regelfällen genannte Personen gleich zu behandeln (vgl. in ähnlichem Zusammenhang LSG Berlin-Brandenburg, Urteile vom 27. November 2015 – L 13 SB 82/15 –, juris Rn. 24, und vom 28. Januar 2016 – L 13 SB 158/14 –, juris Rn. 22).

Hierzu ist freilich auch bei einer festgestellten psychischen Beeinträchtigung nicht ausreichend, wenn ein Antragsteller besondere Schwierigkeiten oder Befindlichkeiten nachvollziehbar darlegt oder gar die bloße Behauptung aufstellt, aufgrund einer nachgewiesenen psychischen Erkrankung nicht allein mit öffentlichen Verkehrsmitteln fahren zu können. Vielmehr müssen wie auch sonst die anspruchsbegründenden Tatsachen zur vollen Überzeugung des Gerichts in einer Weise erwiesen sein, dass vernünftige Zweifel nicht verbleiben und das Vorliegen der anspruchsbegründenden Tatsachen zumindest mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit festgestellt werden kann. Dies erfordert im Zusammenhang mit dem Merkzeichen B die volle Überzeugung von der Unmöglichkeit der Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel ohne Begleitung.

Diese Voraussetzung ist vorliegend erfüllt. Im Wesentlichen ergibt sich dies aus den Ausführungen der als Sachverständige gehörten Fachärztin für Neurologie und Psychiatrie Dr. S., denen der Senat folgt. Bereits in ihrem Gutachten vom 13. Juli 2015 hat sie umfassend dargelegt, die Klägerin habe eine diffuse Angst vor Menschen. Zwar sei sie in ihrer Orientierung nicht gestört und benötige wegen der spastischen Krämpfe im rechten Fuß nicht regelmäßig fremde Hilfe beim Ein- und Aussteigen; die Frage des Senats aber, ob die Sachverständige aufgrund ihrer im Jahr 2015 gewonnenen Erkenntnisse die Klägerin dahingehend eingeschränkt sehe, dass sie aus psychischen Gründen bei der Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel ständig auf fremde Hilfe angewiesen sei, hat Dr. S. unter dem 9. August 2017 überzeugend bejaht. Sie hat nochmals anschaulich dargelegt, die Angststörung der Klägerin hemme sie unüberwindbar und sei von ihr bei der Schwere ihrer Erkrankung auch nicht willentlich zu beeinflussen. Nach ihrer Einschätzung sei die Klägerin krankheitsbedingt aufgrund ihrer Psychose und ihrer diffusen Ängste, ihrer inneren Verunsicherung und des mangelnden Zutrauens in die eigenen Fähigkeiten nicht mehr in der Lage, öffentliche Verkehrsmittel ohne fremde Hilfe zu benutzen. Diese schlüssige und nachvollziehbare Stellungnahme hat den Senat überzeugt. Sie deckt sich im Übrigen mit den neueren Einschätzungen der Fachärzte für Psychiatrie Dr. P. – der sich zunächst abweichend geäußert hatte – und B.


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Versorungsmedizinische Grundsätze
in der Fassung der 5. Verordnung zur Änderung der Versorgungsmedizin-Verordnung