Urteile zur Fibromyalgie

Urteilsbegründung Stichpunkte
Landessozialgericht Berlin-Brandenburg 11. Senat Entscheidungsdatum: 23.09.2015 Aktenzeichen: L 11 SB 35/13

JURIS

Die Beurteilung des Fibromyalgie-Syndroms richtet sich nach Teil B Nr. 18.4 der Anlage zu § 2 VersMedV. Danach ist die Fibromyalgie – ebenso wie das Chronische Fatigue Syndrom (CFS), die Multiple Chemical Sensitivity (MCS) und ähnliche Syndrome (nach der bis 9. März 2010 geltenden Fassung: Somatisierungs-Syndrome) – jeweils im Einzelfall entsprechend den funktionellen Auswirkungen analog zu beurteilen. Die vier gerichtlich befragten Sachverständigen und der vom Beklagten befragte Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie Dr. S haben übereinstimmend angegeben bzw. bestätigt, dass die Klägerin unter einem psychogenen Fibromyalgie-Syndrom leidet, welches auf einer gestörten Schmerzverarbeitung beruht und mit vegetativen und psychischen Störungen einhergeht. Ein solches Schmerz-Syndrom ist im Unterschied zum primären Fibromyalgie-Syndrom nicht dem rheumatischen Formenkreis zuzuordnen (vgl. Pschyrembel, Klinisches Wörterbuch, 266. Aufl. 2014, Seite 681f., Fibromyalgiesyndrom). Da das Beschwerdebild der Klägerin, wie insbesondere auch Dr. H und Dr. K ausgeführt haben, maßgeblich durch eine chronifizierte Störung der Schmerzverarbeitung mit vegetativen Symptomen, Leistungseinbußen und Körperfunktionsstörungen ohne (primär) organisches Korrelat geprägt wird, bedeutet dies, dass als Vergleichsmaßstab hier am ehesten die in Teil B Nr. 3.7 der Anlage zu § 2 VersMedV unter der Überschrift „Neurosen, Persönlichkeitsstörungen, Folgen psychischer Traumen“ aufgeführten psychovegetativen oder psychischen Störungen mit Einschränkungen der Erlebnis- und Gestaltungsfähigkeit und eventuellen sozialen Anpassungsschwierigkeiten in Betracht kommen. Damit sind zur Beurteilung der funktionellen Auswirkungen des Fibromyalgie-Syndroms im Fall der Klägerin die Grundsätze für die Beurteilung von psychovegetativen und psychischen Störungen analog heranzuziehen (ebenso Landessozialgericht Sachsen-Anhalt, Urteil vom 14. Oktober 2014 – L 7 SB 23/12 –, juris).

Anhand dieser Maßstäbe beurteilt der Senat bei der rechtlichen Bewertung der Funktionsbeeinträchtigungen die Behinderung durch die Depression und durch das Fibromyalgie-Syndrom einschließlich der somatoformen Schmerzstörung einheitlich. Denn nach den nachvollziehbaren und schlüssigen Ausführungen des Sachverständigen Dr. H resultieren die Funktionsbeeinträchtigungen insoweit aus einem einheitlichen psychiatrischen Formenkomplex und sind die jeweils verursachten – für die Bestimmung des GdB allein maßgeblichen – Teilhabebeeinträchtigungen identisch. Hiervon ausgehend sind die depressive Störung, die somatoforme Schmerzstörung und das sekundäre Fibromyalgie-Syndrom zusammengefasst als stärker behindernde Störung mit wesentlicher Einschränkung der Erlebnis- und Gestaltungsfähigkeit zu bewerten. Dabei ergibt sich das Vorliegen einer stärker behindernden Störung jedoch erst aus dem Zusammenwirken der jeweils für sich genommen noch nicht stärker behindernden Störungen.

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Leitsatz / Urteilsbegründung Stichpunkte
Landessozialgericht Sachsen-Anhalt
7. Senat Entscheidungsdatum: 14.10.2014 Aktenzeichen: L 7 SB 23/12


JURIS

LS: Anhaltende Schmerzen ohne organischen Erklärung sind unabhängig von der Diagnose (somatoforme Schmerzstörung, chronifiziertes Schmerzsyndrom, Fibromyalgie) im Funktionssystem Gehirn einschließlich Psyche zu erfassen. Eine Doppelbewertung der damit verbundenen schmerzbedingten Funktionseinschränkungen in den Funktionssystemen Rumpf, Beine und Arme ist unzulässig.

Gründe: Bei der Klägerin ist mittels Kernspintomographie ein Bandscheibenvorfall in den Segmenten C6/C7 gesichert. Der Sachverständige Dr. T hat einen leichten Druckschmerz entlang der paravertebralen Muskulatur im unteren Halswirbelsäulenbereich sowie im Verlauf des Muskulus trapezius gefunden. In diesen Bereichen fand sich ein erhöhter Muskelhartspann, Myogelosen waren nicht nachzuweisen. Die von Dr. T festgestellten Bewegungsmaße dokumentieren eine endgradige Einschränkung der Beweglichkeit der Halswirbelsäule. Die Seitneigung des Kopfes war beidseits bis 40Grad, die Drehung des Kopfes war beidseits bis 60Grad möglich. Für die Brust- und Lendenwirbelsäule hat der Gutachter keine Auffälligkeiten beschrieben. Bei der klinischen Untersuchung gab die Klägerin keine Beschwerden an. Die demonstrierten Bewegungsmaße zeigen keine Einschränkungen. Der Finger-Boden-Abstand betrug anlässlich der Untersuchung durch Dr. T 0 cm, das Maß nach Schober, als Maßstab für die Beweglichkeit der Lendenwirbelsäule, 10/15 cm, das Zeichen nach Ott, als Maßstab für die Beweglichkeit der Brustwirbelsäule, 30/32 cm. Für die Wirbelsäulenschäden in einem Wirbelsäulenabschnitt ist bei der Klägerin ein GdB von 10 anzunehmen. Soweit PD Dr. B in seinem Befund eine deutliche Skoliose der Wirbelsäule und einen Beckentiefstand von 1,5 cm links beschreibt, steht dies der Bewertung nicht entgegen. Hieraus resultierende funktionelle Einschränkungen im Bereich des Achsorgans, die einen höheren GdB rechtfertigten, beschreibt der Arzt nicht.

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Anmerkung:

Die beiden vorgenannten Entscheidungen belegen wieder einmal deutlich, dass für eine erfolgreiche Auseinandersetzung mit den versorgungsmedizinischen Grundsätzen und der Einstufung des Grades der Behinderung nach dem Schwerbehindertengesetz auch Kenntnisse der Rechtsprechung erforderlich sind und es dringend anzuraten ist, möglichst frühzeitig einen Fachanwalt für Sozialrecht einzuschalten.

Eigentlich ist die Fibromyalgie, ohnehin in der medizinischen Literatur ein schillernder Begriff , in den versorgungsmedizinischen Grundsätzen unter Teil B Nr. 18.4 geregelt.

Im Einzelfall ist es jedoch geboten, diesen Befund anhand Teil B Nr. 3.7 einzuordnen. Versorgungsämter machen aufgrund der namentlichen Benennung dieses Befundes unter 18.4 häufig den Fehler, dass sie hier rein schematisch versuchen, den Befund Fibromyalgie anhand Teil B Nr. 18.4 abzuarbeiten. Nicht selten zum Nachteil der Antragsteller.

Leitsatz /Urteilsbegründung Stichpunkte
BSG 9. Senat Entscheidungsdatum: 11.08.2015 Aktenzeichen: B 9 SB 1/14 R
JURIS

LS: Psychische Gehstörungen können zu einer erheblichen Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr führen, auch wenn sie Anfallsleiden oder Orientierungsstörungen nicht gleichzusetzen sind.

Gründe: Der umfassende Behindertenbegriff iS des § 2 Abs 1 S 1 SGB IX gebietet im Lichte des verfassungsrechtlichen als auch des unmittelbar anwendbaren UN-konventionsrechtlichen Diskriminierungsverbots (Art 3 Abs 3 S 2 GG; Art 5 Abs 2 UN-BRK, hierzu BSGE 110, 194 = SozR 4-1100 Art 3 Nr 69 RdNr 31) die Einbeziehung aller körperlichen, geistigen und seelischen Beeinträchtigungen. Den nicht erwähnten Behinderungen sind die Regelbeispiele als Vergleichsmaßstab zur Seite zu stellen. Anspruch auf Nachteilsausgleich G hat deshalb auch ein schwerbehinderter Mensch, der nach Prüfung des einzelnen Falles aufgrund anderer Erkrankungen als den in Teil D Nr 1 Buchst d bis f AnlVersMedV genannten Regelfällen dem beispielhaft aufgeführten Personenkreis mit gleich schweren Auswirkungen auf die Gehfunktion gleichzustellen ist (vgl BSG Urteil vom 13.8.1997 - 9 RVs 1/96 - SozR 3-3870 § 60 Nr 2). Dies gilt auch für psychosomatische oder psychische Behinderungen und Krankheitsbilder, wie das der Entscheidung vom 13.8.1997 ua zugrunde liegende Schmerzsyndrom oder das hier im Falle der Klägerin bestehende Fibromyalgie-Syndrom und die damit einhergehende Schmerzproblematik.

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Landessozialgericht für das Land Nordrhein-Westfalen 6. Senat
Entscheidungsdatum: 28.11.2000 Aktenzeichen: L 6 SB 46/98


JURIS

Der vom Sozialgericht angenommene Teil-GdB von 40 für das Fibromyalgiesyndrom lässt sich nicht aus den nach den AHP für entzündliche-rheumatische Krankheiten der Gelenke und/oder der Wirbelsäule maßgeblichen Bewertungskriterien (AHP Ziffer 26.18, S. 135f) herleiten. Zwar ist das Fibromyalgiesyndrom als chronisches Schmerzsyndrom ohne organischen Befund in Ziffer 26.18 der AHP 1996 den rheumatischen Erkrankungen zugeordnet worden. Dabei sind die AHP der Systematik der ICD (Internationale Classifikation der Krankheiten) - 10 gefolgt, in der das Fibromyalgiesyndrom unter M 79.0 - "andere nicht näher bezeichnete Weichteilerkrankungen" - aufgeführt ist (Niederschrift über die Tagung der Sektion "Versorgungsmedizin" des ärztlichen Sachverständigenbeirats beim Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung - BMA - vom 28. bis 29.04.1999). Dies rechtfertigt es aber nicht, für die Bewertung des Fibromyalgie-Syndroms die für entzündlich-rheumatische Krankheiten der Gelenke und/oder der Wirbelsäule (z. B. Bechterew- Krankheit) geltenden GdB-Werte zu übernehmen, wie es das Sozialgericht getan hat. Bei entzündlich-rheumatischen Erkrankungen kommt ein GdB von 40 nur bei erheblichen Gelenkbeteiligungen in Betracht. Denn maßgeblich für die Bewertung ist u.a. Art und Umfang des Gelenkbefalles. Eine solche Gelenkbeteiligung oder anderweitige Organbeteiligung ist hier nicht erkennbar. Allein die Schmerzsymptomatik rechtfertigt es nicht, den für entzündlich- rheumatische Erkrankungen vorgesehenen GdB von 40 zu übernehmen.

Als Vergleichsmaßstab kommen bei einem Fibromyalgiesyndrom wie auch bei anderen Krankheitsbildern (z. B. chronisches Müdigkeitssyndrom, Multiple chemical sensivity) mit vegetativen Symptomen, gestörter Schmerzverarbeitung, Leistungseinbußen und Körperfunktionsstörungen, denen kein oder kein primär organischer Befund zugrunde liegt, am ehesten die in Ziffer 26.3, S. 60 AHP unter "Neurologischen Persönlichkeitsstörungen" genannten psychovegetativen oder psychischen Störungen mit Einschränkungen der Erlebnis- und Gestaltungsfähigkeit und evtl. sozialen Anpassungsschwierigkeiten in Betracht (Niederschrift über die Tagung der Sektion "Versorgungsmedizin" des ärztlichen Sachverständigenbeirates bei BMA vom 25. bis 26.11.1998).

Hiernach ist für leichtere psychovegetative oder psychische Störungen ein Bewertungsrahmen von 0 - 20 vorgesehen. Ein GdB von 30-40 ist erst bei stärker behindernden Störungen mit wesentlicher Einschränkung der Erlebnis- und Gestaltungsfähigkeit (z. B. ausgeprägtere, depressive, hypochondrische, asthenische, oder phobische Entwicklungen mit Krankheitswert, somatoforme Störungen) gegeben. Ein GdB von 50 kann erst bei schweren Störungen (z. B. schwere Zwangskrankheit) mit mittelgradigen sozialen Anpassungsschwierigkeiten in Ansatz gebracht werden (vgl. AHP S. 60f).

Unter Berücksichtigung dieser Bewertungskriterien ist der von Dr. N. für das Fibromyalgiesyndrom vorgeschlagene GdB von 50 als überhöht anzusehen. Denn die von Dr. N. als Folgen des Fibromyalgie-Syndroms beschriebene starke Schmerzhaftigkeit, die mit einer depressiven Verstimmung einhergeht, kann nicht mit schweren Störungen mit mittelgradigen sozialen Anpassungsschwierigkeiten gleichgestellt werden. Nach ihren dem Senat gemachten Angaben bezieht die Klägerin nunmehr Arbeitslosengeld, sie steht also dem Arbeitsmarkt zur Verfügung. Da sie auch keinen Rentenantrag gestellt hat, kann schon deshalb nicht davon ausgegangen werden, dass es wegen der fibromyalgischen Erkrankung, z. B. durch einen Rückzug aus dem Erwerbsleben zu mittelgradigen sozialen Anpassungsschwierigkeiten gekommen ist.

Eine Gleichstellung mit ausgeprägteren depressiven Störungen, die einen GdB von 30-40 rechtfertigen, erscheint angesichts der von Dr. N. angegebenen bloßen depressiven Verstimmung ebenfalls nicht möglich. Auch die sich im wesentlichen auf subjektive Empfindungen der Klägerin gründende Schmerzhaftigkeit lässt sich nicht mit einer stärker behindernden Störung, die zu einer wesentlichen Einschränkung der Erlebnis- und Gestaltungsfähigkeit führt, gleichstellen. Insbesondere sind auch die Angaben der Klägerin zu Art und Ausmaß der Schmerzen nicht geeignet, derartige Einschränkungen, wie sie bei ausgeprägteren depressiven oder somatoformen Störungen gegeben sind, nachzuweisen. Zudem sind auch nach dem Entlassungsbericht über das im Januar/Februar 2000 in der V. X. durchgeführte Heilverfahren Aggravationstendenzen nicht auszuschließen.

Insgesamt sind die mit der fibromyalgischen Erkrankung einhergehenden Begleiterscheinungen unter Würdigung sämtlicher medizinischer Unterlagen am ehesten mit leichteren psychovegetativen oder psychischen Störungen zu vergleichen, so dass hierfür innerhalb des Bewertungsrahmens von 0 - 20 ein GdB von 20 in Ansatz gebracht werden kann.

Auch unter Berücksichtigung dieses eigenständigen Teil-GdB von 20 für die Fibromyalgie, der im wesentlichen durch die Schmerzkomponente bedingt ist, ist im Ergebnis der von Dr. A. vorgeschlagene GdB von insgesamt 30 zutreffend. Denn bei den zu berücksichtigenden Teil-GdB von jeweils 20 für die Fibromyalgie und die reinen Wirbelsäulenschäden erscheint ein GdB von 30 vertretbar. Jedenfalls ist ein höherer GdB als von insgesamt 40 nicht gerechtfertigt. Letzteres gilt im übrigen auch dann, wenn man die durch die Fibromyalgie hervorgerufenen Störungen mit stärker behindernden Störungen, die eine wesentliche Einschränkung der Erlebnis- und Gestaltungsfähigkeit bedingen, gleichstellen wollte und einen GdB-Rahmen von 30-40 für vertretbar erachtete. Denn selbst bei Annahme eines GdB von 40 für das Fibromyalgiesyndrom würde dieser GdB durch den Teil-GdB von 20 für die reinen Wirbelsäulenschäden nicht auf 50 erhöht. Denn nach den für die Bildung des Gesamt-GdB maßgeblichen Beurteilungskriterien ist es auch bei leichten Funktionsbeeinträchtigungen mit einem GdB von 20 vielfach nicht gerechtfertigt, auf eine wesentliche Zunahme des Ausmaßes der Behinderung zu schließen. Letzteres ist hier der Fall. Entscheidend hierfür ist, dass die reinen Wirbelsäulenschäden lediglich leichte Funktionsstörungen bedingen und sich diese Funktionsstörungen zu dem mit der durch das Fibromyalgiesyndrom bedingten Schmerzsymptomatik überschneiden.

BSG 9. Senat
Entscheidungsdatum: 14.11.2013 Aktenzeichen: B 9 SB 17/13 B


JURIS

Gründe: Das LSG durfte den Beweisantrag der Klägerin nicht übergehen. Nach Auffassung des erkennenden Senats musste sich das LSG gedrängt fühlen, die Auswirkungen des Fibromyalgiesyndroms auf die Fähigkeit der Klägerin zur Teilhabe am Leben in der Gesellschaft durch eine weitere Beweiserhebung zu klären. Der Sachverständige Dr. J. hat sich zwar zu der vorliegenden Borreliose geäußert, nicht aber zu einem Fibromyalgiesyndrom (einem nicht entzündlich bedingten Schmerzsyndrom mit chronischen Weichteilbeschwerden), das der Klägerin in dem Bericht des Arztes für Innere Medizin - Rheumatologie Dr. H. vom 22.12.2011 bescheinigt worden ist. Soweit Dr. J. von der Klägerin geschilderte chronische Schmerzen erwähnt, hat er diese der von ihm diagnostizierten psychischen Erkrankung (chronische, unspezifische Anpassungsstörung) zugerechnet. Er hat auch nicht zum Ausdruck gebracht, dass die durch ein Fibromyalgiesyndrom möglicherweise bei der Klägerin hervorgerufenen Beschwerden in vollem Umfang durch das von ihm diagnostizierte Schmerzsyndrom erfasst seien. Bei dieser Sachlage fußt die genannte Beurteilung des LSG ersichtlich nicht auf einer Äußerung des Sachverständigen. Es ist auch nicht erkennbar, dass sich das LSG dabei auf eine andere medizinische Erkenntnisquelle gestützt hat. Dementsprechend ist offengeblieben, ob die gesundheitlichen Beeinträchtigungen der Klägerin vollständig festgestellt worden sind. Dabei geht es insbesondere um die Klärung möglicher Auswirkungen einer Fibromyalgie auf die Teilhabefähigkeit der Klägerin. Möglicherweise bestehen insoweit neben Schmerzerscheinungen auch Auswirkungen funktioneller Art.

Landessozialgericht Baden-Württemberg 6. Senat
Entscheidungsdatum: 13.12.2012 Aktenzeichen: L 6 SB 4838/10


JURIS

LS: Eine Fibromyalgie ist entsprechend den funktionellen Auswirkungen analog zu beurteilen und bei somatoformen Störungen beim nervenheilkundlichen Fachgebiet zu berücksichtigen.

Gründe: Soweit Dr. M. in seinem Gutachten vom 12.04.2010 die chronische Schmerzerkrankung „im Sinne einer Fibromyalgiesymptomatik bzw. somatoformen Schmerzstörung“ mit einem Einzel-GdB von 50 und Dr. Sch. in seinem Gutachten vom 08.12.2011 das chronische Schmerzsyndrom im „Stadium III nach Gerbershagen mit generalisiertem Somatisierungssyndrom im Sinne einer Fibromyalgie“ mit einem Einzel-GdB von 40 bewerten, fällt die Bewertung dieses Leidens weder in das internistisch-rheumatologische noch in das orthopädische, sondern vielmehr in das nervenheilkundliche Fachgebiet. Zutreffend hat Dr. W. in der versorgungsärztlichen Stellungnahme vom 10.05.2012 dargelegt, dass die Fibromyalgie nach den hiermit verbundenen psychischen Begleiterscheinungen zu beurteilen ist. Das war auch für den Senat angesichts der fehlenden Objektivierbarkeit der Schmerzen angesichts der nicht vorhandenen Muskelatrophien (dazu siehe unten) nachvollziehbar begründet. Damit einhergehend sind nach den VG, Teil B, Nr. 18.4 die Fibromyalgie und ähnliche Syndrome jeweils im Einzelfall entsprechend der funktionellen Auswirkungen analog zu beurteilen. Vorliegend betreffen diese Auswirkungen das nervenheilkundliche Fachgebiet (somatoforme Störungen; so LSG Baden-Württemberg, Urteile vom 27.01.2012 - L 8 SB 668/11, vom 19.12.2008 - L 8 SB 3720/07, vom 29.08.2008 - L 8 SB 5525/06 und vom 23.11.2007 - L 8 SB 4995/04), so dass sie für das Funktionssystem Rumpf nicht den Einzel-GdB erhöhen

Landessozialgericht für das Land Nordrhein-Westfalen 6. Senat
Entscheidungsdatum: 17.09.2002
Aktenzeichen: L 6 SB 9/02


JURIS

Für die Bewertung des GdB ist allein maßgeblich das Erkrankungsbild einer Fibromyalgie mit ihren Begleiterscheinungen. Allein die Diagnose einer Fibromyalgie rechtfertigt, worauf der Kläger mehrfach hingewiesen worden ist, keinen höheren GdB. Nach den Anhaltspunkten für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertengesetz, 1996 (AP) kommt es für die Bewertung des GdB nicht auf die Diagnose an, entscheidend ist vielmehr das tatsächliche Ausmaß der Funktionsbeeinträchtigung unter Berücksichtigung der jeweiligen Organbeteiligung und der Auswirkungen auf den Allgemeinzustand (AP Ziffer 26.18, S. 136). Dabei sehen die AP für die Bewertung eines Fibromyalgiesyndroms keine konkreten GdB-Werte vor, so dass sich der GdB hierfür in Analogie zu vergleichbaren Gesundheitsstörungen beurteilt (vgl. Urteil des Senats vom 12.03.2002 - L 6 SB 137/01 LSG NW -, wonach bei einem Fibromyalgiesyndrom als Vergleichsmaßstab am ehesten die in Ziffer 26.3, S. 60 AP genannten psychovegetativen oder psychischen Störungen in Betracht kommen.).
SG Reutlingen 7. Kammer
Entscheidungsdatum: 10.10.2002 Aktenzeichen: S 7 SB 1689/00


JURIS

Gründe: Streitig ist geblieben, mit welchem GdB das Fibromyalgie-Syndrom einzuschätzen ist. Das Gericht folgt der Beurteilung der Sachverständigen Dr. .., die in ihrem internistisch-rheumatologischen Gutachten vom 23.08.2002 ausführlich und überzeugend dargelegt hat, dass dieses Leiden mit einem eigenständigen GdB von 40 einzuschätzen ist. Dabei orientiert sich die Sachverständige an den AP (vgl. S. 136), wonach es bei der Beurteilung nicht-entzündlicher Krankheiten der Weichteile auf Art und Ausmaß der jeweiligen Organbeteiligung sowie auf die Auswirkungen auf den Allgemeinzustand ankommt. In zulässiger Weise zieht sie dann einen Vergleich zu Gesichtsneuralgien (z.B. Trigeminusneuralgien), bei denen bei seltenen und leichten Schmerzen ein GdB von 0 bis 10, bei häufigeren, leichten bis mittelgradigen Schmerzen ein GdB von 20 bis 40 und bei häufigen, mehrmals im Monat auftretenden starken Schmerzen bzw. Schmerzattacken ein GdB von 50 bis 60 anzunehmen ist (vgl. AP, S. 50). Dazu bemerkt das Gericht, dass die Beurteilung von Fibromyalgie-Patienten (im Vergleich zu Rheuma-Patienten) schwieriger ist, da die Funktionseinbußen nur unzureichend mit klassischen Diagnosenmethoden (wie z.B. Röntgen oder Laboruntersuchungen oder sonstigen Funktionstests) untersuchbar sind. Als ausgewiesene Spezialistin für das Krankheitsbild der Fibromyalgie weist die Sachverständige eine große Erfahrung in der gutachterlichen Beurteilung dieser Erkrankung auf. In Anbetracht der Schmerzsituation des Klägers - von ihm werden in allen Körperregionen und Extremitäten auf einer visuellen Analogskala von 0 bis 10 im Durchschnitt Schmerzen mit 7 angegeben (0 = kein Schmerz, 10 = stärkster Schmerz) - ist von einem Zustand „mittelgradiger Schmerzen" auszugehen, für den ein GdB von 40 angemessen und ausreichend erscheint.

Der Beurteilung des Ärztlichen Dienstes des Beklagten, wie sie in den versorgungsärztlichen Stellungnahmen des Vertragsarztes Dr. .. vom 22.04. und 16.09.2002 zum Ausdruck kommen, vermag sich das Gericht nicht anzuschließen, auch nicht der Niederschrift des Ärztlichen Sachverständigenbeirats beim BMA vom 13.11.1991. Dort wird - entgegen neuerer internationaler Erkenntnisse - nach wie vor davon ausgegangen, dass das Fibromyalgie-Syndrom nicht als eigenständiges Krankheitsbild zu beurteilen sei. Mit der Sachverständigen Dr. .. geht das Gericht demgegenüber davon aus, dass es sich bei dieser Erkrankung um ein eigenständiges Krankheitsbild handelt, dass als solches zu bewerten ist.

Neben der mittelgradigen Fibromyalgie (Behinderung Ziffer 1) sind weitere Behinderungen im Bereich der unteren Extremitäten (Behinderung Ziffer 2), der Hände (insbesondere rechts) (Behinderung Ziffer 3) und der Wirbelsäule (Behinderung Ziffer 4) hinzugekommen. Als somatische Funktionsbeeinträchtigungen sind sie zusätzlich (zu der Fibromyalgie) zu beurteilen und angemessen zu berücksichtigen. In Übereinstimmung mit Dr. .. geht das Gericht davon aus, dass diese Funktionsbeeinträchtigungen mit Einzel-GdB-Werten von 20, 10 und 10 zu bewerten sind. Im Bereich der Kniegelenke besteht beim Kläger zwar eine derbe Schwellung, die Funktionseinschränkung ist aber nicht so wesentlich, dass hierfür ein Einzel-GdB von 30, wie von der Sachverständigen Dr. .. vorgeschlagen, vergeben werden könnte. /

Landessozialgericht für das Land Nordrhein-Westfalen 6. Senat
Entscheidungsdatum: 12.03.2002 Aktenzeichen: L 6 SB 137/01


JURIS

Gründe: Ganz im Vordergrund steht bei der Klägerin das Erkrankungsbild des "Ganzkörperschmerzes" (so Dr. S) bzw. der "Panalgesie als Maximalvariante des FMS" (so Dr. I). Dabei kann offen bleiben, ob bei der Klägerin die von Dr. I gestellte Diagnose einer Panalgesie überhaupt zutreffend ist angesichts der Ausführungen des Sachverständigen Dr. C, dass ein generalisiertes FMS bei relativ schwacher Ausprägung der Tender points wie auch der vegetativen Symptome und funktionellen Störungen bei der Klägerin nicht nachweisbar sei. Denn für die Bewertung des GdB bei einem FMS ist nicht die Diagnose ausschlaggebend, damit auch nicht, ob es sich etwa um eine Maximalvariante eines FMS handelt, sondern entscheidend ist das tatsächliche Ausmaß der Funktionsbeeinträchtigung unter Berücksichtigung der jeweiligen Organbeteiligung und der Auswirkungen auf den Allgemeinzustand, AP Nr. 26.18, Seite 136. Dabei nennen die AP für die Bewertung des FMS keine speziellen GdB-Werte, so dass sich der GdB hierfür in Analogie zu vergleichbaren Gesundheitsstörungen beurteilt, AP Nr. 26.1, Seite 48.

Der von Dr. I angenommene GdB von 50 für das FMS in Ausprägung einer Panalgesie und damit verbundener sekundärer neurotisch-depressiven Entwicklung lässt sich nicht aus den nach den AP für entzündlich-rheumatische Krankheiten der Gelenke und/oder der Wirbelsäule (z.B. Bechterew-Krankheit) maßgeblichen Bewertungskriterien (AP Nr. 26.18, Seite 135 f.) herleiten. Zwar ist das FMS in Nr. 26.18 der AP den rheumatischen Erkrankungen zugeordnet worden. Dabei sind die AP der Systematik der ICD (International Classification of Deseases ) - 10 - gefolgt, in der das FMS unter "anderen, nicht näher bezeichneten Weichteilerkrankungen" aufgeführt ist (Niederschrift über die Tagung der Sektion "Versorgungsmedizin" des ärztlichen Sachverständigenbeirats beim Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung -BMA- vom 28. bis 29.02.1999). Dies rechtfertigt es aber nicht, für die Bewertung des FMS die für entzündlich-rheumatische Krankheiten der Gelenke und/oder der Wirbelsäule (z.B. Bechterew-Krankheit) geltenden GdB-Werte zu übernehmen, wie es Dr. I getan hat. Bei entzündlich-rheumatischen Erkrankungen kommt ein GdB von 50 nur bei dauernden erheblichen Gelenkbeteiligungen in Betracht. Denn maßgeblich für die Bewertung ist u.a. Art und Umfang des Gelenkbefalls.

Eine solche Gelenkbeteiligung oder anderweitige Organbeteiligung ist bei der Kläger nicht gegeben. So hatte die Universität L, Innere, im Bericht von Juli 1999 ausgeführt, dass in Zusammenschau aller erhobenen Befunde eine entzündlich-rheumatische Erkrankung ausgeschlossen werden konnte. Und Dres. S und C hatten im Rahmen ihrer Begutachtung festgestellt, dass aus organneurologischer Sicht keine krankhaften Veränderungen vorliegen bzw. rein orthopädisch ausschließlich ein Wirbelsäulen-Syndrom mit leichtgradiger Funktionseinschränkung vorliegt, alle Körpergelenke aber durchgehend frei beweglich sind. Allein die Schmerzsymptomatik, die sich im wesentlichen auf subjektive Empfindungen der Klägerin gründet, rechtfertigt es nicht, den für entzündlich-rheumatische Erkrankungen vorgesehenen GdB von 50 zu übernehmen.

Als Vergleichsmaßstab kommen bei einem FMS wie auch bei anderen Krankheitsbildern (z.B. chronisches Müdigkeits-Syndrom, Multiple chemical sensitivity) mit vegetativen Symptomen, gestörter Schmerzverarbeitung, Leistungseinbußen und Körperfunktionsstörungen, denen kein oder kein primär organischer Befund zugrunde liegt, am ehesten die in Nr. 26.3, Seite 60 der AP unter "Neurosen, Persönlichkeitsstörungen, Folgen psychischer Traumen" genannten psychovegetativen oder psychischen Störungen mit Einschränkungen der Erlebnis- und Gestaltungsfähigkeit und evtl. sozialen Anpassungsschwierigkeiten in Betracht (Niederschrift über die Tagung der Sektion "Versorgungsmedizin" des ärztlichen Sachverständigenbeirats beim BMA vom 25. bis 26.11.1998). Hiernach ist für leichtere psychovegetative oder psychische Störungen ein Bewertungsrahmen von 0 bis 20 vorgesehen. Ein GdB von 30 bis 40 ist erst bei stärker behindernden Störungen mit wesentlicher Einschränkung der Erlebnis- und Gestaltungsfähigkeit (z.B. ausgeprägtere depressive, hypochondrische, asthenische oder phobische Störungen, Entwicklungen mit Krankheitswert, somatoforme Störungen) gegeben. Ein GdB von 50 kann erst bei schweren Störungen (z.B. schwere Zwangskrankheit) mit mittelgradigen sozialen Anpassungsschwierigkeiten in Ansatz gebracht werden (AP Nr. 26.3, Seite 60 f.).

Unter Berücksichtigung dieser Bewertungskriterien ist der von Dr. I für das FMS vorgeschlagene GdB von 50 als überhöht anzusehen. Denn das von Dr. I beschriebene generalisierte Schmerzbild, das mit einer neurotisch-depressiven Entwicklung einhergeht, kann nicht mit schweren Störungen mit mittelgradigen sozialen Anpassungsschwierigkeiten gleichgestellt werden. Die Klägerin ist nach wie vor selbständig im T beruflich tätig - von einem Verkauf ihres Gewerbes hat sie bisher Abstand genommen - und führt ein intaktes Familienleben. Insofern kann schon deshalb nicht davon ausgegangen werden, dass es wegen der fibromyalgischen Erkrankung, z.B. durch einen Rückzug im Berufs- oder Privatleben, zu mittelgradigen sozialen Anpassungsschwierigkeiten gekommen ist. Unter Berücksichtigung der Feststellungen von Dr. S, dass bei der Klägerin eine depressive Störung mit einer Entwicklung von Krankheitswert, insbesondere eine ausgeprägte somatoforme Störung, vorliegt, und unter Würdigung sämtlicher medizinischer Unterlagen mit besonderer Berücksichtigung der von der Klägerin gegenüber den Sachverständigen gemachten Beschwerdeangaben und des erhobenen psychopathologischen Befundes erscheint aber auch eine Gleichstellung mit leichteren psychovegetativen oder psychischen Störungen als den Einschränkungen der Klägerin nicht gerecht werdend. Vielmehr sind die bei der Klägerin mit der fibromyalgischen Erkrankung einhergehenden Begleiterscheinungen am ehesten mit stärker behindernden Störungen zu vergleichen, so dass hierfür innerhalb des Bewertungsrahmens von 30 bis 40 ein GdB von 30, wie Dr. S es angeraten hat, in Ansatz gebracht werden kann.


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Versorungsmedizinische Grundsätze
in der Fassung der 5. Verordnung zur Änderung der Versorgungsmedizin-Verordnung