Oktober 1986
Beurteilung des GdB und der gesundheitlichen Voraussetzungen
für „Nachteilsausgleiche“ bei angeborener
oder erworbener Taubheit oder an Taubheit grenzender
Schwerhörigkeit
Ein Beiratsmitglied hatte die Unterlagen von zwei hörbehinderten
Kindern übersandt und damit die Fragen verbunden, wie in
diesen Fällen angeborener oder in früher Kindheit erworbener
Taubheit oder an Taubheit grenzender Schwerhörigkeit der GdB und die gesundheitlichen Voraussetzungen für Nachteilsausgleiche
zu beurteilen seien. Dabei interessierte insbesondere die Frage,
ob auch bei außergewöhnlich günstigen Rehabilitationsergebnissen
der GdB lebenslang mit 100 anzusetzen und „Hilflosigkeit“
immer bis zur Beendigung der Gehörlosenschule anzunehmen sei.
Bei beiden Kindern waren mehrere Gutachter gehört worden, die
jeweils zu unterschiedlichen Beurteilungen gekommen waren.
Im ersten Fall war eine an Taubheit grenzende Schwerhörigkeit
seit dem 2. Lebensjahr bekannt. Das Kind war überdurchschnittlich
intelligent, hatte mit Hilfe zweier leistungsstarker Hörgeräte
eine Normalschule und später ein Gymnasium besucht und zwei
Fremdsprachen erlernt, wobei das Kind offensichtlich in besonderer
Weise von den Eltern zusätzlich gefördert worden war (Mutter:
Lehrerin). Die Sprache dieses Kindes war gut verständlich,
der Wortschatz annähernd normal. Dennoch musste wegen der
Hörbehinderung der Besuch des Gymnasiums vor dem Abitur abgebrochen
werden. Der GdB von 100 war in diesem Fall in Frage
gestellt worden.
Im zweiten Fall lag seit dem 2. Lebensjahr eine ähnlich schwere
Hörstörung vor. Trotz verspäteter Sprachentwicklung lernte auch
dieses Kind mit einer entsprechenden Hörgeräteversorgung gut
sprechen und konnte eine Normalschule besuchen. Auch in diesem
Fall war eine besondere zusätzliche Förderung durch die Eltern
möglich gewesen (Mutter: Ärztin). Der GdB war zeitweilig von
100 auf 70 herabgesetzt und Hilflosigkeit verneint worden. Von Seiten
des BMA wurde – unter Berücksichtigung der Auskunft eines
namhaften Sachverständigen – darauf hingewiesen, dass es heute
in Einzelfällen bei hörbehinderten Kindern mit geringem Hörrest
infolge einer frühen und sehr intensiven Förderung in Verbindung
mit einer relativ hohen Intelligenz des Kindes und besonderem
Geschick der Bezugsperson zu einer Entwicklung kommen könne,
bei der die anfänglichen Probleme des Spracherwerbs und eine
geistige Entwicklungsverzögerung später nur noch in sehr geringem
Ausmaß erkennbar seien. In solchen Fällen könne von dem
Grundsatz abgewichen werden, lebenslang einen GdB von 100 zu
belassen. Im Übrigen bleibe zu beachten, dass in aller Regel bei
angeborener oder bis zum 7. Lebensjahr erworbener Taubheit oder
an Taubheit grenzender Schwerhörigkeit ein wesentlicher geistiger Entwicklungsrückstand bestehen bleibe – auch wenn vielleicht eine
relativ klare Sprache erlernt worden sei. Der Gutachter dürfe daher
bei dieser Gruppe der Hörbehinderten eine Herabsetzung des
anfangs auf 100 festgesetzten GdB nur nach sehr genauer Prüfung
aller Umstände vorschlagen. Hilflosigkeit bleibe in jedem Fall entsprechend
der Nr. 22 Abs. 4d) der „Anhaltspunkte“ bis zur Beendigung
der Gehörlosenschule bestehen. Eine Änderung der in den
„Anhaltspunkten“ bei der angeborenen oder in der Kindheit erworbenen
Taubheit oder an Taubheit grenzender Schwerhörigkeit
genannten Beurteilungshinweise zum GdB und zu den gesundheitlichen
Voraussetzungen für Nachteilsausgleiche, die auf den
Regelfall bezogen sind, wurde von den Beiratsmitgliedern nicht
für erforderlich gehalten.